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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 29.06.1988
Aktenzeichen: 240/87
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der nationale Gesetzgeber kann nicht nach Verkündung eines Urteils des Gerichtshofes, dem zufolge bestimmte Rechtsvorschriften mit dem Vertrag unvereinbar sind, eine Verfahrensregel erlassen, die speziell die Möglichkeiten einschränkt, auf Erstattung der Abgaben zu klagen, die aufgrund dieser Rechtsvorschriften zu Unrecht erhoben worden sind.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 29. JUNI 1988. - CHRISTIAN DEVILLE GEGEN ADMINISTRATION DES IMPOTS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM TRIBUNAL DE GRANDE INSTANCE DE LILLE. - INNERSTAATLICHE STEUERN, DIE UNTER VERSTOSS GEGEN GEMEINSCHAFTSRECHT ERHOBEN WERDEN - BESCHRAENKUNG DER ERSTATTUNGSMOEGLICHKEITEN NACH ERLASS EINES URTEILS DES GERICHTSHOFES. - RECHTSSACHE 240/87.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de grande instance Lille hat mit Urteil vom 29. Juli 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 3. August 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts im Bereich der Erstattung unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobener nationaler Abgaben zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen C. Deville und der Administration des impôts wegen der Erstattung der von ihm für sein Kraftfahrzeug 1982 gezahlten festen Sondersteuer, die später durch Urteil des Gerichtshofes vom 9. Mai 1985 in der Rechtssache 112/84 ( Humblot, Slg. 1985, 1367 ) für unvereinbar mit Artikel 95 EWG-Vertrag erklärt wurde.

3 Der französische Gesetzgeber verabschiedete, um sich diesem Urteil anzupassen, Artikel 18 des Gesetzes Nr. 85-695 vom 11. Juli 1985, das verschiedene Bestimmungen wirtschaftlicher und steuerlicher Art enthält ( JORF vom 12. 7. 1985, S. 7855 ). Mit dieser Bestimmung wurde die feste Sondersteuer aufgehoben und durch eine nach Maßgabe der steuerlichen Nutzleistung des Fahrzeugs gestaffelte Steuer ersetzt. Im übrigen erlaubt sie den Steuerpflichtigen, die Erstattung des Unterschieds zwischen dem Betrag der gezahlten Sondersteuer und dem Betrag der neuen, nach der steuerlichen Nutzleistung ihres Fahrzeugs gestaffelten Steuer zu beanspruchen.

4 Artikel 18-V Absatz 2 bestimmt die Frist, innerhalb deren die Einsprüche nach dem Erlaß des erwähnten Urteils eingelegt werden müssen, wie folgt : "Steuerpflichtige, die nach dem 9. Mai 1985 einen Einspruch einlegen, können unter den gleichen Voraussetzungen eine bestimmte Erstattung erhalten, wenn der Antrag binnen der in Artikel R 196-1 Buchstabe b des Livre des procédures fiscales festgelegten Frist gestellt wird, die am Tag der Entrichtung der Sondersteuer beginnt."

5 Artikel R 196-1 des Livre des procédures fiscales ( Steuerverfahrensordnung ) lautet wie folgt : "Einsprüche... sind zulässig, wenn sie spätestens am 31. Dezember des zweiten Jahres eingelegt werden, das auf das Jahr folgt, in dem entweder a )...; b ) die strittige Steuer gezahlt wurde...; oder c ) das Ereignis eintrat, auf das der Einspruch gestützt wird."

6 Herr Deville ist Eigentümer eines Kraftfahrzeugs italienischer Herstellung mit einer steuerlichen Nutzleistung von mehr als 16 CV. Am 10. Dezember 1982 zahlte er die feste Sondersteuer für sein Fahrzeug. Am 31. Dezember 1985, also nach Erlaß des Urteils, das die Unvereinbarkeit der Sondersteuer mit Artikel 95 EWG-Vertrag festgestellt hatte, legte er Einspruch ein mit dem Antrag auf Erstattung des Unterschieds zwischen dem Betrag der gezahlten Sondersteuer und dem Hoechstbetrag der gestaffelten Steuer für Fahrzeuge französischer Herstellung.

7 Die Administration des Impôts wies diesen Einspruch als verspätet zurück, weil er gemäß Artikel 18-V Absatz 2 des Gesetzes vom 11. Juli 1985 in Verbindung mit Artikel R 196-1 Buchstabe b des Livre des procédures fiscales spätestens am 31. Dezember 1984 ( d. h. am 31. Dezember des zweiten Jahres, das auf das Jahr der Zahlung der umstrittenen Steuer folgt ) hätte eingelegt werden müssen.

8 Gegen diese Entscheidung erhob Herr Deville vor dem Tribunal de grande instance Lille Klage. Er hielt seinen Einspruch nicht für verspätet, weil er innerhalb der Frist des Artikels R 196-1 Buchstbe c eingelegt worden sei, d. h. spätestens am 31. Dezember des zweiten Jahres nach dem Jahr des Eintritts des Ereignisses, auf das sich der Einspruch stütze. Dieses Ereignis sei die Verkündung des Urteils vom 9. Mai 1985 in der Rechtssache Humblot. Im übrigen trug Herr Deville vor, daß, wenn sein Einspruch als verspätet behandelt werde, das Urteil Humblot in seinen zeitlichen Wirkungen verkürzt werde, da es auch für Sachverhalte vor seiner Verkündung gelte.

9 Unter diesen Umständen hat das Tribunal de grande instance Lille dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt :

"Ist es mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar, die Auswirkungen der rückwirkenden Abschaffung der durch das Urteil vom 9. Mai 1985 in der Rechtssache 112/84 für mit Artikel 95 EWG-Vertrag unvereinbar erklärten Sondersteuer auf Kraftfahrzeuge mit mehr als 16 CV ( Steuer-PS ) zeitlich zu begrenzen, wie dies Artikel 18-V Absatz 2 des Gesetzes Nr. 85-695 vom 11. Juli 1985 tut?"

10 Wegen der schriftlichen Erklärungen, die Herr Deville, die französische Regierung und die Kommission eingereicht haben, wird auf den Sitzungsbericht verwiesen.

11 Es ist darauf hinzuweisen, daß, wenn eine nationale Abgabe zu Lasten eines Steuerpflichtigen, der diese Abgabe nicht auf andere Personen abwälzen kann, unter Verstoß gegen den Vertrag erhoben worden ist, sich die Erstattungspflicht, die dem betreffenden Mitgliedstaat obliegt, aus der unmittelbaren Wirkung der Gemeinschaftsbestimmung, die verletzt worden ist, ergibt.

12 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes sind mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf dem Gebiet der Erstattung zu Unrecht erhobener nationaler Abgaben die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten; dabei dürfen freilich diese Bedingungen nicht ungünstiger sein als diejenigen bei entsprechenden Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und sie dürfen nicht so gestaltet sein, daß sie die Ausübung der Rechte, die die nationalen Gerichte zu schützen verpflichtet sind, praktisch unmöglich machen ( Urteile vom 16. Dezember 1976 in den Rechtssachen 33/76 und 45/76, Rewe und Comet, Slg. 1976, 1989 und 2043; Urteil vom 27. März 1980 in der Rechtssache 61/79, Denkavit, Slg. 1980, 1205; Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595 ).

13 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß der nationale Gesetzgeber nicht nach Verkündung eines Urteils des Gerichtshofes, dem zufolge bestimmte Rechtsvorschriften mit dem Vertrag unvereinbar sind, eine Verfahrensregel erlassen kann, die speziell die Möglichkeiten einschränkt, auf Erstattung der Abgaben zu klagen, die aufgrund dieser Rechtsvorschriften zu Unrecht erhoben worden sind.

14 Vorliegend vertreten Herr Deville, der Kläger des Ausgangsverfahrens, und die französische Regierung unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Artikel 18-V Absatz 2 des Gesetzes vom 11. Juli 1985 die Möglichkeiten, auf Erstattung zu klagen, einschränkt, die ohne diese Vorschrift bestanden hätten.

15 Herr Deville macht geltend, daß die umstrittene Bestimmung durch die Verweisung auf die in Artikel R 196-1 Buchstabe b des Livre des procédures fiscales geregelte Frist (" spätestens am 31. Dezember des zweiten Jahres, das auf das Jahr folgt, in dem... die strittige Steuer gezahlt wurde ") ihn daran hindere, sich auf die in Buchstabe c dieses Artikels festgelegte Frist zu berufen (" spätestens am 31. Dezember des zweiten Jahres, das auf das Jahr folgt, in dem... das Ereignis eintrat, auf das der Einspruch gestützt wird "). Das Ereignis, auf das sich sein Einspruch gestützt habe, sei die Verkündung des Urteils vom 9. Mai 1985 ( Rechtssache Humblot ).

16 Die französische Regierung legt zunächst dar, daß die Einspruchsfrist des Artikels R 196-1 Buchstabe b, auf die die umstrittene Vorschrift verweise, auch dann hätte angewandt werden müssen, wenn es diese Verweisung nicht gäbe. Eine Gerichtsentscheidung sei nämlich kein Ereignis im Sinne des Artikels R 196-1 Buchstabe c, so daß allein die in Artikel R 196-1 Buchstabe b vorgesehene Frist in Betracht gekommen wäre. Auf eine Frage des Gerichtshofes hat die französische Regierung indessen anerkannt, daß bei Fehlen der umstrittenen Bestimmung die in Artikel R 196-1 Buchstabe c geregelte Frist wohl doch hätte angewandt werden müssen, da die Veröffentlichung des Gesetzes vom 11. Juli 1985 ein Ereignis im Sinne dieses Buchstabens c sei.

17 Es ist daran zu erinnern, daß der Gerichtshof nicht zur Auslegung des nationalen Rechts befugt ist. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob Artikel 18-V Absatz 2 des Gesetzes vom 11. Juli 1985 die Möglichkeiten, auf Erstattung zu klagen, die ohne diese Vorschrift bestanden hätten, einschränkt.

18 Auf die vom Tribunal de grande instance Lille vorgelegte Frage ist daher zu antworten, daß der nationale Gesetzgeber nicht nach Verkündung eines Urteils des Gerichtshofes, dem zufolge bestimmte Rechtsvorschriften mit dem Vertrag unvereinbar sind, eine Verfahrensregel erlassen kann, die speziell die Möglichkeiten einschränkt, auf Erstattung der Abgaben zu klagen, die aufgrund dieser Rechtsvorschriften zu Unrecht erhoben worden sind. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die umstrittene Vorschrift die Möglichkeiten, auf Erstattung zu klagen, die ohne sie bestanden hätten, einschränkt.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der französischen Regierung, der irischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Fünfte Kammer )

auf die ihm vom Tribunal de grande instance Lille mit Urteil vom 29. Juli 1987 vorgelegte Frage für erkannt :

Der nationale Gesetzgeber kann nicht nach Verkündung eines Urteils des Gerichtshofes, dem zufolge bestimmte Rechtsvorschriften mit dem Vertrag unvereinbar sind, eine Verfahrensregel erlassen, die speziell die Möglichkeiten einschränkt, auf Erstattung der Abgaben zu klagen, die aufgrund dieser Rechtsvorschriften zu Unrecht erhoben worden sind. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die umstrittene Vorschrift die Möglichkeiten, auf Erstattung zu klagen, die ohne sie bestanden hätten, einschränkt.

Ende der Entscheidung

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