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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.07.1990
Aktenzeichen: 236/88
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 48
EWGV Art. 41
EWGV Art. 169
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 10
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine Zusatzbeihilfe, die von einem nationalen Solidaritätsfonds gezahlt, aus Steuermitteln finanziert und Beziehern von Alters -, Hinterbliebenen - oder Invalidenrenten gewährt wird, um ihnen ein Existenzminimum zu sichern, gehört zum System der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71, wenn die Betroffenen einen rechtlich geschützten Anspruch auf die Gewährung einer derartigen Leistung haben.

Die Tatsache, daß die Gewährung einer derartigen Leistung an ein bestimmtes wirtschaftliches und soziales Umfeld gebunden ist, kann beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht rechtfertigen, daß zwischen ihr und der Rente unterschieden wird, zu der sie automatisch hinzutritt.

2. Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß weder die Entstehung noch die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die in dieser Bestimmung genannten Leistungen, Renten und Zulagen allein deshalb verneint werden können, weil der Betroffene nicht im Gebiet des Mitgliedstaats wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

3. Der Umstand, daß sich aus der Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Regelung für den Bereich der sozialen Sicherheit praktische Schwierigkeiten ergeben können, wenn die Bedingungen nicht festgelegt worden sind, unter denen die Erbringung bestimmter Kategorien von Leistungen sichergestellt werden muß, ist nicht geeignet, die Rechte zu beeinträchtigen, die die Betreffenden aus den Grundsätzen der Sozialgesetzgebung der Gemeinschaft herleiten. Es besteht im übrigen eine Einrichtung, die Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, die gemäß Artikel 81 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 speziell dazu bestimmt ist, etwaige Schwierigkeiten dieser Art zu behandeln.

4. Der Umstand, daß dem Rat ein Vorschlag unterbreitet worden ist, durch dessen Verabschiedung der einem Mitgliedstaat zur Last gelegte Rechtsverstoß beseitigt werden könnte, kann diesen nicht von der Verpflichtung entbinden, das geltende Gemeinschaftsrecht zu beachten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 12. JULI 1990. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN FRANZOESISCHE REPUBLIK. - SOZIALE SICHERHEIT - ZUSAETZLICHE BEIHILFE DES FONDS NATIONAL DE SOLIDARITE - AUSFUEHRBARKEIT DER NICHT AUF BEITRAEGEN BERUHENDEN LEISTUNGEN. - RECHTSSACHE 236/88.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission hat mit Klageschrift, die am 17. August 1988 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, Klage erhoben auf Feststellung, daß die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag und aus Artikel 10 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, (( kodifiziert durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983, ABl. L 230, S. 6 )) verstossen hat, indem sie es ablehnt, den Beziehern französischer Invaliden -, Alters - oder Hinterbliebenenrenten, die ihren Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft haben oder ihn dorthin verlegen, die Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité zu gewähren oder weiter zu gewähren.

2 Aus den Akten ergibt sich, daß die Zusatzbeihilfe vom Fonds national de solidarité gewährt wird, der im Jahr 1956 errichtet wurde, um eine allgemeine Politik des Schutzes älterer Menschen zu fördern, darunter Personen, die aufgrund gesetzlicher Bestimmungen Leistungen bei Alter oder Invalidität beziehen und über unzureichende Einkünfte verfügen.

3 Die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Zusatzbeihilfe, die früher in den Artikeln L 684 bis 711 des Code de la sécurité sociale ( Gesetzbuch der sozialen Sicherheit, nachstehend : CSS ) festgelegt waren, sind jetzt in den Artikeln L 815-1 bis 815-11 CSS geregelt. Die Zusatzbeihilfe wird aus Steuermitteln finanziert, ihre Gewährung setzt nicht voraus, daß der Bezieher früher Arbeitnehmer oder selbständig Erwerbstätiger war. Es handelt sich um eine Leistung, die Einkünfte jeder Art, einschließlich der auf Beiträgen beruhenden Leistungen, auf ein unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten in Frankreich festgesetztes Mindestniveau anhebt. Gemäß Artikel L 815-11 CSS wird die Zulage Personen, die ihren Wohnort aus dem Gebiet der Französischen Republik verlegen, nicht weiter gewährt.

4 Nach ihrem Artikel 4 Absatz 1 gilt die Verordnung Nr. 1408/71 für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die bestimmte Leistungsarten betreffen, darunter Leistungen bei Invalidität und Leistungen bei Alter. Gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 dürfen die Renten, Leistungen und Zulagen, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten "Anspruch erworben worden ist", nicht deshalb gekürzt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

5 Mit Schreiben vom 12. Februar 1979 forderte die Kommission die französische Regierung auf, die französischen Bestimmungen dem Gemeinschaftsrecht anzupassen, so daß im Einklang mit dem Urteil vom 9. Oktober 1974 in der Rechtssache 24/74 ( Biason, Slg. 1974, 999 ) Bezieher einer französischen Invalidenrente, denen die Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité gewährt wird, diese Beihilfe weiter erhalten, wenn sie ihren Wohnort in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegen. Mit Schreiben vom 15. Juni und 9. August 1979 teilten die französischen Behörden der Kommission mit, sie hätten das aufgeworfene Problem eingehend geprüft, könnten jedoch die Hindernisse für die Gewährung der streitigen Leistung ausserhalb des französischen Staatsgebiets nicht beseitigen.

6 Die Kommission gab gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag am 24. Juli 1980 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab und forderte die französische Regierung auf, dieser binnen eines Monats nachzukommen. Am 29. April 1981 beschloß die Kommission, das gemäß Artikel 169 eingeleitete Verfahren auszusetzen. Am 8. August 1985 legte sie dem Rat einen Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 (( KOM(85 ) 396 endg., ABl. C 240, S. 6 )) vor. Dieser Vorschlag, bei dessen Verabschiedung die gerügte Vertragsverletzung entfallen wäre, sah vor, daß beitragsunabhängige finanzielle Sozialleistungen ausdrücklich in die durch die Verordnung Nr. 1408/71 erfassten Leistungen einbezogen werden sollten und daß derartige Leistungen, auf die ein Anspruch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erworben worden ist, nur Personen gewährt werden, die in diesem Staat wohnen. Da es bei den Verhandlungen im Rat keine Fortschritte gab, hat die Kommission ihre Entscheidung, das Verfahren gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag auszusetzen, rückgängig gemacht und die vorliegende Klage erhoben.

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Aus den Akten ergibt sich, daß die Kommission zwar die Verurteilung Frankreichs wegen Verletzung seiner Verpflichtungen aus den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag und aus Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 beantragt, daß sie aber ihre Argumentation nur auf einen Verstoß Frankreichs gegen diesen Artikel 10 stützt. Die Begründetheit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage ist folglich nur im Hinblick auf Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 zu prüfen.

9 Die Kommission macht geltend, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ( vergleiche insbesondere das Urteil vom 24. Februar 1987 in den verbundenen Rechtssachen 379/85 bis 381/85 und 93/86, Giletti u. a., Slg. 1987, 955 ) die Weigerung, Berechtigten, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen oder ihren Wohnort dorthin verlegen, eine Beihilfe wie die hier angesprochene zu gewähren oder weiter zu gewähren, einen Verstoß gegen Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 darstelle.

10 Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof in dem erwähnten Urteil vom 24. Februar 1987 in der Rechtssache Giletti u. a., das auf mehrere Vorlagefragen hin erging, die die französische Cour de cassation hinsichtlich dieser Beihilfe gestellt hatte, entschieden hat, daß Rechtsvorschriften wie die hier streitigen, soweit sie einen Anspruch auf Zusatzleistungen verleihen, durch die die Einkünfte von Beziehern von Renten der sozialen Sicherheit, unabhängig von jeder Beurteilung der individuellen Bedürftigkeit und Verhältnisse, die für die Sozialhilfe kennzeichnend ist, erhöht werden sollen, zum System der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 gehören.

11 In diesem Urteil hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß weder die Entstehung noch die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die in dieser Bestimmung genannten Leistungen, Renten und Zulagen allein deshalb verneint werden können, weil der Betroffene nicht im Gebiet des Mitgliedstaats wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

12 Die französische Regierung macht geltend, die fragliche Zusatzbeihilfe werde nach Maßgabe eines bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Umfelds gewährt, da sie ein Existenzminimum in Frankreich sichern solle. Die Zahlung dieser Beihilfe in einem anderen Mitgliedstaat erfuelle also nicht mehr die gleiche Aufgabe und verliere damit ihre Daseinsberechtigung.

13 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Wenn eine zusätzliche Leistung nämlich wie im vorliegenden Fall zum System der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 gehört, kann die Tatsache, daß ihre Gewährung an ein bestimmtes wirtschaftliches und soziales Umfeld gebunden ist, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht rechtfertigen, daß zwischen ihr und der Rente unterschieden wird, zu der sie automatisch hinzutritt.

14 Es ist demnach unvereinbar mit Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, daß die Gewährung der fraglichen Zusatzbeihilfe an das Erfordernis eines Wohnorts in Frankreich geknüpft ist.

15 Die französische Regierung trägt weiter vor, der "Export" der Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité werfe ebenso wie der Export der beitragsunabhängigen Leistungen der anderen Mitgliedstaaten erhebliche Verwaltungs -, Koordinierungs - und Sachprobleme auf, die nur durch eine gemeinschaftsrechtliche Regelung gelöst werden könnten. Zu eben diesem Zweck habe übrigens die Kommission den erwähnten Verordnungsvorschlag vom 8. August 1985 vorgelegt.

16 Hierzu ist zu sagen, daß die Antwort auf die von der französischen Regierung aufgeworfenen Fragen wegen des Fehlens besonderer Vorschriften über die fraglichen beitragsunabhängigen Leistungen den derzeit geltenden Verordnungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu entnehmen ist.

17 Zwar können sich praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser Bestimmungen ergeben, doch ist dieser Umstand, wie der Gerichtshof bereits im Urteil vom 28. Mai 1974 in der Rechtssache 187/73 ( Callemeyn, Slg. 1974, 553, Randnr. 12 ) entschieden hat, nicht geeignet, die Rechte zu beeinträchtigen, die die Betreffenden aus den Grundsätzen der Sozialgesetzgebung der Gemeinschaft herleiten. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß praktische Probleme stets der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vorgelegt werden können, die gemäß Artikel 81 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 speziell zu diesem Zweck besteht.

18 Die französische Regierung kann sich folglich nicht auf die von ihr angeführten Schwierigkeiten berufen, um die Nichtbeachtung ihrer Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht zu rechtfertigen.

19 Soweit sich die französische Regierung auf den Vorschlag der Kommission vom 8. August 1985 beruft, ist darauf hinzuweisen, daß der Umstand, daß dem Rat ein Vorschlag unterbreitet worden ist, durch den der Rechtsverstoß beseitigt werden könnte, den dafür verantwortlichen Mitgliedstaat nicht von der Verpflichtung entbinden kann, das geltende Gemeinschaftsrecht zu beachten.

20 Nach alledem ist festzustellen, daß die französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 verstossen hat, indem sie es ablehnt, den Beziehern französischer Invaliden -, Alters - oder Hinterbliebenenrenten, die ihren Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft haben oder ihn dorthin verlegen, die Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité zu gewähren oder weiter zu gewähren.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Französische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Französische Republik hat gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 10 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, verstossen, indem sie es ablehnt, den Beziehern französischer Invaliden -, Alters - oder Hinterbliebenenrenten, die ihren Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft haben oder ihn dorthin verlegen, die Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité zu gewähren oder weiter zu gewähren.

2 ) Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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