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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.04.1988
Aktenzeichen: 175/86
Rechtsgebiete: Beamtenstatut


Vorschriften:

Beamtenstatut Art. 87 Abs. 2
Beamtenstatut Art. 4 Abs. 1 des Anhangs IX
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Da die Wahl der angemessenen Disziplinarstrafe Sache der Anstellungsbehörde ist, sofern die dem Beamten zur Last gelegten Handlungen bewiesen sind, ist die Klage des bestraften Beamten vor dem Gerichtshof als unzulässig abzuweisen, soweit die Abänderung der die Strafe aussprechenden Verfügung begehrt wird.

2. Die in Artikel 7 des Anhangs IX vorgesehenen Fristen, namentlich diejenige, binnen deren der Disziplinarrat seine Stellungnahme abzugeben hat, sind keine Ausschlußfristen, sondern stellen Regeln guter Verwaltungsführung dar, deren Nichteinhaltung die Haftung des Organs für etwaige den Betroffenen entstandene Schäden begründen kann, die Gültigkeit der Verfügung, mit der die Disziplinarstrafe verhängt wurde, jedoch nicht beeinträchtigt.

3. Zwar können Umstände des Privatlebens im allgemeinen keine Disziplinarstrafen rechtfertigen; die absichtliche Nichtbefolgung mehrerer gerichtlicher Entscheidungen stellt jedoch einen Umstand dar, der für das Ansehen des Amtes des Beamten abträglich sein kann, und kann deshalb als ein das Verhalten, das ihm im übrigen vorgeworfen wird und das mit der für jeden Beamten bestehenden Verpflichtung zur Integrität und zur Loyalität gegenüber der Verwaltung nicht vereinbar ist, erschwerender Umstand angesehen werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 19. APRIL 1988. - M. GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - BEAMTE - DISZIPLINARMASSNAHMEN. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN 175/86 UND 209/86.

Entscheidungsgründe:

1 Herr M., ehemaliger Beamter des Rates der Europäischen Gemeinschaften ( im folgenden : Kläger ), hat mit Klageschriften, die am 16. Juli und 5. August 1986 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen sind, zwei Klagen auf Aufhebung bzw. Abänderung der Verfügung des Generalsekretärs des Rates erhoben, die am 13. Juni 1986 aufgrund eines Disziplinarverfahrens erlassen wurde und mit der gegen den Kläger die Strafe der Entfernung aus dem Dienst gemäß Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe f des Beamtenstatuts verhängt wurde.

2 Nach den Akten gab der Kläger in zwei Erklärungen bei seinem Dienstantritt am 1. Juli 1982 sowie erneut in den jährlichen Erklärungen von 1983 und 1984 an, daß er verheiratet sei, daß er zwei unterhaltsberechtigte Kinder habe und daß seine Ehefrau keine Familienzulagen beziehe. Aufgrund dieser Angaben zahlte der Rat ihm bis Juni 1985 die Beihilfen, die Familienzulagen und die jährlichen Reisekosten. Tatsächlich war am 14. November 1981 ein Scheidungsurteil ergangen, die frühere Ehefrau des Klägers war zum Vormund der beiden Kinder bestellt worden, denen der Kläger nach dem Urteil Unterhalt zahlen musste, und die niederländischen Behörden hatten der früheren Ehefrau bis zum 1. Oktober 1982 für beide Kinder und erneut ab 1. Juli 1984 für eines der Kinder Familienzulagen gezahlt.

3 Im übrigen wurde der Kläger durch fünf Versäumnisurteile zur Begleichung von Forderungen in Höhe von ungefähr 1 350 000 BFR verurteilt; zum Zwecke der Vollstreckung wurden diese Urteile der Verwaltung des Rates zugeleitet.

4 Am 28. Oktober 1985 übersandte der Generalsekretär des Rates als Anstellungsbehörde dem Kläger ein Schreiben, in dem die ihm zur Last gelegten Handlungen aufgeführt wurden. Die Anstellungsbehörde rief nach Anhörung des Klägers gemäß Artikel 87 Absatz 2 des Beamtenstatuts den Disziplinarrat an.

5 Dieser vertrat in seiner Stellungnahme vom 16. Mai 1986 die Auffassung, daß die falschen Angaben des Klägers eine Verletzung seiner Verpflichtung zur Integrität darstellten, für die die angemessene Strafe die Einstufung in eine niedrigere Besoldungsgruppe sei, um ihm eine Rehabilitierungsmöglichkeit zu geben.

6 Nach erneuter Anhörung des Klägers verfügte die Anstellungsbehörde mit der streitigen Verfügung vom 13. Juni 1986 seine Entfernung aus dem Dienst, da die vom Disziplinarrat vorgeschlagene Strafe im Verhältnis zur Schwere der dem Kläger zur Last gelegten Handlungen zu milde sei.

7 Der Kläger ficht diese Verfügung an und beruft sich auf Verfahrensfehler, unzureichende Begründung und offenbare Irrtümer. Der Rat hält dem entgegen, daß die Klagen nicht nur unbegründet, sondern auch unzulässig seien, die erste, weil sie auf die Abänderung der Verfügung gerichtet sei, und die zweite, weil sie keinen anderen Gegenstand habe als die erste.

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, der Gemeinschaftsvorschriften, des Verfahrens vor dem Gerichtshof und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Zulässigkeit

9 Was die gegen die erste Klage ( 175/86 ) erhobene Einrede der Unzulässigkeit betrifft, ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof - unter anderem in seinen Urteilen vom 30. Mai 1973 in der Rechtssache 46/72 ( De Greef/Kommission, Slg. 1973, 543 ) und vom 29. Januar 1985 in der Rechtssache 228/83 ( F./Kommission, Slg. 1985, 275 ) - bereits entschieden hat, daß die Wahl der angemessenen Disziplinarstrafe Sache der Anstellungsbehörde ist, sofern die dem Beamten zur Last gelegten Handlungen bewiesen sind. Die Klage 175/86 ist somit als unzulässig abzuweisen, soweit der Kläger die Abänderung der streitigen Verfügung begehrt.

10 Zur zweiten Klage ( 209/86 ) ist zu bemerken, daß sie sich im wesentlichen auf eine vertrauliche Mitteilung der Anstellungsbehörde an den Vorsitzenden des Disziplinarrats vom 4. Juni 1986 stützt, in dem die Entscheidung, die Strafe zu verschärfen, mit anderen Worten begründet wurde als in der streitigen Verfügung vom 13. Juni 1986. Der Kläger meinte, nachdem er von diesem Schreiben Kenntnis erlangt hatte, er könne daraus Argumente zur Untermauerung der schon mit seiner ersten Klage geltend gemachten Klagegründe herleiten. Unter diesen Umständen ist die zweite Klage, die fristgemäß erhoben worden ist, als zulässig anzusehen.

Zur Begründetheit

a ) Zum Disziplinarverfahren

11 Der Kläger führt in erster Linie aus, der Generalsekretär habe bereits gegen ihn Stellung bezogen, bevor er den Disziplinarrat angerufen habe. Dies ergebe sich aus dem vorgenannten Schreiben vom 28. Oktober 1985, das folgenden einleitenden Satz enthalte :

"Mir ist mitgeteilt worden, daß Sie seit Ihrem Dienstantritt am 1. Juli 1982 in schwerwiegender Weise vorsätzlich gegen Ihre Verpflichtungen aus dem Beamtenstatut verstossen haben."

Der Generalsekretär habe dadurch den Anspruch des Klägers auf einen unparteiischen und unabhängigen Richter verletzt.

12 Dazu ist festzustellen, daß die Anstellungsbehörde nach Artikel 87 des Beamtenstatuts verpflichtet ist, den Beamten vor Einleitung des Disziplinarverfahrens zu hören. Dies setzt voraus, daß dem Beamten vorher mitgeteilt wird, welche Tatsachen ihm zur Last gelegt werden. Ausserdem wird der Disziplinarrat gemäß Artikel 1 des Anhangs IX des Beamtenstatuts durch einen Bericht der Anstellungsbehörde befasst, in dem die zur Last gelegten Handlungen und etwaige Tatumstände eindeutig anzugeben sind. Die Anstellungsbehörde muß sich in diesen Mitteilungen zwangsläufig auf eine vorläufige Bewertung des Verhaltens des Beamten stützen und darf unter keinen Umständen die Schwere und vorsätzliche Begehung der Handlungen verschweigen, die sich gegebenenfalls aus dieser Bewertung ergeben. Im vorliegenden Fall hat der Generalsekretär in seinem Schreiben vom 28. Oktober 1985 den vorläufigen Charakter der Bewertung durch die Worte "Mir wurde mitgeteilt, daß..." hervorgehoben. Deshalb ist diese erste Rüge des Klägers zurückzuweisen.

13 Zweitens wirft der Kläger dem Vorsitzenden des Disziplinarrats vor, ihn aufgefordert zu haben, sich binnen fünfzehn Tagen nach Erhalt des Berichts der Anstellungsbehörde zu seiner Verteidigung zu äussern, während Artikel 4 Absatz 1 des Anhangs IX des Beamtenstatuts ihm eine Frist von mindestens fünfzehn Tagen gewähre.

14 Diese Rüge ist offensichtlich unbegründet. Der Vorsitzende des Disziplinarrats hat dem Kläger nicht nur die in der genannten Bestimmung vorgesehene Frist eingeräumt, sondern diesem hat tatsächlich eine viel längere Frist zur Verfügung gestanden, und der Vorsitzende des Disziplinarrats hat ihn mehrere Male auf sein Recht, sich zu seiner Verteidigung zu äussern, hingewiesen.

15 Drittens beruft sich der Kläger auf die Nichteinhaltung der Frist des Artikels 7 des Anhangs IX, wonach der Disziplinarrat seine Stellungnahme innerhalb eines Monats nach dem Tage, an dem der Fall bei ihm anhängig geworden ist, abgibt.

16 Dazu ist darauf hinzuweisen, daß die in Artikel 7 des Anhangs IX vorgesehenen Fristen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes keine Ausschlußfristen sind, sondern Regeln guter Verwaltungsführung darstellen, deren Nichteinhaltung die Haftung des Organs für etwaige den Betroffenen entstehende Schäden begründen kann ( siehe Urteile vom 4. Februar 1970 in der Rechtssache 13/69, Van Eick/Kommission, Slg. 1970, 3, und vom 29. Januar 1985, F./Kommission, a. a. O.). Da die Überschreitung der Frist von einem Monat die Gültigkeit der streitigen Verfügung in keiner Weise beeinträchtigt, ist diese dritte Rüge und damit das gesamte das Verfahren betreffende Vorbringen zurückzuweisen.

b ) Zur Begründung

17 Der Kläger wirft der Anstellungsbehörde vor, die Verschärfung der Disziplinarstrafe gegenüber der vom Disziplinarrat vorgeschlagenen Strafe nicht ausreichend begründet zu haben. Er rügt weiterhin, die Anstellungsbehörde habe diese Verschärfung in ihrer Mitteilung vom 4. Juni 1986 an den Vorsitzenden des Disziplinarrats auf einen Umstand gestützt, der in der streitigen Verfügung nicht erwähnt werde und nicht Gegenstand des Disziplinarverfahrens gewesen sei, nämlich darauf, daß der Kläger sich dem Verfahren "durch verfahrensrechtliche Mittel entzogen" habe.

18 Dazu ist zu bemerken, daß die Anstellungsbehörde die Verschärfung der Strafe in der streitigen Verfügung wie folgt begründet hat :

- Die falschen Angaben zeigten die beharrliche Neigung des Klägers, die Bande der Loyalität und des Vertrauens geringzuschätzen, die die Beziehungen zwischen Beamten und öffentlichem Dienst kennzeichnen müssten; diese Angaben machten seine mangelnde Integrität offenkundig.

- Die Verstösse des Klägers gegen seine durch gerichtliche Verurteilungen festgestellten privaten Verpflichtungen zeigten seine offensichtliche Missachtung der Autorität der Justiz seines Beschäftigungslandes und seien dem Ansehen seines Amtes besonders abträglich.

- Unter diesen Umständen sei die Rehabilitation, von der der Disziplinarrat gesprochen habe, rein theoretisch.

- Mildernde Umstände fehlten völlig.

Zu diesem letzten Punkt führte die Anstellungsbehörde übrigens auch in der streitigen Verfügung aus, der Kläger habe sich, statt zur Sache selbst Stellung zu nehmen, hinter Behauptungen über zahlreiche von der Anstellungsbehörde und vom Disziplinarrat begangene Verfahrensfehler verschanzt.

19 Folglich hat die Anstellungsbehörde in der streitigen Verfügung die Verschärfung der Disziplinarstrafe so begründet, daß der Kläger die wesentlichen Gesichtspunkte kennen konnte, die die Verwaltung bei ihrer Entscheidungsfindung geleitet haben, und daß der Gerichtshof in der Lage ist, die Rechtmässigkeit dieser Verfügung nachzuprüfen. Hinzuzufügen ist, daß das Schreiben vom 4. Juni 1986 keineswegs erkennen lässt, daß die Verfügung durch zusätzliche Gründe beeinflusst gewesen wäre, die in ihrer Begründung nicht aufgeführt waren. Daraus folgt, daß das gegen die Begründung gerichtete Vorbringen zurückzuweisen ist.

c ) Zum Vorliegen offenbarer Irrtümer

20 Der Kläger macht geltend, die streitige Verfügung beruhe auf offenbaren Irrtümern sowohl hinsichtlich der vermuteten Bösgläubigkeit als auch hinsichtlich der angeblichen betrügerischen Absicht. Da nach dem niederländischen Verfahrensrecht Entscheidungen über die Scheidung und die Vormundschaft über die Kinder weder persönlich noch durch Ersatzzustellung zugestellt würden, habe er von den fraglichen Entscheidungen zu keiner Zeit Kenntnis erlangt, und seine frühere Ehefrau habe die niederländischen Familienzulagen ohne sein Wissen bezogen. Da er verurteilt worden sei, zum Unterhalt der Kinder beizutragen, und da eines von ihnen während eines Grossteils des fraglichen Zeitraums bei ihm gewohnt habe, habe er im übrigen Anspruch auf fast die gleichen Beihilfen und Zulagen gehabt wie die, die der Rat aufgrund der objektiv unrichtigen Angaben gezahlt habe; dies schließe eine betrügerische Absicht aus.

21 Ohne daß der Gerichtshof zu der Glaubhaftigkeit der Erklärungen Stellung zu nehmen braucht, der Kläger, der selbst eine juristische Ausbildung besitzt und sich vor den niederländischen Gerichten des Beistands eines Rechtsanwalts bedient hat, habe von den ihm vorgeworfenen Tatsachen keine Kenntnis gehabt, ist festzustellen, daß der Kläger, der wusste, daß gegen ihn Scheidungsklage erhoben worden war, die Pflicht hatte, sich über den Fortgang dieses Verfahrens zu informieren, bevor er die fraglichen Angaben machte. Ihm war bekannt, daß diese Angaben die Grundlage für die Zahlung der verschiedenen Beihilfen und Zulagen bilden würden; selbst wenn der dem Rat zugefügte Schaden relativ begrenzt ist, handelt es sich doch um falsche Angaben, die im Widerspruch stehen zu den Banden der Loyalität und des Vertrauens, die die Beziehungen zwischen Verwaltung und Beamten kennzeichnen müssen, und die mit der von jedem Beamten geforderten Integrität unvereinbar sind.

22 Was die privaten Schulden betrifft, macht der Kläger geltend, es sei das gute Recht eines jeden Schuldners, gegen sich ein Versäumnisurteil ergehen zu lassen; die Nichtbezahlung dieser Schulden sei eine Angelegenheit des Privatlebens, die für sich allein kein Disziplinarverfahren rechtfertigen könne. Der Kläger sieht eine Bestätigung für diese These darin, daß ein früherer Vorschlag seines Dienstvorgesetzten, wegen unbezahlter Schulden eine Disziplinarstrafe gegen ihn zu verhängen, von der Anstellungsbehörde nicht aufgegriffen worden sei.

23 Zwar können Angelegenheiten des Privatlebens in aller Regel keine Disziplinarstrafen rechtfertigen. Es ist jedoch einzuräumen, daß die absichtliche Nichtbefolgung mehrerer gerichtlicher Entscheidungen, mit denen die Verurteilung zur Zahlung eines insgesamt sehr hohen Betrags ausgesprochen wurde, für das Ansehen des Amtes des Beamten abträglich sein kann. Dieses Verhalten konnte somit im vorliegenden Fall als erschwerender Umstand angesehen werden.

24 Aus diesen Erwägungen folgt, daß das Vorbringen des Klägers keine offenbaren Irrtümer der Anstellungsbehörde hat erkennen lassen, und daß deshalb auch dieser letzte Klagegrund zurückzuweisen ist.

25 Mithin ist die Klage insgesamt abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung sind der unterliegenden Partei die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 70 der Verfahrensordnung tragen die Organe jedoch in Rechtsstreitigkeiten mit Bediensteten der Gemeinschaften ihre Kosten selbst.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Zweite Kammer )

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Klage wird abgewiesen.

2 ) Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung.

Ende der Entscheidung

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