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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 06.04.2000
Aktenzeichen: BVerwG 9 B 50.00
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 60
VwGO § 87 b
VwGO § 130 a
Leitsätze:

1. § 87 b VwGO ist auch im sog. vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO anwendbar.

2. Weist ein Gericht neues Vorbringen nach § 87 b Abs. 3 VwGO als verspätet zurück, muß die Entscheidung erkennen lassen, welche Gründe für die Ausübung des ihm in dieser Vorschrift eingeräumten Ermessens maßgebend waren. Entsprechend dem auf Verfahrensbeschleunigung und Verfahrenskonzentration gerichteten Zweck der gesetzlichen Ermessensermächtigung kann sich die Begründung für die Zurückweisung schon aus der Darlegung ergeben, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 87 b VwGO vorliegen (im Anschluß an den Beschluß des Senats vom 27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 -).

3. Hat das Berufungsgericht entscheidungserhebliches Vorbringen eines Beteiligten nach § 87 b Abs. 3 VwGO in der abschließenden Sachentscheidung als verspätet zurückgewiesen, ohne daß der Betroffene zuvor die Möglichkeit gehabt hat, seine Schuldlosigkeit an der Fristversäumung geltend zu machen, kann er dies nur mit der Nichtzulassungsbeschwerde oder - nach der Zulassung - mit der Revision tun. Der so geltend gemachte Verfahrensmangel ist freilich nur dann ordnungsgemäß erhoben, wenn schlüssig dargelegt wird, daß und aus welchen Gründen der Betroffene nicht in der Lage war, noch rechtzeitig gegenüber dem Berufungsgericht die eingetretene Verspätung zu entschuldigen.

4. Ob verspätetes Vorbringen genügend entschuldigt im Sinne des § 87 b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO ist, bestimmt sich nicht unmittelbar nach § 60 VwGO; insbesondere findet die zweiwöchige Wiedereinsetzungsfrist keine Anwendung. Die zu § 60 Abs. 1 VwGO entwickelten Verschuldensgrundsätze können jedoch entsprechend herangezogen werden.

Beschluß des 9. Senats vom 6. April 2000 - BVerwG 9 B 50.00 -

I. VG Gelsenkirchen vom 24.09.1998 - Az.: VG 18a K 5079/98.A - II. OVG Münster vom 15.11.1999 - Az.: OVG 9 A 4825/98.A -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 9 B 50.00 (9 PKH 15.00) OVG 9 A 4825/98.A

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 6. April 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund und Dr. Eichberger

beschlossen:

Tenor:

Dem Beigeladenen wird für das Beschwerdeverfahren Prozeßkostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Günther Pribil, Zweigertstraße 53, 45130 Essen, als Prozeßbevollmächtigter beigeordnet.

Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. November 1999 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der von ihr geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt vor.

Zu Recht beanstandet die Beschwerde, daß das Berufungsgericht das neue Vorbringen des Beigeladenen in dem Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 8. November 1999 unter Verstoß gegen § 87 b VwGO als verspätet unberücksichtigt gelassen hat. Hierauf beruht auch die Entscheidung des Berufungsgerichts.

Das Oberverwaltungsgericht hat dem Beigeladenen mit Anordnung vom 1. Oktober 1999, zugestellt am 8. Oktober 1999 - zusammen mit der Anhörungsmitteilung nach § 130 a VwGO -, unter Berufung auf § 87 b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 VwGO und mit Belehrung über die (Präklusions-)Folgen einer Fristversäumung eine Frist von einem Monat ab Zustellung gesetzt "zur abschließenden Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren sich der Beigeladene beschwert fühlt (Verfolgung, Nachfluchtgründe, inländische Fluchtalternative), und zur Bezeichnung der Beweismittel" (GA Bl. 88). Mit Schriftsatz vom 8. November 1999, beim Berufungsgericht eingegangen am 10. November 1999 und damit zwei Tage nach Ablauf der Frist, hat der Beigeladene erstmals vorgetragen, entgegen dem in der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge entstandenen Eindruck sei er erst im Mai 1998 aus dem Zentralirak nach dem Ort Batufa im Nordirak gereist. Zuvor habe er mit seiner gesamten Familie, insbesondere dem Vater und dessen Brüdern, seit einer Vielzahl von Jahren in Bagdad gewohnt. Familienangehörige von ihm lebten ausschließlich in Bagdad, nicht jedoch in den autonomen Kurdengebieten. Zum Beweis hierfür benenne er seinen Bruder A. als Zeugen und lege das Protokoll von dessen Anhörung vor dem Bundesamt vor.

Mit Beschluß vom 15. November 1999 hat das Berufungsgericht unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge aufgehoben, soweit für den Beigeladenen darin das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak festgestellt worden war. Seine wirtschaftliche Existenzmöglichkeit im Nordirak hat es dabei unter anderem unter Hinweis auf seine dort bestehenden familiären Verbindungen bejaht. Das Vorbringen in dem Schriftsatz vom 8. November 1999, mit dem dies bestritten wurde, hat es als unentschuldigt verspätet gem. § 87 b Abs. 3 VwGO unberücksichtigt gelassen.

Es bedarf hier nicht der Klärung im einzelnen, ob sämtliche Voraussetzungen für eine Zurückweisung des neuen Sachvortrags und des Beweisantrags des Beigeladenen nach § 87 b Abs. 3 VwGO vorlagen. Allerdings ist es grundsätzlich zulässig, die Beteiligten auch im sog. vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO zum fristgebundenen Vortrag nach § 87 b Abs. 1 und 2 VwGO aufzufordern und verspätetes Vorbringen unter den Voraussetzungen des Abs. 3 dieser Bestimmung zurückzuweisen. Die Präklusion des neuen Vorbringens des Beigeladenen erweist sich hier im Ergebnis deshalb als verfahrensfehlerhaft, weil die angefochtene Entscheidung nicht erkennen läßt, ob das Berufungsgericht das nach § 87 b Abs. 3 Satz 1 VwGO eröffnete Zurückweisungsermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat.

Liegen die Voraussetzungen des § 87 b Abs. 3 Satz 1 VwGO vor, steht es im Ermessen des Gerichts, ob es von der Präklusionsmöglichkeit Gebrauch macht. Die Ausübung dieses Ermessens muß - wie das Vorliegen aller Voraussetzungen für eine Präklusion - ohne weiteres erkennbar oder nachvollziehbar dargelegt sein (vgl. den zur Veröffentlichung bestimmten Beschluß des Senats vom 27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 -). Entsprechend dem auf Verfahrenskonzentration und Verfahrensbeschleunigung gerichteten Zweck des § 87 b VwGO kann sich die Begründung für die Zurückweisung unentschuldigt verspäteten, zu einer Verfahrensverzögerung führenden neuen Vorbringens schon aus der Darlegung ergeben, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Zurückweisung nach § 87 b VwGO vorliegen. Die Anforderungen an eine ausreichende Begründung entziehen sich indes einer generellen Festlegung. Sie hängen von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wobei der Begründungsbedarf regelmäßig mit dem Gewicht der Präklusionsfolgen für den Betroffenen steigen wird.

Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht gerecht. Die Ermessenserwägungen des Berufungsgerichts ergeben sich hier nämlich nicht - gleichsam unausgesprochen und ohne weiteres - aus dem Entscheidungszusammenhang, auch nicht in Verbindung mit dem Gesetzeszweck des § 87 b VwGO. So hat das Berufungsgericht zwar im einzelnen ausgeführt, weshalb es eine unentschuldigte Verspätung bejaht und daß eine mit geringem Aufwand nicht vermeidbare Verzögerung des im übrigen spruchreifen Rechtsstreits einträte. Es hätte aber unter den hier gegebenen Umständen, insbesondere mit Blick auf die möglicherweise gravierenden nachteiligen Folgen für den Beigeladenen, der nachvollziehbaren Begründung des Berufungsgerichts dafür bedurft, daß es sein Ermessen nach § 87 b Abs. 3 VwGO ausgeübt und hierbei dem Regelungszweck des § 87 b VwGO entsprechend eine Entscheidung darüber getroffen hat, ob die Vermeidung der ansonsten befürchteten Verfahrensverzögerung die Zurückweisung des nach seiner Auffassung verspäteten Vorbringens des Beigeladenen rechtfertigt. Hierbei hätte das Berufungsgericht auf der einen Seite in Erwägung ziehen müssen, daß die Verzögerung in einem schriftlichen, nicht durch eine mündliche Verhandlung zeitlich terminierten Verfahren drohte und zudem nach Lage der Dinge möglicherweise nur von kurzer Dauer gewesen wäre (das Berufungsgericht verweist insoweit auf die Notwendigkeit einer Anhörung des Beigeladenen und der Vernehmung seines Bruders als Zeugen sowie auf die Beiziehung von dessen Asylakte - BA S. 9); auf der anderen Seite hätte das Berufungsgericht die dem Beigeladenen durch die Präklusion drohenden erheblichen Rechtsnachteile (Verweisung auf eine unter Umständen so nicht existierende inländische Fluchtalternative) bedenken müssen.

Unabhängig hiervon hat das Berufungsgericht - wie nachträglich mit der Beschwerde geltend gemacht - auch deshalb gegen § 87 b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO verstoßen, weil die Verspätung genügend entschuldigt im Sinne dieser Bestimmung ist. Hat das Berufungsgericht - wie hier - entscheidungserhebliches Vorbringen eines Beteiligten nach § 87 b Abs. 3 VwGO in der abschließenden Sachentscheidung als verspätet zurückgewiesen, ohne daß der Betroffene zuvor die Möglichkeit gehabt hat, seine Schuldlosigkeit an der Fristversäumung geltend zu machen, kann er dies nur mit dem gegen die Sachentscheidung gegebenen Rechtsbehelf tun. Dies ist hier die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision wegen eines Verfahrensfehlers. Eine derartige Rüge ist freilich nur dann ordnungsgemäß erhoben (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), wenn schlüssig dargelegt wird, daß und aus welchen Gründen der Verfahrensbeteiligte nicht in der Lage war, noch rechtzeitig gegenüber dem Berufungsgericht die eingetretene Verspätung zu entschuldigen. Der Einwand des von der Präklusion Betroffenen, die Versäumung der gesetzten Frist sei genügend entschuldigt, beurteilt sich dabei nicht unmittelbar nach den Regeln der Wiedereinsetzung in eine versäumte gesetzliche Frist gemäß § 60 VwGO (Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 60 Rn. 9; Redeker/von Oertzen, VwGO, 12. Aufl. 1997, § 60 Rn. 1). Dies folgt schon daraus, daß § 87 b VwGO, anders als § 82 Abs. 2 Satz 3 VwGO, nicht auf § 60 VwGO verweist. Demzufolge ist dieser Einwand im Beschwerdeverfahren zwar innerhalb der Begründungsfrist nach § 133 Abs. 3 VwGO vorzubringen, aber auch nicht an die kürzere Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO gebunden. Für die Frage, ob die Verspätung des Vorbringens im Sinne des § 87 b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO "genügend entschuldigt" ist, können jedoch die für Wiedereinsetzungsgründe gem. § 60 Abs. 1 VwGO entwickelten Grundsätze entsprechend herangezogen werden (vgl. Ortloff, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 87 b Rn. 45; Eyermann/Geiger, VwGO, 10. Aufl. 1998, § 87 b Rn. 10; Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl. 1998, § 87 b Rn. 12; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 87 b Rn. 11; Kuntze, in Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, § 87 b Rn. 13).

Gemessen hieran ist die Versäumung der Präklusionsfrist im Falle des Beigeladenen nachträglich genügend entschuldigt. Auch für die Einhaltung von Präklusionsfristen nach § 87 b VwGO treffen den Rechtsanwalt grundsätzlich dieselben strengen Organisationsanforderungen wie für Rechtsmittelfristen. Anhaltspunkte dafür, daß diese anwaltlichen Organisationspflichten verletzt worden sind, sind hier nicht ersichtlich. Der Prozeßbevollmächtigte des Beigeladenen hat unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung in der Beschwerdeschrift näher dargelegt, daß der rechtzeitig am 8. November 1999 gefertigte und unterschriebene Schriftsatz nur aufgrund eines Fehlers einer zuverlässigen Mitarbeiterin versehentlich nicht weisungsgemäß noch am selben Tag per Fax an das Berufungsgericht übermittelt worden ist, sondern - ohne sein Wissen - erst zwei Tage später. Dieses Verschulden des zuverlässigen, im Einzelfall angewiesenen und allgemein überwachten Büropersonals seines Prozeßbevollmächtigten braucht sich der Beigeladene nicht zurechnen zu lassen.

Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

Ende der Entscheidung

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