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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 20.09.2001
Aktenzeichen: BVerwG 7 C 6.01
Rechtsgebiete: VwVfG, VermG


Vorschriften:

VwVfG § 48 Abs. 4 Satz 1
VermG § 32 Abs. 1 Satz 1
Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG beginnt regelmäßig erst nach Abschluss eines gemäß § 32 Abs. 1 Satz 1 VermG durchgeführten Anhörungsverfahrens.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 7 C 6.01

Verkündet am 20. September 2001

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 2001 durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Dr. Franßen und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel, Kley, Herbert und Neumann

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 28. Juni 2000 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen einen Widerspruchsbescheid, mit dem ein von ihr erlassener Rücknahmebescheid aufgehoben wurde; zurückgenommen hatte sie die Rückübertragung eines ihr nach dem Vermögenszuordnungsgesetz zugeordneten Teilgrundstücks an die Beigeladenen. Dem liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:

Der seinerzeit in Südafrika lebende Vater der Beigeladenen war Eigentümer eines Hausgrundstücks in D. mit einer Fläche von 4 480 m². Im Jahre 1954 wurde für das bis dahin unter staatlicher Verwaltung stehende Grundstück aufgrund einer Anordnung des Ministeriums der Finanzen - Verwaltung und Schutz ausländischen Eigentums - vom 4. Mai 1954 Eigentum des Volkes im Grundbuch eingetragen. Zehn Jahre später wurde diese Eintragung dahin berichtigt, dass das Grundstück aufgrund des Entschädigungsgesetzes in Verbindung mit dem Aufbaugesetz in das Eigentum des Volkes übergegangen sei. Für die Enteignung wurde eine Entschädigung festgesetzt, die mit bestehenden Forderungen verrechnet wurde.

Im Jahre 1990 beantragten die Beigeladenen als Erben ihrer Eltern die Rückübertragung. Mit Bescheid vom 15. September 1995 übertrug ihnen die Klägerin das Grundstück zurück, weil es im Jahre 1954 entschädigungslos enteignet und die Eigentümerposition auch später nicht wiederhergestellt worden sei.

Auf den Widerspruch der Treuhand Liegenschaftsgesellschaft (TLG) hin - dieser war mit Vermögenszuordnungsbescheid vom 12. Juli 1995 eine Teilfläche von ca. 750 m² zugewiesen worden, während der Klägerin der Rest von ca. 3 730 m² zugeordnet worden war - hob das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen den Rückübertragungsbescheid im Oktober 1996 auf und stellte fest, dass die Beigeladenen entschädigungsberechtigt seien; denn die Rückgabe des Grundstücks sei nach § 4 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen - VermG - wegen flurstücksübergreifender Bebauung ausgeschlossen. Diesen Widerspruchsbescheid nahm das Landesamt später zurück, soweit die der Klägerin zugeordnete Teilfläche betroffen war, weil die TLG insoweit keinen Rechtsbehelf eingelegt hatte.

Der Widerspruchsbescheid war, soweit er die der TLG zugeordnete Teilfläche betraf, Gegenstand einer Klage der Beigeladenen, der das Verwaltungsgericht Dresden mit inzwischen rechtskräftigem Urteil vom 31. August 2000 stattgegeben hat, weil die Rückgabe dieser Teilfläche nicht ausgeschlossen sei.

Unter dem 12. Februar 1997 übermittelte die Klägerin den Beigeladenen gemäß § 32 Abs. 1 VermG eine "Beabsichtigte Entscheidung", nach deren Inhalt sie ihren Bescheid vom 15. September 1995 zurücknehmen und den Beigeladenen die Entschädigungsberechtigung zusprechen wollte, weil Rückgabeausschlussgründe nach § 4 Abs. 1 und § 5 Abs. 1 Buchst. a VermG vorlägen. Die Beigeladenen beriefen sich in ihrer Stellungnahme vom 11. April 1997 darauf, dass keine Ausschlussgründe gegeben seien und einer Rücknahme des Bescheides die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VwVfG - entgegenstehe.

Mit Bescheid vom 12. März 1998 nahm die Klägerin den Restitutionsbescheid vom 15. September 1995 insoweit zurück, als er die ihr zugeordnete Fläche betraf. Auf den Widerspruch der Beigeladenen hin hob das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen diesen Rücknahmebescheid auf, weil die Klägerin spätestens mit Erlass der beabsichtigten Entscheidung vom 12. Februar 1997 erkannt habe, dass der zurückgenommene Bescheid mangels Berücksichtigung von Ausschlussgründen rechtswidrig gewesen sei, so dass von diesem Zeitpunkt ab die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG begonnen habe.

Die gegen diesen Widerspruchsbescheid erhobene Klage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerspruchsbehörde habe den Rücknahmebescheid zu Recht aufgehoben, weil dieser wegen Ablaufs der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG i.V.m. § 1 des Vorläufigen Verwaltungsverfahrensgesetzes für den Freistaat Sachsen - SächsVwVfG - rechtswidrig sei. Diese Frist beginne nicht zwingend erst mit Abschluss des der Rücknahmeentscheidung vorgelagerten Anhörungsverfahrens. Abzustellen sei darauf, wann die Kenntnis von konkreten Tatsachen erlangt worden sei. Infolge dessen habe hier die Frist spätestens mit der Fertigung der "Beabsichtigten Entscheidung" begonnen, weil dem Bearbeiter der Klägerin nach diesem Zeitpunkt keine für die - im Wesentlichen gleich lautende - Rücknahmeentscheidung maßgeblichen Tatsachen mehr bekannt geworden seien. Dem Ablauf der Rücknahmefrist stünden auch keine anderen Rechtsgründe entgegen, insbesondere sei kein Verhalten der Beigeladenen ersichtlich, aufgrund dessen eine Berufung auf den Ablauf der Rücknahmefrist treuwidrig wäre.

Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Aufhebung des Widerspruchsbescheides weiter. Sie macht dazu geltend: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts enthalte § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG keine Bearbeitungs-, sondern eine Entscheidungsfrist. Diese beginne erst zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt habe und ihr darüber hinaus die für die Rücknahme erheblichen Tatsachen vollständig bekannt seien. Die zweite Voraussetzung habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht bejaht, weil es die Bedeutung der Anhörung nach § 32 Abs. 1 Satz 1 VermG verkannt habe. Die Stellungnahme des von dem Rücknahmebescheid Betroffenen sei für sachgerechte Ermessensausübung notwendig. Deshalb beginne die einjährige Entscheidungsfrist erst mit Eingang dieser Stellungnahme oder mit Ablauf der dafür gesetzten Frist.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt revisibles Recht i.S.d. § 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO; denn es beruht auf einer unrichtigen Anwendung der über § 1 SächsVwVfG als landesrechtliche Bestimmung herangezogenen Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG. Da die bisherigen Feststellungen für eine abschließende Sachentscheidung über den angegriffenen Widerspruchsbescheid nicht ausreichen, muss der Rechtsstreit nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.

Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt zurückgenommen werden, zu dem die Behörde Kenntnis von Tatsachen erhalten hat, welche die Rücknahme rechtfertigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beginnt diese Frist erst zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die weiteren für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind (grundlegend Beschluss vom 19. Dezember 1984 - BVerwG Gr.Sen. 1 und 2.84 - BVerwGE 70, 356).

Eine solche vollständige Tatsachenkenntnis hatte die Klägerin frühestens mit Eingang der Stellungnahme der Beigeladenen zu der beabsichtigten Rücknahme der Restitutionsentscheidung. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die einjährige Rücknahmefrist habe bereits zuvor mit Fertigung der "Beabsichtigten Entscheidung" über die Rücknahme begonnen, ist nicht haltbar. Die dafür gegebene Begründung, die nach § 32 Abs. 1 Satz 1 VermG durchgeführte Anhörung der Beigeladenen habe keinen Einfluss auf den Entscheidungsprozess der Klägerin gehabt, wie ein Vergleich zwischen der beabsichtigten Entscheidung und der später erlassenen Rücknahmeverfügung ergebe, geht an dem Zweck dieser Anhörung vorbei. Die in § 32 Abs. 1 VermG getroffene Regelung ist eine spezielle Ausprägung des in § 28 VwVfG für die Beteiligten allgemein vorgesehenen Anhörungsrechts und dient wie dieses der Wahrung des in einem rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahren gebotenen rechtlichen Gehörs. Zur Herstellung der Entscheidungsreife, nach deren Eintritt die Entscheidungsfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG erst beginnen kann, gehört daher regelmäßig das Anhörungsverfahren, und zwar unabhängig von dessen Ergebnis; denn die Einwände des Anzuhörenden können nur dann ernstlich zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen werden, wenn sich die Behörde ihre Entscheidung bis zum Abschluss des Anhörungsverfahrens offen hält. Das gilt auch und gerade, wenn es sich bei der zu treffenden Entscheidung um eine Ermessensentscheidung handelt, bei der - wie hier - zudem die für die Ermessensbetätigung maßgeblichen Umstände auch in der Sphäre des anzuhörenden Betroffenen liegen.

Demgemäß hat die einjährige Rücknahmefrist hier nicht vor dem 15. April 1997 begonnen, als die Stellungnahme der Beigeladenen bei der Klägerin eingegangen ist, so dass die am 18. März 1998 den Beigeladenen zugestellte Rücknahmeverfügung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts rechtzeitig ist.

Es liegt in der Konsequenz der Ausgestaltung der Rücknahmefrist als Entscheidungsfrist, dass es die Behörde in der Hand hat, den Beginn der Frist durch eine Verzögerung des Anhörungsverfahrens hinauszuschieben. Ein solches Verhalten kann allerdings zur Verwirkung des Rechts auf Rücknahme führen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 1999 - BVerwG 7 C 42.98 - BVerwGE 110, 226 <236 f.>; Beschluss vom 7. November 2000 - BVerwG 8 B 137.00 - Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 99). Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Klägerin aus diesem Grunde der Zugriff auf den Restitutionsbescheid verwehrt war, lassen sich den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht entnehmen und sind auch sonst nicht ersichtlich.

Ebenso wenig lassen die übrigen Feststellungen des Verwaltungsgerichts eine abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des mit der Klage angegriffenen Widerspruchsbescheides zu, insbesondere sind bisher keine Feststellungen zu den Rückgabeausschlussgründen getroffen worden, aufgrund derer die Klägerin die Restitution als rechtswidrig beurteilt und auf die sie die mit dem Widerspruchsbescheid aufgehobene Rücknahmeentscheidung gestützt hat. Das angefochtene Urteil muss daher nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen werden, damit es die erforderliche Spruchreife herstellen kann.

Ende der Entscheidung

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