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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.06.1988
Aktenzeichen: 226/87
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die der Kommission in Artikel 90 Absatz 3 EWG-Vertrag übertragene Befugnis wird zwar innerhalb eines speziellen Anwendungsbereichs und unter Voraussetzungen ausgeuebt, die entsprechend dem besonderen Gegenstand dieses Artikels festgelegt sind, dieser Umstand steht aber der Zugehörigkeit der in dieser Bestimmung des EWG-Vertrags genannten "Richtlinien" und "Entscheidungen" zu der allgemeinen Kategorie der in Artikel 189 EWG-Vertrag vorgesehenen Richtlinien und Entscheidungen nicht entgegen.

Eine auf Artikel 90 Absatz 3 gestützte Entscheidung ist daher gemäß Artikel 189 Absatz 4 in allen ihren Teilen für den Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, verbindlich.

2. Das im EWG-Vertrag festgelegte Klagesystem unterscheidet zwischen den in den Artikeln 169 und 170 vorgesehenen Klagen, die auf die Feststellung gerichtet sind, daß ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstossen hat, und den in den Artikeln 173 und 175 vorgesehenen Klagen, mit denen die Rechtmässigkeit von Handlungen oder Unterlassungen der Gemeinschaftsorgane überprüft werden soll. Diese Klagemöglichkeiten verfolgen verschiedene Ziele und sind unterschiedlichen Voraussetzungen unterworfen. Ein Mitgliedstaat kann sich daher mangels einer Vorschrift des EWG-Vertrags, die ihn dazu ausdrücklich ermächtigt, zur Verteidigung gegenüber einer auf die Nichtdurchführung einer an ihn gerichteten Entscheidung gestützten Vertragsverletzungsklage nicht mit Erfolg auf die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung berufen.

Eine solche Verteidigung könnte nur durchgreifen, wenn die nicht durchgeführte Entscheidung mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet wäre, so daß sie als inexistenter Rechtsakt qualifiziert werden könnte.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 30. JUNI 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN REPUBLIK GRIECHENLAND. - VERTRAGSVERLETZUNG - NICHTDURCHFUEHRUNG EINER NACH ARTIKEL 90 ABSATZ 3 ERLASSENEN ENTSCHEIDUNG. - RECHTSSACHE 226/87.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 20. Juli 1987 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Griechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht die erforderlichen Maßnahmen erlassen hat, um der Entscheidung 85/276 der Kommission vom 24. April 1985 über die in Griechenland vorgeschriebene Versicherung von öffentlichen Vermögen und der von griechischen öffentlichen Banken gewährten Kredite ( ABl. L 152, S. 25 ) nachzukommen.

2 Artikel 13 des griechischen Gesetzes Nr. 1256/82 vom 28./31. Mai 1982 sieht zum einen vor, daß das gesamte Vermögen der öffentlichen Hand einschließlich des Vermögens der öffentlichen Unternehmen nur von griechischen Versicherungsgesellschaften des öffentlichen Sektors versichert werden darf, und verpflichtet zum anderen das Personal der griechischen öffentlichen Banken, ihren Kunden zu empfehlen, sich bei Versicherungsgesellschaften zu versichern, die vom öffentlichen Banksektor abhängig sind und von diesem kontrolliert werden.

3 Mit der auf der Grundlage von Artikel 90 Absatz 3 EWG-Vertrag erlassenen Entscheidung erklärte die Kommission diese Rechtsvorschriften für unvereinbar mit Artikel 90 Absatz 1 EWG-Vertrag in Verbindung mit den Artikeln 52, 53, 5 Absatz 2 und 3 Buchstabe f EWG-Vertrag. Artikel 2 dieser Entscheidung, die der Griechischen Republik mit Schreiben vom 30. Mai 1985 bekanntgegeben wurde, verpflichtete die Griechische Republik, die Kommission binnen zwei Monaten nach dieser Bekanntgabe von den Maßnahmen zu unterrichten, die sie erlassen hatte, um der Entscheidung nachzukommen.

4 Da eine solche Unterrichtung innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht erfolgte, richtete die Kommission eine Mahnung an die Griechische Republik; diese teilte daraufhin mit Schreiben vom 29. Oktober 1985 mit, daß Artikel 13 des Gesetzes Nr. 1256/82 unverzueglich geändert werde.

5 Da diese Gesetzesänderung nicht vorgenommen wurde, leitete die Kommission am 8. April 1986 das Verfahren nach Artikel 169 EWG-Vertrag ein, indem sie die Griechische Republik zur Äusserung aufforderte.

6 Es folgte ein Schriftwechsel, in dessen Verlauf die griechischen Stellen sich darauf beschränkten, auf die unmittelbar bevorstehende Einbringung eines Gesetzesentwurfes zur Anpassung der bestehenden Rechtsvorschriften an die Entscheidung der Kommission vom 24. April 1985 im Parlament hinzuweisen.

7 Nachdem die Kommission der Griechischen Republik am 17. Februar 1987 eine mit Gründen versehene Stellungnahme übersandt hatte, die unbeantwortet blieb, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

8 Wegen weiterer Einzelheiten der nationalen Rechtsvorschriften, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Zur Begründung ihrer Klage macht die Kommission geltend, die Griechische Republik sei verpflichtet gewesen, der Entscheidung vom 24. April 1985 nachzukommen, und könne sich im Rahmen des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens nicht auf deren Rechtswidrigkeit berufen.

10 Die Beklagte macht ihrerseits geltend, in Wirklichkeit sei die genannte Entscheidung der Kommission als schlichte Stellungnahme anzusehen. Der Umstand, daß sie dagegen nicht von der in Artikel 173 vorgesehenen Klagemöglichkeit Gebrauch gemacht habe, dürfe nicht als Anerkennung der Verbindlichkeit und der Begründetheit dieser Entscheidung angesehen werden. Sie sei daher berechtigt, die Rechtmässigkeit dieser angeblichen Entscheidung im Rahmen des vorliegenden Verfahrens zu bestreiten. Entgegen den Feststellungen in dieser Entscheidung stehe Artikel 13 des griechischen Gesetzes Nr. 1256/82 nicht im Widerspruch zum EWG-Vertrag.

11 Es ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 90 Absatz 3 EWG-Vertrag wie folgt lautet : "Die Kommission achtet auf die Anwendung dieses Artikels und richtet erforderlichenfalls geeignete Richtlinien oder Entscheidungen an die Mitgliedstaaten." Aus dem Urteil des Gerichtshofes vom 6. Juli 1982 in den verbundenen Rechtssachen 188 bis 190/80 ( Französische Republik, Italienische Republik und Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland/Kommission, Slg. 1982, 2545 ) folgt, daß die der Kommission in Artikel 90 Absatz 3 EWG-Vertrag übertragene Befugnis zwar innerhalb eines speziellen Anwendungsbereichs und unter Voraussetzungen ausgeuebt wird, die entsprechend dem besonderen Gegenstand dieses Artikels festgelegt sind, daß dieser Umstand aber der Zugehörigkeit der in dieser Bestimmung des EWG-Vertrags genannten "Richtlinien" und "Entscheidungen" zu der allgemeinen Kategorie der in Artikel 189 EWG-Vertrag vorgesehenen Richtlinien und Entscheidungen nicht entgegensteht.

12 Unter diesen Umständen war die Entscheidung der Kommission vom 24. April 1985 gemäß Artikel 189 Absatz 4 EWG-Vertrag "in allen ihren Teilen... verbindlich" für die Griechische Republik, an die sie gerichtet war. Diese war daher verpflichtet, die Vorschriften der Entscheidung so lange zu beachten, bis sie beim Gerichtshof gegebenenfalls die Aussetzung des Vollzugs oder die Aufhebung dieser Entscheidung erwirkt hatte. Unstreitig hat die Griechische Republik im vorliegenden Fall solche Maßnahmen beim Gerichtshof weder beantragt noch in der Folge erwirkt.

13 Die Griechische Republik kann sich keinesfalls auf die Rechtswidrigkeit der Entscheidung vom 24. April 1985 berufen, um die ihr zur Last gelegte Vertragsverletzung zu bestreiten.

14 Das im EWG-Vertrag festgelegte Klagesystem unterscheidet nämlich zwischen den in den Artikeln 169 und 170 vorgesehenen Klagen, die auf die Feststellung gerichtet sind, daß ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstossen hat, und den in den Artikeln 173 und 175 vorgesehenen Klagen, mit denen die Rechtmässigkeit von Handlungen oder Unterlassungen der Gemeinschaftsorgane überprüft werden soll. Diese Klagemöglichkeiten verfolgen verschiedene Ziele und unterliegen unterschiedlichen Voraussetzungen. Ein Mitgliedstaat kann sich daher mangels einer Vorschrift des EWG-Vertrags, die ihn dazu ausdrücklich ermächtigt, zur Verteidigung gegenüber einer auf die Nichtdurchführung einer an ihn gerichteten Entscheidung gestützten Vertragsverletzungsklage nicht mit Erfolg auf die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung berufen.

15 Die Griechische Republik hat in der mündlichen Verhandlung eingewandt, der Gerichtshof müsse im vorliegenden Fall, um einem grundlegenden Erfordernis der Gemeinschaftsrechtsordnung nachzukommen, auf Einrede dennoch seine Kontrolle über die Entscheidung vom 24. April 1985 ausüben. Diese verstosse nämlich gegen das grundlegende Prinzip der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, und es fehle ihr damit jede Rechtsgrundlage in der Gemeinschaftsrechtsordnung.

16 Dieser Einwand könnte nur durchgreifen, wenn der fragliche Rechtsakt mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet wäre, so daß er als inexistenter Rechtsakt qualifiziert werden könnte ( Urteil vom 26. Februar 1987 in der Rechtssache 15/85, Consorzio Cooperative d' Abruzzo, Slg. 1987, 1005 ). Das Vorbringen der Griechischen Republik enthält jedoch keine genauen Angaben, aufgrund deren sich die Entscheidung der Kommission in dieser Weise qualifizieren ließe. Sie war im übrigen selbst der Auffassung, daß die Entscheidung vom 24. April 1985 nicht inexistent sei, als sie während des gesamten Vorverfahrens ihre Absicht bekundete, der Entscheidung nachzukommen.

17 Der Klage der Kommission ist daher stattzugeben, ohne daß auf die Rechtmässigkeit der streitigen Entscheidung einzugehen ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Griechische Republik unterlegen ist, hat sie die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Griechische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen, daß sie innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht die erforderlichen Maßnahmen erlassen hat, um der Entscheidung 85/276 der Kommission vom 24. April 1985 über die in Griechenland vorgeschriebene Versicherung von öffentlichen Vermögen und der von griechischen öffentlichen Banken gewährten Kredite ( ABl. L 152, S. 25 ) nachzukommen.

2 ) Die Griechische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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