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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 12.04.2001
Aktenzeichen: BVerwG 8 B 2.01
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 92 Abs. 2 Satz 1
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3
Leitsätze:

Wird mit einer Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) die fehlerhafte Anwendung einer prozessualen Vorschrift gerügt, liegt darin zugleich die Rüge eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

Die fiktive Klagerücknahme gemäß § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO setzt voraus, dass im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestehen (wie Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - NVwZ 2000, 1297 = ZOV 2000, 352).

Bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten reicht allein der Umstand, dass eine pauschale gerichtliche Aufforderung zur Klagebegründung erfolglos geblieben ist, regelmäßig nicht aus, den Wegfall des Rechtsschutzinteresses zu vermuten (Weiterführung der Rechtsprechung in dem Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - a.a.O.).

Beschluss des 8. Senats vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 -

I. VG Berlin vom 21.09.2000 - Az.: VG 22 A 168.00 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 8 B 2.01 VG 22 A 168.00

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 12. April 2001 durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf, Golze und Postier

beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 21. September 2000 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 950 000 DM festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Kläger wenden sich gegen die vom Beklagten zugunsten der Beigeladenen angeordnete Verpflichtung, den erzielten Erlös aus der Veräußerung eines Grundstücks nach den Vorschriften des Vermögensgesetzes herauszugeben. Der Klageschrift war der angefochtene Bescheid in Kopie beigefügt. Mit der Eingangsbestätigung vom 8. März 1999 forderte der Vorsitzende die Kläger auf, die in der Klageschrift vorbehaltene Klagebegründung innerhalb von acht Wochen nachzureichen. Außerdem bat der Berichterstatter mit Verfügung vom 15. Juni 1999 die Kläger um Mitteilung, "in welchem Zeitraum mit der angekündigten Klagebegründung gerechnet werden" könne. Dieses Schreiben wurde den Klägern zusammen mit einem Beiladungsbeschluss am 23. Juli 1999 zugestellt. Schließlich forderte der Berichterstatter die Kläger mit Schreiben vom 23. September 1999 - zugestellt am 14. Oktober 1999 - unter Hinweis auf die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO und deren weitere Voraussetzungen sowie die Kostenfolge auf, das Verfahren weiterzubetreiben und die Klage "unter Auseinandersetzung mit den Argumenten des Ablehnungsbescheides" zu begründen. Da die Klagebegründung erst am 17. Januar 2000 bei Gericht einging, hat der Berichterstatter durch Beschluss festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte, und das Verfahren auf Kosten der Kläger eingestellt. Auf den Antrag der Kläger, das Verfahren fortzusetzen, hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO auf den Einzelrichter übertragen, der die Klage durch Urteil vom 21. September 2000 abgewiesen hat. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Klage sei unzulässig, da sie als zurückgenommen gelte.

II.

Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet.

1. Zwar liegt der von der Beschwerde geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) nicht vor, weil die Beschwerde keinen abstrakten Rechtssatzwiderspruch zwischen der angeführten Entscheidung des Senats vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - (NVwZ 2000, 1297 = ZOV 2000, 352) und dem angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts darlegt (vgl. zu den Anforderungen an die Darlegung einer Divergenzrüge u.a. Beschluss vom 1. September 1997 - BVerwG 8 B 144.97 - Buchholz 406.11 § 128 BauGB Nr. 50 S. 7 <11>). Vielmehr rügt die Beschwerde in Wahrheit die fehlerhafte Anwendung der vom Senat aufgestellten Rechtssätze. Damit kann eine Divergenzrüge nicht begründet werden. Jedoch bezieht sich die Rüge im vorliegenden Fall auf die Anwendung von prozessrechtlichen Vorschriften, so dass der Sache nach ein Verfahrensmangel gerügt wird. Dies führt dazu, dass in der Divergenzrüge zugleich eine Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zu sehen ist (vgl. Beschlüsse vom 3. November 1992 - BVerwG 11 B 40.92 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 313 und vom 7. September 1995 - BVerwG 6 B 32.95 - Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 7 sowie Pietzner in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 133 Rn. 86).

2. Die Verfahrensrüge ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat unter Verstoß gegen § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO die Klage als zurückgenommen behandelt und deshalb verfahrensfehlerhaft nicht zur Sache entschieden; darin liegt zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG).

a) Wie der Senat bereits in dem auch vom Verwaltungsgericht zitierten Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - (a.a.O.) ausgeführt hat, setzt eine fiktive Klagerücknahme nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG) voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung - hier also am 23. September 1999 - bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Kläger bestanden haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 <63>; Urteil vom 23. April 1985 - BVerwG 9 C 48.84 - BVerwGE 71, 213 <218 f.> = Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 3 S. 7 <12>). Dieses in ständiger Rechtsprechung zu den entsprechenden asylverfahrensrechtlichen Regelungen entwickelte, ungeschriebene Tatbestandsmerkmal gilt auch für die dem Asylverfahrensrecht nachgebildete und durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz in das allgemeine Verwaltungsprozessrecht eingeführte Vorschrift des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO (vgl. Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - a.a.O. m.w.N.). Stets muss sich aus dem fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Klägers, z.B. aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten, der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des jeweiligen Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen. Denn § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen.

b) Das Verwaltungsgericht ist im vorliegenden Fall zu Unrecht von derartigen konkreten Anhaltspunkten für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses ausgegangen. Zwar kann hierfür unter Umständen auch auf eine unterbliebene Klagebegründung zurückgegriffen werden. Im Unterschied etwa zu Asylrechtsstreitigkeiten, bei denen häufig schon zweifelhaft sein mag, ob sich der Kläger überhaupt noch im Bundesgebiet aufhält, oder zu Streitigkeiten mit geringwertigen Streitgegenständen wie der Anfechtung eines einmaligen Gebührenbescheides (z.B. für die Umsetzung eines Kraftfahrzeuges) wird im Bereich der vermögensrechtlichen Streitigkeiten eine fehlende Klagebegründung nur ausnahmsweise auf ein weggefallenes Rechtsschutzinteresse schließen lassen. Dies gilt insbesondere, wenn sich - wie hier - der Kläger gegen eine zu seinen Lasten angeordnete Restitution oder Erlösauskehr wendet. Bei in diesen Fällen häufig sehr hohen Streitwerten - hier: 950 000 DM - spricht allein die unterbliebene Klagebegründung nicht dafür, dass der Kläger sein Interesse an der Fortführung des Verfahrens verloren haben könnte. Es kommt hinzu, dass im vorliegenden Fall mit der Klageschrift der angefochtene Bescheid vorgelegt wurde, so dass der Streitstoff für das Gericht hinreichend bezeichnet war. Da im Übrigen die Verwaltungsgerichtsordnung eine Klagebegründung nicht zwingend vorschreibt und die Kläger daher der Aufforderung zur Klagebegründung ohne weiteres allein durch den Hinweis auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren hätten Genüge tun können, fehlt es an jedem Anhaltspunkt für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses. Aus den dargelegten Gründen war die pauschale Aufforderung zur Klagebegründung entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nicht geeignet, zur Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens beizutragen. Etwas anderes wäre allenfalls dann anzunehmen, wenn das Gericht konkrete Auflagen verfügt hätte, die Kläger etwa aufgefordert hätte, zu bestimmten Tatsachen Stellung zu nehmen oder näher bezeichnete Unterlagen vorzulegen. Dagegen kann eine Verletzung prozessualer Pflichten nicht darin liegen, dass die Kläger entgegen der Aufforderung des Verwaltungsgerichts zu Rechtsfragen nicht Stellung nehmen. Die fehlende Stellungnahme zu rechtlichen Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid oder in Schriftsätzen der Gegenseite vermag einen Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses in keinem Fall zu rechtfertigen.

Nach alledem konnte das Verwaltungsgericht deshalb am 23. September 1999 bei Erlass der Betreibensaufforderung nicht annehmen, die Kläger seien offenbar an der weiteren Verfolgung ihres Begehrens, nämlich der Abwehr der ihnen auferlegten Leistungspflicht, nicht mehr interessiert und ihr Rechtsschutzinteresse deshalb vermutlich entfallen.

3. Lagen demnach die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht vor, könnte sich die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage in einem etwaigen Revisionsverfahren nicht stellen.

4. Im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil ohne vorheriges Revisionsverfahren durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 13, 14 GKG.

Ende der Entscheidung

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