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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 25.02.1988
Aktenzeichen: 331/85
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat nicht berechtigt ist, Bestimmungen zu erlassen, die die Erstattung von unter Verstoß gegen die Gemeinschaft erhobenen nationalen Abgaben von dem Nachweis abhängig machen, daß diese Abgaben nicht auf die Abnehmer der abgabenpflichtigen Erzeugnisse abgewälzt wurden, und die allein den natürlichen oder juristischen Personen, die die Erstattung beantragen, die Beweislast dafür auferlegen.

Dabei kommt es nicht auf die etwaige Rückwirkung der nationalen Vorschrift, auf die Rechtsnatur der betreffenden Abgabe oder darauf an, ob der Markt ganz oder teilweise durch Wettbewerb, durch Reglementierung oder durch eine monopolistische Struktur gekennzeichnet ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 25. FEBRUAR 1988. - S. A. LES FILS DE JULES BIANCO UND S. A. J. GIRARD FILS GEGEN DIRECTEUR GENERAL DES DOUANES ET DROITS INDIRECTS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VON DER COUR DE CASSATION. - ERSTATTUNG ZU UNRECHT GEZAHLTER BETRAEGE - NACHWEIS DER NICHTABWAELZUNG DER ABGABEN AUF DEN VERKAUFSPREIS DER WAREN. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN 331/85, 376/85 UND 378/85.

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour de cassation der Französischen Republik hat mit drei Urteilen vom 9. Oktober 1985, beim Gerichtshof eingegangen am 8., 27. bzw. 28. November 1985, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung verschiedener Vorschriften des EWG-Vertrages zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, inwieweit eine nationale Rechtsvorschrift über die Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge mit dem EWG-Vertrag vereinbar ist.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen den Firmen "Les Fils de Jules Bianco" und "J. Girard Fils" ( nachstehend : Klägerinnen ) einerseits und dem Directeur général des douanes et droits indirects andererseits wegen Erstattung der durch zwei Dekrete der Französischen Republik ( Dekret 78-903 vom 30. August 1978, JORF vom 1. 9. 1978, S. 3167, und Dekret 78-1043 vom 2. November 1978, JORF vom 3. 11. 1978, S. 3735 ) eingeführten steuerähnlichen Abgaben auf den Verbrauch von Superkraftstoff, Benzin und Heizöl.

3 Die Klägerinnen, die den Ankauf, die Einfuhr und den Verkauf von Erdölerzeugnissen betreiben, entrichteten mehrfach die betreffenden Abgaben an die französischen Steuerbehörden; da sie die erhobenen Abgaben namentlich im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht für rechtwidrig hielten, beantragten sie mit drei getrennten Klagen deren Erstattung.

4 Das Tribunal d' instance Villeurbanne und das Tribunal d' instance Annecy ( hinsichtlich der Firma Bianco ) und das Tribunal d' instance Annecy ( hinsichtlich der Firma Girard ) sowie, auf Berufung der unterlegenen Klägerinnen, die Cour d' appel Lyon und die Cour d' appel Chambéry wiesen die drei Erstattungsklagen der Klägerinnen mit der Begründung als unzulässig ab, der nach Artikel 13 Absatz V der Loi des finances pour 1981 ( Finanzgesetz 1981 ) vom 30. Dezember 1980 ( JORF vom 31. 12. 1980, S. 3099 ) erforderliche Nachweis, daß die betreffenden Abgaben nicht auf die Abnehmer ihrer Erzeugnisse abgewälzt worden seien, sei nicht erbracht worden.

5 Artikel 13 Absatz V des genannten Gesetzes bestimmt :

"Wer indirekte Abgaben, die dem Code général des impôts ( Allgemeine Abgabenordnung ) unterliegen, oder nationale Abgaben und Zölle, die nach den Verfahren des Code des douanes ( Zollordnung ) erhoben werden, ohne Rechtsgrund entrichtet hat, kann - soweit es sich nicht um eine irrtümliche Zahlung handelt - die Erstattung nur verlangen, wenn er nachweist, daß diese Abgaben nicht auf den Abnehmer abgewälzt worden sind.

Diese Bestimmung gilt für Anträge gemäß Artikel 1931 der Allgemeinen Abgabenverordnung und Artikel 352 der Zollordnung, selbst wenn sie vor Inkrafttreten dieses Gesetzes gestellt worden sind."

6 Auf die Kassationsbeschwerde der Klägerinnen in den drei Rechtsstreitigkeiten hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und folgende in den drei Urteilen identische Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Ist der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dahin auszulegen, daß die Französische Republik nicht berechtigt war, die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen nationalen Abgaben von dem Nachweis abhängig zu machen, daß diese Abgaben nicht auf die Abnehmer der abgabenpflichtigen Erzeugnisse abgewälzt wurden, und allein den natürlichen oder juristischen Personen, die die Erstattung beantragen, die Beweislast dafür aufzuerlegen? Kommt es für die Beantwortung dieser Frage auf die etwaige Rückwirkung des Gesetzes vom 30. Dezember 1980, auf die Rechtsnatur der betreffenden Abgabe oder darauf an, ob der Markt ganz oder teilweise durch Wettbewerb, durch Reglementierung oder durch eine monopolistische Struktur gekennzeichnet ist?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des rechtlichen Rahmens der Ausgangsverfahren, des Ablaufs des vorliegenden Verfahrens und der vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zum ersten Teil der Frage

8 Das nationale Gericht möchte wissen, ob der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dahin auszulegen ist, daß die Französische Republik nicht berechtigt war, die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen nationalen Abgaben von dem Nachweis abhängig zu machen, daß diese Abgaben nicht auf die Abnehmer der hiernach abgabenpflichtigen Erzeugnisse abgewälzt wurden, und allein den natürlichen oder juristischen Personen, die die Erstattung beantragen, die Beweislast dafür aufzuerlegen.

9 Die Klägerinnen sind der Ansicht, Artikel 13 Absatz V des genannten Gesetzes stelle dadurch, daß er die Zulässigkeit der Erstattungsklage von dem Nachweis der negativen Tatsache abhängig mache, daß die Abgabe nicht auf den Abnehmer abgewälzt worden sei, eine Voraussetzung auf, deren Erfuellung durch Unternehmen wie sie praktisch unmöglich sei.

10 Die französische Regierung meint, Artikel 13 Absatz V des genannten Gesetzes verlange in Wirklichkeit den Nachweis der positiven Tatsache, daß die Abgabe das Vermögen der Verkäufer von Erdölfertigerzeugnissen definitiv geschmälert habe; diese Vorschrift mache deshalb die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung eingeräumten Rechte weder praktisch unmöglich noch übermässig schwierig.

11 Dem Vorbringen der französischen Regierung ist nicht zu folgen. Die streitige Bestimmung des französischen Rechts erlegt den Wirtschaftsteilnehmern die Beweislast für den Nachweis einer negativen Tatsache auf, da sie gegenüber den blossen Behauptungen der Verwaltung nachweisen müssen, daß die ohne Rechtsgrund entrichtete steuerähnliche Abgabe nicht auf andere Personen abgewälzt worden ist. Daß die betreffende Vorschrift hätte positiv formuliert werden können, ändert an der Verteilung der Beweislast nichts.

12 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82 ( San Giorgio, Slg. 1983, 3595 ) entschieden hat, sind Beweisvorschriften, die es praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren, die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben zu erreichen, nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar; dies gilt insbesondere für Vermutungen oder Beweisregeln, die dem Abgabenpflichtigen die Beweislast dafür auferlegen, daß die ohne Rechtsgrund gezahlten Abgaben nicht auf andere abgewälzt worden sind.

13 Somit ist der erste Teil der Frage dahin zu beantworten, daß ein Mitgliedstaat nicht berechtigt ist, Bestimmungen zu erlassen, die die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen nationalen Abgaben von dem Nachweis abhängig machen, daß diese Abgaben nicht auf die Abnehmer der abgabenpflichtigen Erzeugnisse abgewälzt wurden, und die allein den natürlichen oder juristischen Personen, die die Erstattung beantragen, die Beweislast dafür auferlegen.

Zum zweiten Teil der Frage

14 Das nationale Gericht möchte sodann wissen, ob es für die Beantwortung der Frage auf die etwaige Rückwirkung des Gesetzes vom 30. Dezember 1980, auf die Rechtsnatur der betreffenden Abgabe oder darauf ankommt, ob der Markt ganz oder teilweise durch Wettbewerb, durch Reglementierung oder durch eine monopolistische Struktur gekennzeichnet ist.

15 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Tatsache, daß einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Bestimmung, wie sie Gegenstand der Ausgangsverfahren ist, Rückwirkung verliehen wird, die Unvereinbarkeit verstärkt, insbesondere deshalb, weil eine solche Bestimmung auf zurückliegende Sachverhalte Anwendung findet, hinsichtlich deren die Wirtschaftsteilnehmer nicht voraussehen konnten, daß sie einen derartigen Nachweis würden erbringen müssen.

16 Zur Bedeutung der Rechtsnatur der Abgabe für die Beantwortung der Frage des nationalen Gerichts führt die französische Regierung aus, da es sich um indirekte Steuern handele, sei die Abwälzungsvermutung um so mehr gerechtfertigt, als die Abgaben definitionsgemäß letztlich zu Lasten der Verbraucher gingen, weil sie normalerweise von jedem vernünftig wirtschaftenden Unternehmen über den Preis der verkauften Produkte abgewälzt würden.

17 Dazu ist festzustellen : Auch wenn indirekte Abgaben nach nationalem Recht dazu bestimmt sind, auf den Endverbraucher abgewälzt zu werden, und im Handel gewöhnlich auch ganz oder zum Teil abgewälzt werden, kann nicht generell davon ausgegangen werden, daß die Abgabe tatsächlich in jedem Falle abgewälzt wird. Denn die tatsächliche völlige oder teilweise Abwälzung hängt bei jedem Handelsgeschäft von mehreren Faktoren ab, die es von anderen Fallkonstellationen unterscheiden. Somit ist die Frage der Abwälzung oder Nichtabwälzung einer indirekten Abgabe in jedem Einzelfall eine Tatfrage, die in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt, das in der Beweiswürdigung frei ist. Es kann jedoch nicht angenommen werden, daß im Falle indirekter Abgaben eine Vermutung dafür besteht, daß die Abwälzung vorgenommen wurde, und es dem Abgabenpflichtigen obliegt, im Wege eines negativen Beweises das Gegenteil nachzuweisen. Diese Feststellung greift in keiner Weise der Entscheidung der besonderen Beweislastfrage in dem Fall vor, daß der Steuerpflichtige nach den einschlägigen Rechtsvorschriften selbst gehalten ist, eine Steuer abzuwälzen.

18 Zu der Frage, inwieweit es die Beantwortung der Vorlagefrage beeinflusst, ob der Markt ganz oder teilweise durch Wettbewerb, durch Reglementierung oder durch eine monopolistische Struktur gekennzeichnet ist, meint die Regierung des Vereinigten Königreichs, daß die in dem Urteil San Giorgio festgestellte Unvereinbarkeit nur in einer auf die Freiheit des Wettbewerbs gegründeten Marktwirtschaft bestehe; dagegen hätten die Unternehmen in einer Wirtschaft mit reglementierten Preisen praktisch keine Möglichkeit, die Abgabe auf die Abnehmer abzuwälzen, und könnten den von der streitigen Bestimmung verlangten Nachweis ohne weiteres erbringen.

19 Dazu ist zunächst zu bemerken, daß sich der Gerichtshof in der genannten Rechtssache 199/82 ( San Giorgio ) zu Fragen geäussert hat, die sich in einer freien Marktwirtschaft stellen können, ohne jedoch die Anwendung des aufgestellten Grundsatzes auf andere Marktformen auszuschließen.

20 Sodann ist festzustellen, daß es je nach der Marktstruktur mehr oder weniger wahrscheinlich ist, daß eine Abwälzung vorgenommen wird. Jedoch ändern sich die zahlreichen Faktoren, die die kaufmännische Strategie bestimmen, von Fall zu Fall, so daß es praktisch unmöglich ist, ihren jeweiligen tatsächlichen Einfluß auf die Abwälzung zu bestimmen.

21 Hieraus ergibt sich, daß es für die Beantwortung der Frage nicht auf die etwaige Rückwirkung der nationalen Vorschrift, auf die Rechtsnatur der betreffenden Abgabe oder darauf ankommt, ob der Markt ganz oder teilweise durch Wettbewerb, durch Reglementierung oder durch eine monopolistische Struktur gekennzeichnet ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der Regierung der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs und der Italienischen Republik sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Cour de cassation der Französischen Republik mit drei Urteilen vom 9. Januar 1985 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

1 ) Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat nicht berechtigt ist, Bestimmungen zu erlassen, die die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen nationalen Abgaben von dem Nachweis abhängig machen, daß diese Abgaben nicht auf die Abnehmer der abgabenpflichtigen Erzeugnisse abgewälzt wurden, und die allein den natürlichen oder juristischen Personen, die die Erstattung beantragen, die Beweislast dafür auferlegen.

2. Für die Beantwortung der Frage kommt es nicht auf die etwaige Rückwirkung der nationalen Vorschrift, auf die Rechtsnatur der betreffenden Abgabe oder darauf an, ob der Markt ganz oder teilweise durch Wettbewerb, durch Reglementierung oder durch eine monopolistische Struktur gekennzeichnet ist.

Ende der Entscheidung

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