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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.10.1988
Aktenzeichen: 196/87
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 60
EWGV Art. 2
EWGV Art. 59
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 2 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß die Tätigkeiten der Mitglieder einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung im Rahmen der gewerblichen Tätigkeit dieser Vereinigung insoweit einen Teil des Wirtschaftslebens ausmachen, als die Leistungen, die die Vereinigung ihren Mitgliedern gewährt, als mittelbare Gegenleistung für tatsächliche und echte Tätigkeiten betrachtet werden können.

Die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag gelten nicht für den Angehörigen eines Mitgliedstaats, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und dort seinen Hauptaufenthalt nimmt, um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 5. OKTOBER 1988. - UDO STEYMANN GEGEN STAATSSECRETARIS VAN JUSTITIE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM RAAD VAN STATE DER NIEDERLANDE. - WIRTSCHAFTLICHE TAETIGKEITEN DER MITGLIEDER VON RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN - FREIER DIENSTLEISTUNGSVERKEHR. - RECHTSSACHE 196/87.

Entscheidungsgründe:

1 Der niederländische Raad van State hat mit Urteil vom 3. Juni 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 2, 59 und 60 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Udo Steymann und dem Staatssecretaris van Justitie. Sie gehen im wesentlichen dahin, inwieweit Tätigkeiten, die das Mitglied einer Religionsgemeinschaft verrichtet, als wirtschaftliche Betätigung oder Dienstleistungen im Sinne der genannten Bestimmungen des Vertrages angesehen werden können.

3 Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr Steymann, ist deutscher Staatsangehöriger. Er ließ sich am 26. März 1983 in den Niederlanden nieder. Er arbeitete kurze Zeit als Klempner im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Später wurde er Mitglied der Religionsgemeinschaft "De Stad Rajneesh Neo-Sannyas Commune" ( nachstehend : Bhagwan-Vereinigung ), die ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit durch gewerbliche Betätigungen wie den Betrieb einer Diskothek, eines Getränkehandels und eines Waschsalons sicherstellt.

4 Im Rahmen seiner Teilnahme am Leben der Bhagwan-Vereinigung führt der Kläger bestimmte Klempnerarbeiten am Gebäude dieser Vereinigung sowie Hausarbeiten allgemeiner Art durch. Er beteiligt sich im übrigen an den gewerblichen Betätigungen der Vereinigung. Unabhängig von Art und Umfang seiner Tätigkeit sorgt die Vereinigung in jedem Fall für seinen Lebensunterhalt.

5 Am 28. August 1984 beantragte der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis in den Niederlanden zur Ausübung einer unselbständigen Beschäftigung. Die Erteilung dieser Erlaubnis lehnte der Leiter der Ortspolizeibehörde ab. Der Kläger beantragte beim Staatssecretaris van Justitie eine Überprüfung dieses ablehnenden Bescheids; mit Bescheid vom 20. Dezember 1985 wurde sein Antrag unter anderem mit der Begründung abgelehnt, er gehe keiner unselbständigen Beschäftigung nach und sei deshalb nicht als begünstigter EWG-Angehöriger im Sinne des niederländischen Ausländerrechts anzusehen.

6 Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 8. Januar 1986 beim Raad van State Klage mit der Begründung, als Mitglied der Bhagwan-Vereinigung sei er im Verhältnis zu dieser Vereinigung Dienstleistungsempfänger und -erbringer. Das nationale Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"1 ) Kann von einer wirtschaftlichen Betätigung oder von einer Dienstleistung im Sinne des EWG-Vertrags gesprochen werden, wenn es um Tätigkeiten geht, die in der Teilnahme an einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Lebensgemeinschaft - und dem völligen Aufgehen in ihr - und der Befolgung von deren Lebensregeln bestehen, wobei man einander Vorteile verschafft?

2 ) Sind die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß nicht von der Erbringung von Dienstleistungen im Sinne des Vertrages gesprochen werden kann, wenn sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaaats zu einem Aufenthalt von unbestimmter Dauer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt - und damit seinen Hauptaufenthalt in diesen Mitgliedstaat verlegt - und sich auch aus der Art der geleisteten Dienste keine zeitliche Begrenzung dieses Aufenthalts ergibt?

3 ) Sind die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß nicht vom Empfang von Dienstleistungen im Sinne des Vertrages gesprochen werden kann, wenn sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats zu einem Aufenthalt von unbestimmter Dauer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt - und damit seinen Hauptaufenthalt in diesen Mitgliedstaat verlegt - und sich aus der Art der empfangenen Dienstleistungen keine zeitliche Begrenzung dieses Aufenthalts ergibt?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens, des Sachverhalts und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

8 Mit der ersten Frage wird im wesentlichen Auskunft darüber begehrt, inwieweit die Tätigkeiten der Mitglieder einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung im Rahmen der Betätigungen dieser Vereinigung als Teil des Wirtschaftslebens im Sinne des EWG-Vertrags betrachtet werden können.

9 Hierzu ist vorab festzustellen, daß angesichts der Ziele der Gemeinschaft die Teilnahme an einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung nur insoweit in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, als sie als Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Artikel 2 EWG-Vertrag angesehen werden kann.

10 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Juli 1976 in der Rechtssache 13/76 ( Donà, Slg. 1976, 1333 ) entschieden hat, macht eine entgeltliche Arbeits - oder Dienstleistung einen Teil des Wirtschaftslebens im Sinne dieser Bestimmung des EWG-Vertrags aus.

11 Die Tätigkeiten, um die es im vorliegenden Ausgangsverfahren geht, umfassen, wie aus den Akten hervorgeht, Arbeiten, die in der Bhagwan-Vereinigung und für deren Rechnung als Teil der gewerblichen Tätigkeiten dieser Vereinigung verrichtet werden. Es scheint, daß diese Arbeiten einen ziemlich bedeutenden Platz im Leben der Bhagwan-Vereinigung einnehmen und daß die Mitglieder sich ihnen nur unter besonderen Umständen entziehen. Die Bhagwan-Vereinigung sorgt wiederum, unabhängig von Art und Umfang der Arbeiten, die ihre Mitglieder verrichten, für deren Lebensunterhalt und zahlt ihnen eine Taschengeld.

12 In einem Fall wie dem vom vorlegenden Gericht geschilderten, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß die von den Mitgliedern dieser Vereinigung verrichteten Arbeiten einen Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Artikel 2 EWG-Vertrag ausmachen. Soweit nämlich diese Arbeiten, mit denen der Bhagwan-Vereinigung die wirtschaftliche Unabhängigkeit gesichert werden soll, ein wesentliches Element der Teilnahme an dieser Vereinigung darstellen, können die Leistungen, die diese Vereinigung ihren Mitgliedern gewährt, als mittelbare Gegenleistung für deren Arbeiten angesehen werden.

13 Allerdings muß es sich, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 23. März 1982 in der Rechtssache 53/81 ( Levin, Slg. 1982, 1035 ) entschieden hat, um tatsächliche und echte Tätigkeiten handeln, die keinen so geringen Umfang haben dürfen, daß sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das vorlegende Gericht hat festgestellt, daß es sich im vorliegenden Fall um tatsächliche und echte Tätigkeiten handelt.

14 Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 2 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß die Tätigkeiten der Mitglieder einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung im Rahmen der gewerblichen Tätigkeit dieser Vereinigung insoweit einen Teil des Wirtschaftslebens ausmachen, als die Leistungen, die die Vereinigung ihren Mitgliedern gewährt, als mittelbare Gegenleistung für tatsächliche und echte Tätigkeiten betrachtet werden können.

Zur zweiten und dritten Frage

15 In der zweiten und dritten Frage geht es im wesentlichen darum, ob die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag für den Angehörigen eines Mitgliedstaats gelten, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und dort seinen Hauptaufenthalt nimmt, um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen.

16 Hierzu führen die niederländische Regierung und die Kommission zu Recht aus, daß die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag einen solchen Fall nicht erfassen. Bereits aus dem Wortlaut von Artikel 60 geht nämlich hervor, daß eine auf Dauer oder jedenfalls ohne absehbare zeitliche Beschränkung ausgeuebte Tätigkeit nicht unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr fallen kann. Solche Tätigkeiten können hingegen je nach Lage des Falles in den Anwendungsbereich der Artikel 48 bis 51 und 52 bis 68 EWG-Vertrag fallen.

17 Deshalb ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, daß die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag nicht für den Angehörigen eines Mitgliedstaats gelten, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedtaats begibt und dort seinen Hauptaufenthalt nimmt, um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )

auf die ihm vom niederländischen Raad van State durch Urteil vom 3. Juni 1987 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1)Artikel 2 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß die Tätigkeiten der Mitglieder einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung im Rahmen der gewerblichen Tätigkeit dieser Vereinigung insoweit einen Teil des Wirtschaftslebens ausmachen, als die Leistungen, die die Vereinigung ihren Mitgliedern gewährt, als mittelbare Gegenleistung für tatsächliche und echte Tätigkeiten betrachtet werden können.

2 ) Die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag gelten nicht für den Angehörigen eines Mitgliedstaats, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und dort seinen Hauptaufenthalt nimmt, um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen.

Ende der Entscheidung

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