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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.12.1989
Aktenzeichen: 265/88
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15.10.1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 3 c
EWG-Vertrag Art. 56 Abs. 1
Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15.10.1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft Art. 8 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machen, auferlegte Verpflichtung, ihre Anwesenheit den Behörden des betreffenden Staates anzuzeigen, kann für sich allein nicht als Verstoß gegen die Bestimmungen über die Freizuegigkeit angesehen werden. Ein derartiger Verstoß kann sich aber aus den gesetzlichen Formalitäten ergeben, wenn diese so beschaffen sind, daß sie die vom Vertrag gewollte Freizuegigkeit oder das den Angehörigen der Mitgliedstaaten verliehene Recht beschränken, zu den vom Gemeinschaftsrecht zugelassenen Zwecken in das Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die vorgeschriebene Frist, in der die Ankunft von Ausländern anzuzeigen ist, nicht angemessen ist oder wenn die Sanktionen, die an die Nichterfuellung dieser Verpflichtung geknüpft sind, ausser Verhältnis zur Schwere der Tat stehen, etwa weil sie eine Freiheitsstrafe vorsehen.

Daher ist es mit den Gemeinschaftsvorschriften über die Freizuegigkeit unvereinbar, wenn ein Mitgliedstaat unter Strafe vorschreibt, binnen drei Tagen nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eine Aufenthaltsanzeige zu erstatten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 12. DEZEMBER 1989. - STRAFVERFAHREN GEGEN LOTHAR MESSNER. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA DI VOLTERRA - ITALIEN. - FREIER PERSONENVERKEHR - AUFENTHALTSERKLAERUNG. - RECHTSSACHE 265/88.

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura Volterra hat mit Beschluß vom 14. September 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 3 Buchstabe c und 56 Absatz 1 EWG-Vertrag betreffend die Freizuegigkeit zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Lothar Meßner, einen deutschen Staatsangehörigen, dem vorgeworfen wird, nicht binnen drei Tagen nach seiner Einreise in das italienische Hoheitsgebeit die vom italienischen Recht vorgeschriebene Aufenthaltsanzeige erstattet zu haben. Hinsichtlich der Angehörigen der Mitgliedstaaten besteht diese Verpflichtung für Arbeitnehmer und für Erbringer und Empfänger von Dienstleistungen, die beabsichtigen, für eine Dauer von höchstens drei Monaten in Italien zu bleiben. Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 400 000 LIT bestraft.

3 Da das nationale Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht hatte, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Ist es nach Artikel 3 Buchstabe c in Verbindung mit Artikel 56 Absatz 1 EWG-Vertrag rechtmässig, wenn Italien die Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften verpflichtet, binnen drei Tagen nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eine Aufenthaltsanzeige zu erstatten, und für den Fall der Nichterfuellung dieser Verpflichtung eine Strafe androht, selbst wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß keine konkreten Gründe der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit oder Gesundheit für eine solche Verpflichtung wie aus der Feudalzeit ersichtlich sind, die ihrer Natur und ihrem Zweck nach offensichtlich schikanös und von fremdenfeindlicher Tendenz ist?"

4 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

5 Mit der gestellten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob es mit den Gemeinschaftsvorschriften über die Freizuegigkeit vereinbar ist, wenn ein Mitgliedstaat die Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machen, unter Strafe verpflichtet, binnen drei Tagen nach ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet eine Aufenthaltsanzeige zu erstatten.

6 In dem Urteil vom 7. Juli 1976 in der Rechtssache 118/75 ( Watson/Belmann, Slg. 1976, 1185 ), hat der Gerichtshof bereits entschieden, daß das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten dadurch, daß es den Grundsatz der Freizuegigkeit aufstellt und all denen, die in seinen Geltungsbereich fallen, das Recht verleiht, zu einem im Vertrag vorgesehenen Zweck in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen, nicht die Befugnis zum Erlaß von Maßnahmen genommen hat, die ihnen die genaue Kenntnis der Bevölkerungsbewegungen in ihrem Hoheitsgebiet ermöglichen sollen.

7 In dem Urteil wird weiter ausgeführt, daß gemäß Artikel 8 Absatz 2 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise - und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft ( ABl. L 257, S. 13 ) und gemäß Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise - und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs ( ABl. L 172, S. 14 ) die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegen können, ihre Anwesenheit den Behörden des betreffenden Staates anzuzeigen.

8 Der Gerichtshof hat daraus den Schluß gezogen, daß eine solche Verpflichtung für sich allein nicht als Verstoß gegen die Bestimmungen über die Freizuegigkeit angesehen werden könne. Ein derartiger Verstoß könnte sich aber aus den gesetzlichen Formalitäten ergeben, wenn diese so beschaffen seien, daß sie die vom Vertrag gewollte Freizuegigkeit oder das den Angehörigen der Mitgliedstaaten verliehene Recht beschränkten, zu den vom Gemeinschaftsrecht zugelassenen Zwecken in das Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten ( Urteil vom 7. Juli 1976, a. a. O.,Randnr. 18 ).

9 Nach diesem Urteil ist dies insbesondere dann der Fall, wenn die vorgeschriebene Frist, in der die Ankunft von Ausländern anzuzeigen ist, nicht angemessen ist oder wenn die Sanktionen, die an die Nichterfuellung dieser Verpflichtung geknüpft sind, ausser Verhältnis zur Schwere der Tat stehen.

10 Berücksichtigt man, daß die Betroffenen eine gewisse Zeit benötigen, um von der Grenze bis an ihren Bestimmungsort zu reisen und sich dort über die zuständige Behörde und die erforderlichen Verwaltungsformalitäten zu informieren, so ist die in der Vorabentscheidungsfrage erwähnte Dreitagesfrist unangemessen kurz.

11 Eine solche Frist ist für die Wahrung des Interesses, das der Aufnahmestaat an der genauen Kenntnis der Bevölkerungsbewegungen in seinem Hoheitsgebiet hat, nicht unbedingt erforderlich. Denn es ist nicht ersichtlich, daß dieses Interesse im Fall der Gewährung einer längeren Frist beeinträchtigt würde. Dem entspricht es, daß die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, die eine ähnliche Verpflichtung kennen, den Betroffenen deutlich längere Fristen zugestehen.

12 Daraus folgt, daß eine Frist von drei Tagen nicht als angemessen angesehen werden kann.

13 Ist die Frist für die Erstattung der Aufenthaltsanzeige nicht angemessen, so ist keine Sanktion zulässig, also weder Freiheits - noch Geldstrafe, wie sie für einen Verstoß gegen die fragliche Regelung vorgesehen sind.

14 Wie der Gerichtshof in dem Urteil vom 3. Juli 1980 in der Rechtssache 157/79 ( Pieck, Slg. 1980, 2171, Randnr. 19 ) bezueglich der Nichtbeachtung jener Formalitäten, die ein unter dem Schutz des Gemeinschaftsrechts stehender Arbeitnehmer zum Nachweis seines Aufenthaltsrechts zu befolgen hat, bereits entschieden hat, dürfen die innerstaatlichen Stellen für Verstösse gegen solche Vorschriften im übrigen zwar Sanktionen verhängen, die denen entsprechen, die bei geringfügigeren Vergehen von Inländern gelten; unzulässig wäre es aber danach, eine unverhältnismässige Sanktion vorzusehen, die ein Hindernis für die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer schaffen würde. Dies ist insbesondere bei einer Freiheitsstrafe der Fall.

15 Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß es mit den Gemeinschaftsvorschriften über die Freizuegigkeit unvereinbar ist, wenn ein Mitgliedstaat die Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machen, unter Strafe verpflichtet, binnen drei Tagen nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eine Aufenthaltsanzeige zu erstatten.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

auf die ihm von der Pretura Volterra mit Beschluß vom 14. September 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Es ist mit den Gemeinschaftsvorschriften über die Freizuegigkeit unvereinbar, wenn ein Mitgliedstaat die Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machen, unter Strafe verpflichtet, binnen drei Tagen nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eine Aufenthaltsanzeige zu erstatten.

Ende der Entscheidung

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