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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.12.1989
Aktenzeichen: 102/88
Rechtsgebiete: RL 79/7/EWG, EWGV, AAW


Vorschriften:

RL 79/7/EWG Art. 4 Abs. 1
EWGV Art. 177
AAW Art. 10
AAW Art. 12
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7, wonach jegliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verboten ist, steht einer nationalen Regelung, die den Versicherten bei Arbeitsunfähigkeit ein soziales Minimum gewährleistet, entgegen, soweit sie eine Ausnahme von diesem Grundsatz für diejenigen Versicherten vorsieht, die zuvor eine Teilzeitbeschäftigung ausgeuebt haben, und den Betrag der Leistung auf den zuvor bezogenen Lohn begrenzt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, diese Regelung ist durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt.

2. Solange es keine angemessenen Durchführungsmaßnahmen zu Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 gibt, hat im Falle einer mittelbaren Diskriminierung durch den Staat die durch diese Diskriminierung benachteiligte Gruppe Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Leistungsempfänger, wobei diese Regelung mangels einer ordnungsgemässen Durchführung dieser Richtlinie das einzig gültige Bezugssystem bleibt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 13. DEZEMBER 1989. - M. L. RUZIUS-WILBRINK GEGEN BESTUUR VAN DE BEDRIJFSVERENIGING VOOR OVERHEIDSDIENSTEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: RAAD VAN BEROEP GRONINGEN - NIEDERLANDE. - SOZIALPOLITIK - GLEICHBEHANDLUNG VON MAENNERN UND FRAUEN - SOZIALE SICHERHEIT - RICHTLINIE 79/7/EWG - TEILZEITBESCHAEFTIGUNG. - RECHTSSACHE 102/88.

Entscheidungsgründe:

1 Der Raad van Beroep Groningen hat mit Beschluß vom 10. März 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 30. März 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ( ABl. 1979, L 6, S. 24; im folgenden : Richtlinie ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Ruzius-Wilbrink und dem Verwaltungsrat der Bedrijfsvereniging voor Overheidsdiensten ( Berufsverband des öffentlichen Dienstes ) wegen der Berechnung der Leistung bei Arbeitsunfähigkeit, die der Beklagte der Klägerin zuerkannt hat.

3 Gemäß Artikel 6 des niederländischen Allgemeinen Invaliditätsversicherungsgesetzes ( Algemene Arbeidsongeschiktheidswet, im folgenden : AAW ) vom 11. Dezember 1975 haben Versicherte, die das 17. Lebensjahr vollendet haben und arbeitsunfähig geworden sind, Anspruch auf Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit, wenn sie in dem Jahr, das dem Tag des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit unmittelbar vorausgegangen ist, ein Einkommen in Höhe von mehr als 15 % des Mindestlohns erzielt haben.

4 Diese Voraussetzung gilt nicht für Versicherte, die am Tag der Vollendung ihres 17. Lebensjahres arbeitsunfähig sind, für vollzeitbeschäftigte Selbständige, deren Einkommen unter dem Mindestlohn liegt, für Studierende ohne Einkommen und für unverheiratete Personen, die im Haushalt ihrer Eltern oder unverheirateten Brüder oder Schwestern arbeiten.

5 Gemäß den Artikeln 10 und 12 AAW bestimmt sich die Leistung wegen Arbeitsunfähigkeit nach einem vom Grad der Arbeitsunfähigkeit abhängigen Prozentsatz der Bemessungsgrundlage, die einem täglichen Mindestlohn entspricht und vom Personenstand des Betroffenen, vom Vorhandensein eines unterhaltsberechtigten Kindes und von den tatsächlichen Einkünften abhängt. Der demgemäß ermittelte Betrag, das sogenannte "soziale Minimum", soll ein Mindesteinkommen je nach den Bedürfnissen des Betroffenen gewährleisten.

6 Nach Artikel 10 Absatz 5 gilt diese Bemessungsgrundlage jedoch nicht, wenn der Betroffene in dem Jahr, das dem Tag des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit unmittelbar vorausgegangen ist, nicht während einer für seinen Beruf als normal anzusehenden Dauer eine Tätigkeit verrichtet und infolgedessen ein geringeres Einkommen als den 260fachen Betrag der normalerweise anwendbaren Bemessungsgrundlage erzielt hat. In diesem Fall wird der durchschnittliche Tagesverdienst als Bemessungsgrundlage herangezogen.

7 Mit Bescheid vom 15. Oktober 1985 erkannte der Beklagte der Klägerin Leistungen wegen Arbeitsunfähigkeit zu. Diese waren nach Artikel 10 Absatz 5 AAW aufgrund des durchschnittlichen Tagesverdienstes in dem Jahr vor Eintritt ihrer Arbeitsunfähigkeit berechnet, in dem sie durchschnittlich nur 18 Stunden pro Woche gearbeitet hatte.

8 Die Klägerin focht diesen Bescheid vor dem Raad van Beroep mit der Begründung an, Artikel 10 Absatz 5 AAW bewirke eine nach der Richtlinie 79/7/EWG verbotene mittelbare Diskriminierung der Frauen.

9 Der Raad van Beroep hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"1 ) Steht ein System von Leistungsansprüchen für die ( nicht arbeitslose ) Erwerbsbevölkerung bei Arbeitsunfähigkeit, nach dem Leistungen in Höhe des sozialen Minimums ausser in den Fällen vorgesehen sind, in denen der frühere Verdienst des Leistungsberechtigten infolge einer Teilzeitarbeit unter dem sozialen Minimum geblieben ist, im Einklang mit Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG?

2 ) Falls die Frage 1 zu verneinen ist : Führt die - in diesem Fall verletzte - gemeinschaftsrechtliche Bestimmung dann dazu, daß Leistungsberechtigte ( beiderlei Geschlechts ) auch in den in dieser Frage genannten ( Ausnahme-)Fällen Anspruch auf Gewährung des sozialen Minimums haben?"

10 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

11 Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen möchte, ob Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG einer nationalen Regelung, die den Versicherten bei Arbeitsunfähigkeit ein soziales Minimum gewährleistet, entgegensteht, soweit sie eine Ausnahme von diesem Grundsatz für diejenigen Versicherten vorsieht, die zuvor eine Teilzeitbeschäftigung ausgeuebt haben, und den Betrag der Leistung auf den zuvor bezogenen Lohn begrenzt, wenn diese Gruppe von Versicherten wesentlich mehr Frauen als Männer umfasst.

12 Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG bestimmt : "Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts... betreffend :

-...

-...

- die Berechnung der Leistungen..."

13 Aus den Akten ergibt sich, daß die einschlägige nationale Regelung allen Versicherten mit Ausnahme derjenigen, die zuvor teilzeitbeschäftigt waren, einen Anspruch auf Leistungen in Höhe eines sozialen Minimums gewährt, dessen Betrag von den früheren beruflichen Einkünften des Versicherten unabhängig ist. Bestimmte Gruppen von Leistungsberechtigten, die in dem Jahr, das dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vorausging, überhaupt keine oder nur sehr geringfügige berufliche Einkünfte erzielt haben - wie etwa vollzeitbeschäftigte Selbständige mit Einkünften von weniger als 15 % des Mindestlohns, Studierende und Unverheiratete, die im Haushalt ihrer Eltern arbeiten -, haben nämlich ebenfalls Anspruch auf dieses soziale Minimum. Nur die Leistung für Teilzeitbeschäftigte wird nach den früheren Einkünften des Versicherten berechnet und ist deshalb wegen der Anwendung von Artikel 10 Absatz 5 AAW notwendigerweise niedriger als das soziale Minimum.

14 Aus den Akten ergibt sich weiterhin, daß die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten in den Niederlanden einen wesentlich kleineren Anteil Männer als Frauen umfasst.

15 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß eine Bestimmung der hier vorliegenden Art grundsätzlich die weiblichen gegenüber den männlichen Arbeitnehmern diskriminiert und im Widerspruch zur Zielsetzung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG steht. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die unterschiedliche Behandlung der beiden Arbeitnehmerkategorien durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben ( vgl. das Urteil vom 13. Juli 1989 in der Rechtssache 171/88, Rinner-Kühn, Slg. 1989, 2743 ).

16 Der einzige Grund, der im Ausgangsverfahren geltend gemacht wurde, um die unterschiedliche Behandlung von Personen, die vor Eintritt ihrer Arbeitsunfähigkeit teilzeitbeschäftigt waren, und den anderen Leistungsberechtigten zu rechtfertigen - daß es nämlich unbillig wäre, ihnen ihr früheres Einkommen übersteigende Leistungen zu gewähren -, kann keine objektive Rechtfertigung dieser unterschiedlichen Behandlung darstellen, da der Betrag der nach der AAW gewährten Leistungen in vielen anderen Fällen ebenfalls höher ist als dieses Einkommen.

17 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 dahin auszulegen ist, daß er einer nationalen Regelung, die den Versicherten bei Arbeitsunfähigkeit ein soziales Minimum gewährleistet, entgegensteht, soweit sie eine Ausnahme von diesem Grundsatz für diejenigen Versicherten vorsieht, die zuvor eine Teilzeitbeschäftigung ausgeuebt haben, und den Betrag der Leistung auf den zuvor bezogenen Lohn begrenzt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, diese Regelung ist durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt.

18 Die zweite Frage betrifft die Folgen, die sich ergäben, wenn das vorlegende Gericht feststellen sollte, daß die fragliche nationale Regelung mit Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG unvereinbar ist.

19 Wie der Gerichtshof zuletzt in dem Urteil vom 24. Juni 1987 in der Rechtssache 384/85 ( Borrie Clarke, Slg. 1987, 2865 ) entschieden hat, ist Artikel 4 Absatz 1 für sich betrachtet unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Richtlinie und ihres Inhalts hinreichend genau und unbedingt, so daß er von einem einzelnen vor einem innerstaatlichen Gericht in Anspruch genommen werden kann, um jede mit diesem Artikel unvereinbare innerstaatliche Vorschrift für unanwendbar erklären zu lassen. Insoweit ist daran zu erinnern, daß diese Bestimmung die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechtsvorschriften aufzuheben.

20 Aus dem Urteil vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 71/85 ( Niederlande/Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 1986, 3855 ) ergibt sich, daß in einem Fall unmittelbarer Diskriminierung Frauen Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie Männer haben, die sich in der gleichen Lage befinden, wobei diese Regelung, solange die Richtlinie nicht korrekt durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt. Entsprechend haben in einem Fall mittelbarer Diskriminierung, wie er dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, die Mitglieder der benachteiligten Gruppe, Männer oder Frauen, Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Leistungsberechtigten.

21 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, daß, solange es keine angemessenen Durchführungsmaßnahmen zu Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG gibt, im Falle einer mittelbaren Diskriminierung durch den Staat die durch diese Diskriminierung benachteiligte Gruppe Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Leistungsempfänger hat, wobei diese Regelung mangels einer ordnungsgemässen Durchführung dieser Richtlinie das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Fünfte Kammer )

auf die ihm vom Raad van Beroep Groningen durch Beschluß vom 10. März 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

1 ) Artikel 4 Absatz 1 der Richtline 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 ist dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung, die den Versicherten bei Arbeitsunfähigkeit ein soziales Minimum gewährleistet, entgegensteht, soweit sie eine Ausnahme von diesem Grundsatz für diejenigen Versicherten vorsieht, die zuvor eine Teilzeitbeschäftigung ausgeuebt haben, und den Betrag der Leistung auf den zuvor bezogenen Lohn begrenzt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, diese Regelung ist durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt.

2 ) Solange es keine angemessenen Durchführungsmaßnahmen zu Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG gibt, hat im Falle einer mittelbaren Diskriminierung durch den Staat die durch diese Diskriminierung benachteiligte Gruppe Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Leistungsempfänger, wobei diese Regelung mangels einer ordnungsgemässen Durchführung dieser Richtlinie das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

Ende der Entscheidung

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