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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.03.1990
Aktenzeichen: 199/88
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 1408/71/EWG vom 14.06.1971, Verordnung Nr. 547/72/EWG vom 21.03.1972, EWGV


Vorschriften:

Verordnung Nr. 1408/71/EWG vom 14.06.1971
Verordnung Nr. 547/72/EWG vom 21.03.1972
EWGV Art. 51
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß der höchste der nach Absatz 2 Buchstabe a berechneten theoretischen Leistungsbeträge auch in den Fällen die Obergrenze der Leistungen bildet, auf die ein Wanderarbeitnehmer nach Gemeinschaftsrecht Anspruch hat, in denen dieser theoretische Betrag dem Betrag der allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldeten vollständigen Leistung entspricht.

In dieser Auslegung ist diese Vorschrift mit Artikel 51 EWG-Vertrag vereinbar, da Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 nur anwendbar ist, wenn er es erlaubt, dem Wanderarbeitnehmer eine Leistung zu gewähren, die mindestens der allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldeten Leistung entspricht.

2. Führt eine Neuberechnung der Leistungen nach Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zu einer Kürzung der vom Träger eines Mitgliedstaats gewährten Leistung, ohne daß sich die vom Träger eines anderen Mitgliedstaats gewährte Leistung ändert, so daß dieser letztgenannte Träger dem Leistungsberechtigten keine Rentenbeträge nachzuzahlen hat, so ist der erstgenannte Träger nach Artikel 112 der Verordnung Nr. 574/72 nicht gezwungen, die in dem für die Neuberechnung der Leistungen erforderlichen Zeitraum zuviel gezahlten Leistungen zu seinen Lasten zu übernehmen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 21. MAERZ 1990. - GIOVANNI CABRAS GEGEN INSTITUT NATIONAL D'ASSURANCE MALADIE-INVALIDITE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE BRUXELLES - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT - LEISTUNGEN BEI INVALIDITAET - GEMEINSCHAFTLICHE KUMULIERUNGSVORSCHRIFTEN - RUECKFORDERUNG NICHT GESCHULDETER ZAHLUNGEN. - RECHTSSACHE 199/88.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Brüssel hat mit Urteil vom 30. Juni 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juli 1988, zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 51 EWG-Vertrag, des Artikels 46 Absatz 3 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern (( in der durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83, ABl. L 230, S. 6, kodifizierten Fassung dieser Verordnung )), und des Artikels 112 der Verordnung ( EWG ) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der vorgenannten Verordnung (( in der durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983, ABl. L 230, S. 86, kodifizierten Fassung dieser Verordnung )) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens, Giovanni Cabras, und dem Institut national d' assurance maladie-invalidité ( im folgenden : INAMI ), dem für Leistungen bei Invalidität zuständigen belgischen Versicherungsträger.

3 Aus den Akten geht hervor, daß der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, in Italien und in Belgien Tätigkeiten im Lohn - oder Gehaltsverhältnis ausgeuebt hat. Nachdem er arbeitsunfähig geworden war, wurden ihm in diesen beiden Staaten ab 1. Oktober 1973 Ansprüche auf Leistungen bei Invalidität zuerkannt.

4 Anders als das belgische Recht ( sogenannte Rechtsvorschriften des Typs A ) macht das italienische Recht ( sogenannte Rechtsvorschriften des Typs B ) die Höhe der Leistungen bei Invalidität von der Dauer der Versicherungszeiten abhängig. Nach Artikel 40 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 war Artikel 46 dieser Verordnung auf die Feststellung der dem Kläger geschuldeten Leistungen entsprechend anwendbar.

5 Die italienischen Leistungen bei Invalidität wurden nach der in Artikel 46 Absatz 2 vorgesehenen Regelung über die Zusammenrechnung und Proratisierung berechnet.

6 Die belgischen Leistungen bei Invalidität wurden allein nach den Bestimmungen des nationalen Rechts festgesetzt. Unter Berücksichtigung der Antikumulierungsvorschriften, die in diesem Recht gelten, wurde die dem Kläger von dem zuständigen belgischen Träger gezahlte Leistung auf einen Betrag in Höhe der vollständigen belgischen Leistung abzueglich der proratisierten italienischen Leistung festgesetzt. Aufgrund der Antikumulierungsvorschrift in Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 wäre die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften für den Kläger nicht günstiger gewesen.

7 In der Folgezeit wurden diese Leistungen unabhängig voneinander in beiden Ländern nach den jeweiligen Vorschriften über die Indexierung der Renten angepasst. Insbesondere die italienische Leistung wurde mehrmals - zumindest in einigen Jahren - sehr stark erhöht. Nach Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 führten diese Anpassungen nicht zu einer Neuberechnung der Leistungen gemäß Artikel 46.

8 Mit Wirkung vom 1. Juli 1982 wurden die Voraussetzungen für die Qualifizierung als unterhaltsberechtigte Personen für die Bestimmung der Höhe der Leistungen bei Invalidität durch belgische Königliche Verordnungen vom 23. März und vom 7. Juni 1982 geändert. Im Sinne dieser neuen Regelung war der Kläger von diesem Zeitpunkt an nicht mehr als Person "mit Unterhaltsverpflichtungen", sondern als solche "ohne Unterhaltsverpflichtungen" anzusehen. Daraus ergab sich eine Verringerung der Leistungen bei Invalidität, auf die er allein nach belgischem Recht Anspruch hatte.

9 Ausserdem wurden nach Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 die Leistungen gemäß Artikel 46 neu berechnet.

10 Dabei vertrat der belgische Träger die Auffassung, zur Anwendung des Artikels 46 Absatz 3 sei die selbständige belgische Leistung um den Betrag der proratisierten italienischen Leistung, so wie diese sich im Zeitpunkt der Neufestsetzung der Leistungsansprüche ergab, d. h. unter Berücksichtigung der obengenannten sehr starken Erhöhungen, zu kürzen. Er stellte fest, daß die Anwendung des Gemeinschaftsrechts daher für den Kläger nicht günstiger sei als die des nationalen Rechts einschließlich der Antikumulierungsvorschriften. Wie bei der ursprünglichen Festsetzung am 1. Oktober 1973 setzte er daher die neue dem Kläger zu zahlende Leistung allein nach den Bestimmungen des nationalen Rechts fest und zog vom Betrag der vollständigen belgischen Leistung den angepassten Betrag der italienischen Leistung ab.

11 Aufgrund des für die Neuberechnung der Leistungen erforderlichen Zeitaufwands erhielt der Kläger jedoch nach dem 1. Juli 1982 weiterhin Leistungen in Höhe des Betrages, der ihm bisher gezahlt worden war. Der Bescheid des INAMI über die Festsetzung des neuen - niedrigeren - Leistungsbetrags wurde ihm am 23. Februar 1984 zugestellt. Dabei wurde der Kläger aufgefordert, die Leistungen zurückzuerstatten, die ihm vom 1. Juli 1982 bis zum 30. Juni 1983, dem Tag, von dem an er erneut als Person mit "Unterhaltsverpflichtungen" im Sinne der belgischen Rechtsvorschriften angesehen werden konnte, zuviel gezahlt worden waren. Ein neuer Bescheid über die Festsetzung seiner Ansprüche zu diesem letztgenannten Zeitpunkt wurde ihm am 19. Oktober 1984 zugestellt.

12 Der Kläger focht die Bescheide, durch die seine Leistung bei Invalidität neu berechnet und gekürzt worden war, beim Tribunal du travail Brüssel an. Er beanstandete darüber hinaus deren Rückwirkung sowie die Rückforderung nicht geschuldeter Zahlungen.

13 Vor dem Tribunal du travail machte der Kläger zum einen geltend, es stehe nicht im Einklang mit Artikel 51 EWG-Vertrag, daß die nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldete Leistung um den Gesamtbetrag der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gewährten Leistung gekürzt werde, da der Wanderarbeitnehmer damit aus der im Hoheitsgebiet dieses anderen Staats zurückgelegten Versicherungszeit keinerlei Vorteil ziehe. Er trug zum anderen vor, Artikel 112 der Verordnung Nr. 574/72 stehe einer Rückforderung nicht geschuldeter Zahlungen beim Wanderarbeitnehmer entgegen, die sich bei einer Neuberechnung der Leistungen nach Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ergebe, wenn ein einziger Träger die Leistung neu berechne, wenn die Leistung eines anderen Trägers sich auf diese Leistung auswirke und wenn dieser andere Träger nicht über fällige Rentenbeträge verfüge, die er dem erstgenannten Träger zur Verfügung stellen könne.

14 Bei dieser Sachlage hat das Tribunal du travail Brüssel beschlossen, das Verfahren bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofes über folgende Fragen auszusetzen :

"1 ) Stellt der in Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 genannte theoretische Betrag eine absolute Grenze dar, die auf keinen Fall überschritten werden darf, selbst dann nicht, wenn bei der Anwendung von Rechtsvorschriften des Typs A die theoretische Rente der nationalen Rente entspricht?

Wenn ja, ist es mit Artikel 51 EWG-Vertrag vereinbar, daß die in einem Staat aufgrund des Gemeinschaftsrechts bestehende Forderung in vollem Umfang durch die in einem anderen Staat allein aufgrund des nationalen Rechts bestehende Forderung absorbiert wird?

Wenn nein, wie wird der Berichtigungsköffizient ermittelt, wenn nur eine der festgestellten Leistungen nach Absatz 1 bestimmt wird?

2 ) Überprüft der Träger eines Mitgliedstaats die Verhältnisse eines Wanderarbeitnehmers gemäß Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 und führt diese Neuberechnung zu einer Verringerung der Ansprüche des Betroffenen durch Berücksichtigung der Leistung, die von einem anderen Staat gewährt wird, in dem die Neuberechnung nicht gilt, ist dieser Träger dann berechtigt, die ungerechtfertigte Bereicherung, die durch Anwendung des Gemeinschaftsrechts ( Artikel 46 und 51 der Verordnung Nr. 1408/71 ) entstanden ist, rückwirkend zurückzufordern, oder muß er auf die Rückforderung gemäß Artikel 112 der Verordnung Nr. 574/72 verzichten, sofern der Träger des anderen Staates, der die nicht geänderte Leistung schuldet, nicht über zugunsten des erstgenannten Trägers zurückzubehaltende fällige Beträge verfügt?"

15 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

16 Diese Frage des vorlegenden Gerichts geht im ersten Teil dahin, ob Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 so auszulegen ist, daß der höchste der nach Absatz 2 Buchstabe a berechneten theoretischen Beträge der Leistungen auch in den Fällen die Obergrenze der Leistungen darstellt, auf die ein Wanderarbeitnehmer nach Gemeinschaftsrecht Anspruch hat, in denen dieser theoretische Betrag dem Betrag der allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldeten vollständigen Leistung entspricht.

17 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 17. Dezember 1987 in der Rechtssache 323/86 ( Collini, Slg. 1987, 5489 ) ausgeführt hat, geht aus Artikel 40 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 hervor, daß Artikel 46 dieser Verordnung einschließlich der Antikumulierungsvorschrift in Artikel 46 Absatz 3 auf Leistungen bei Invalidität entsprechend anzuwenden ist, wenn für einen Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten galten, sofern nach den Rechtsvorschriften mindestens eines dieser Staaten die Höhe der Leistungen von der Dauer der Versicherungszeiten abhängig ist.

18 Der Gerichtshof hat in demselben Urteil für Recht erkannt, daß die Antikumulierungsvorschrift des Artikels 46 Absatz 3 in allen Fällen anwendbar ist, in denen die Summe der gemäß den Absätzen 1 und 2 dieses Artikels berechneten Leistungen die Obergrenze überschreitet, die durch den höchsten der nach Absatz 2 Buchstabe a berechneten theoretischen Leistungsbeträge gebildet wird.

19 Wenn der Betrag einer Leistung nach nationalen Rechtsvorschriften des Typs A von der Dauer der zurückgelegten Versicherungszeiten unabhängig ist und der Arbeitnehmer die in diesen Rechtsvorschriften festgelegten Voraussetzungen für die Entstehung des Leistungsanspruchs erfuellt, ist der theoretische Betrag dieser Leistung gleich dem in Artikel 46 Absatz 1 Unterabsatz 1 genannten Betrag, d. h. dem Betrag der vollständigen Leistung, auf die dieser Arbeitnehmer nach den nationalen Rechtsvorschriften Anspruch hätte, wenn er keine Leistung nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erhielte.

20 Somit begrenzt die Antikumulierungsvorschrift des Artikels 46 Absatz 3 in einem solchen Fall - sofern der von dem Träger eines anderen Mitgliedstaats berechnete theoretische Betrag der Leistung nicht höher ist - den kumulierten Betrag der nach Artikel 46 Absätze 1 und 2 berechneten Leistungen auf den Betrag der vollständigen Leistung, auf den der Arbeitnehmer allein nach den nationalen Rechtsvorschriften des Typs A Anspruch hat.

21 Der erste Teil der ersten Vorlagefrage ist daher zu bejahen.

22 Daher ist der zweite Teil dieser Frage zu beantworten, der dahin geht, ob Artikel 46 Absatz 3 in dieser Auslegung mit Artikel 51 EWG-Vertrag vereinbar ist.

23 Durch Artikel 51 EWG-Vertrag sollen die Nachteile beseitigt werden, die sich für die Wanderarbeitnehmer daraus ergeben könnten, daß sie ihre Ansprüche auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit nach den Rechtsvorschriften mehrerer Staaten erworben haben.

24 Dieses Ziel würde verfehlt, wenn die Wanderarbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Begünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen jedenfalls die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats sichern, oder wenn sie im Verhältnis zu der Stellung benachteiligt würden, die sie gehabt hätten, wenn sie ihre gesamte Beschäftigungslaufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hätten.

25 Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, darf die in Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Regelung daher auf einen Wanderarbeitnehmer nur angewendet werden, wenn sie nicht dazu führt, daß dem Betroffenen ein Teil der Vergünstigungen entzogen wird, die er allein aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erhält, und wenn sie nicht verhindert, daß er zumindest die günstigste Gesamtleistung erhält, die allein nach diesen Rechtsvorschriften geschuldet wird.

26 Die gemeinschaftsrechtliche Regelung darf daher nur angewandt werden, wenn ihre Anwendung für den Wanderarbeitnehmer mindestens genauso günstig ist wie die vollständige Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften allein einschließlich ihrer Antikumulierungsvorschriften.

27 In diesem Fall ist die gemeinschaftsrechtliche Regelung aber in vollem Umfang anzuwenden. Die Beschränkungen, die sie den Wanderarbeitnehmern auferlegt, sind als Ausgleich für die Vorteile der sozialen Sicherheit hinzunehmen, die diese Arbeitnehmer aus dieser Regelung ziehen und die sie anders nicht erhalten könnten.

28 Nach alledem kann die Antikumulierungsvorschrift des Artikels 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht deshalb als unvereinbar mit Artikel 51 EWG-Vertrag angesehen werden, weil sie bewirkt, daß der kumulierte Betrag der dem Wanderarbeitnehmer gezahlten Leistungen in einem Fall, wie er Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist, auf einen Betrag begrenzt wird, der dem der vollständigen Leistung entspricht, die vom Träger eines Staates geschuldet wird, in dem Rechtßvorschriften des Typs A gelten, und daß folglich diese Hoechstgrenze nicht nach Maßgabe der nach Rechtsvorschriften des Typs B zurückgelegten Versicherungszeiten variiert.

29 Zum einen kann diese Vorschrift nämlich nur angewandt werden, wenn sie die Ansprüche nicht schmälert, die sich für den Wanderarbeitnehmer ergeben, wenn nur die Rechtsvorschriften des Typs A angewendet werden; zum anderen versetzt sie diesen Arbeitnehmer nicht in eine ungünstigere Lage als diejenige, in der er sich befände, wenn er seine gesamten Versicherungszeiten in einem Staat zurückgelegt hätte, in dem Rechtsvorschriften dieses Typs gelten.

30 An diesem Ergebnis kann auch der vom Kläger des Ausgangsverfahrens in seinen Erklärungen vor dem Gerichtshof hervorgehobene Umstand nichts ändern, daß der Wanderarbeitnehmer gleichwohl schlechter gestellt ist als ein inländischer Arbeitnehmer, da ihm aus der Aufspaltung der Leistungen und der mit ihrer eventuellen Neufeststellung verbundenen Rechtsunsicherheit Nachteile erwachsen.

31 Diese Nachteile, die im übrigen durch bestimmte Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung Nr. 574/72 soweit wie möglich begrenzt werden, sind nämlich unvermeidliche Folge dessen, daß der Zweck des Artikels 51 EWG-Vertrag nicht darin besteht, ein gemeinsames System der sozialen Sicherheit zu schaffen, sondern lediglich darin, Regeln für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten aufzustellen.

32 Auf die erste Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß der höchste der nach Absatz 2 Buchstabe a berechneten theoretischen Leistungsbeträge auch in den Fällen die Obergrenze der Leistungen bildet, auf die ein Wanderarbeitnehmer nach Gemeinschaftsrecht Anspruch hat, in denen dieser theoretische Betrag dem Betrag der allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldeten vollständigen Leistung entspricht, und daß diese Vorschrift in dieser Auslegung mit Artikel 51 EWG-Vertrag vereinbar ist, da Artikel 46 nur anwendbar ist, wenn er es erlaubt, dem Wanderarbeitnehmer eine Leistung zu gewähren, die mindestens der allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldeten Leistung entspricht.

Zur zweiten Frage

33 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob der Träger eines Mitgliedstaats, wenn eine Neuberechnung der Leistungen nach Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zu einer Kürzung der von diesem Träger gewährten Leistung führt, ohne daß sich die vom Träger eines anderen Mitgliedstaats gewährte Leistung ändert, und wenn dieser letztgenannte Träger daher nicht über fällige Rentenbeträge verfügt, die er dem Empfänger der Leistungen nachzuzahlen hat, nach Artikel 112 der Verordnung Nr. 574/72 gezwungen ist, die in dem für die Neuberechnung der Leistungen erforderlichen Zeitraum zuviel gezahlten Leistungen zu seinen Lasten zu übernehmen.

34 Artikel 112 der Verordnung Nr. 574/72 bestimmt : "Hat ein Träger unmittelbar oder über einen anderen Träger nicht geschuldete Zahlungen geleistet und können diese nicht wiedererlangt werden, so gehen die entsprechenden Beträge endgültig zu Lasten des erstgenannten Trägers, es sei denn, daß die nicht geschuldete Zahlung durch eine betrügerische Handlung zustande kam."

35 Nach Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist "bei Änderungen des Feststellungsverfahrens oder Berechnungsmethode für die Leistungen... eine Neuberechnung nach Artikel 46 vorzunehmen ".

36 Dabei sind insbesondere die auf die allgemeine Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage zurückzuführenden Änderungen zu berücksichtigen, die bei den Leistungen seit ihrer ursprünglichen Berechnung eingetreten sind, und die gemäß Artikel 51 Absatz 1 keine Neufestsetzung der Leistungsansprüche des Betroffenen gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten zur Folge hatten.

37 Die Neuberechnung führt zu einer Neufestsetzung der Leistungen, die von den Trägern der einzelnen Mitgliedstaaten geschuldet werden, deren Rechtsvorschriften für den Wanderarbeitnehmer gegolten haben.

38 Dabei kann sich ergeben, daß die von einem Träger zu zahlende Leistung zu kürzen ist, während die von dem anderen Träger geschuldete Leistung unverändert bleibt. Erhält der betroffene Arbeitnehmer in einem solchen Fall während des für die Neuberechnung und für die Neufestsetzung erforderlichen Zeitraums von dem erstgenannten Träger die Leistung in der sich aus der früheren Festsetzung ergebenden Höhe, so wird dieser Träger zuviel gezahlt haben, ohne daß jedoch der andere Träger über rückständige Beträge verfügen wird, die dem Arbeitnehmer nachzuzahlen sind.

39 In ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof legen der Kläger des Ausgangsverfahrens und die italienische Regierung dar, daß Artikel 111 der Verordnung Nr. 574/72, der die Anrechnung der zuviel gezahlten Beträge auf die von dem anderen Träger nachzuzahlenden Beträge vorsehe, in einem solchen Fall nicht anwendbar sei. Es sei daher davon auszugehen, daß diese Beträge nicht wiedererlangt werden könnten und daß sie nach Artikel 112 der Verordnung zu Lasten des erstgenannten Trägers gehen müssten.

40 Diese Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ist nicht vertretbar.

41 Zunächst würde das Fehlen oder die unzureichende Höhe der nachzuzahlenden Rentenbeträge nach Artikel 111 Absatz 1 jedenfalls nicht genügen, um die vollständige oder teilweise Wiedererlangung der zuviel gezahlten Beträge als unmöglich anzusehen. Artikel 111 Absatz 1 Satz 3 bestimmt nämlich, daß in einem solchen Fall Absatz 2 anzuwenden ist, wonach diese Beträge auf alle Leistungen angerechnet werden können, die von einem Träger irgendeines anderen Mitgliedstaats gezahlt werden.

42 Weiter verpflichtet Artikel 111 nach seinem Wortlaut den Träger, der Beträge zuviel gezahlt hat, nicht, sich an andere Träger zu wenden, um diese Beträge zurückzufordern. Es handelt sich für ihn nur um eine Möglichkeit, die er nicht in Anspruch zu nehmen braucht und die es ihm nicht verwehrt, diese Beträge unmittelbar vom Leistungsempfänger zurückzufordern.

43 Der Satzteil "können diese (( nicht geschuldeten Zahlungen )) nicht wiedererlangt werden" in Artikel 112 der Verordnung Nr. 574/72 kann folglich nicht dahin ausgelegt werden, daß er sich nur auf die Fälle bezieht, in denen diese Zahlungen nicht von nachzuzahlenden Rentenbeträgen oder von irgendeiner anderen von einem Träger eines anderen Mitgliedstaats zu zahlenden Leistung einbehalten werden können.

44 Auf die zweite Vorlagefrage ist daher zu antworten : Führt eine Neuberechnung der Leistungen nach Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zu einer Kürzung der vom Träger eines Mitgliedstaats gewährten Leistung, ohne daß sich die vom Träger eines anderen Mitgliedstaats gewährte Leistung ändert, so daß dieser letztgenannte Träger dem Leistungsberechtigten keine Rentenbeträge nachzuzahlen hat, so ist der erstgenannte Träger nach Artikel 112 der Verordnung Nr. 574/72 nicht gezwungen, die in dem für die Neuberechnung der Leistungen erforderlichen Zeitraum zuviel gezahlten Leistungen zu seinen Lasten zu übernehmen.

Kostenentscheidung:

Kosten

45 Die Auslagen der Regierung der Italienischen Republik und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Dritte Kammer )

auf die ihm vom Tribunal du travail Brüssel mit Urteil vom 30. Juni 1988 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1 ) Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, ist dahin auszulegen, daß der höchste der nach Absatz 2 Buchstabe a berechneten theoretischen Leistungsbeträge auch in den Fällen die Obergrenze der Leistungen bildet, auf die ein Wanderarbeitnehmer nach Gemeinschaftsrecht Anspruch hat, in denen dieser theoretische Betrag dem Betrag der allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldeten vollständigen Leistung entspricht. In dieser Auslegung ist diese Vorschrift mit Artikel 51 EWG-Vertrag vereinbar, da Artikel 46 nur anwendbar ist, wenn er es erlaubt, dem Wanderarbeitnehmer eine Leistung zu gewähren, die mindestens der allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschuldeten Leistung entspricht.

2 ) Führt eine Neuberechnung der Leistungen nach Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates zu einer Kürzung der vom Träger eines Mitgliedstaats gewährten Leistung, ohne daß sich die vom Träger eines anderen Mitgliedstaats gewährte Leistung ändert, so daß dieser letztgenannte Träger dem Leistungsberechtigten keine Rentenbeträge nachzuzahlen hat, so ist der erstgenannte Träger nach Artikel 112 der Verordnung ( EWG ) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 nicht gezwungen, die in dem für die Neuberechnung der Leistungen erforderlichen Zeitraum zuviel gezahlten Leistungen zu seinen Lasten zu übernehmen.

Ende der Entscheidung

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