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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 18.10.1989
Aktenzeichen: 374/87
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine Entscheidung ist ordnungsgemäß bekanntgegeben, wenn sie demjenigen, für den sie bestimmt ist, übermittelt und dieser in die Lage versetzt worden ist, von ihr Kenntnis zu nehmen.

Daher kann eine Gesellschaft, der eine Entscheidung mit der Aufforderung zur Auskunftserteilung nach Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 bekanntgegeben worden ist, nicht die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung unter Berufung darauf geltend machen, daß das in Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 vorgesehene vorherige Auskunftsverlangen an ihre Tochtergesellschaft gerichtet worden sei, sofern sie von dem vorherigen Auskunftsverlangen uneingeschränkt Kenntnis erhalten hat. Diese Kenntnis wird dadurch bestätigt, daß die beiden Gesellschaften, die ihren Sitz unter ein und derselben Adresse haben, während der gesamten Dauer des von der Kommission durchgeführten Verfahrens auf Anfragen, die die Kommission bald an das eine, bald an das andere Unternehmen gerichtet hat, geantwortet haben, ohne jemals die Problematik zur Sprache zu bringen, die sich aus dem Bestehen zweier verschiedener juristischer Personen ergibt.

2. Die Artikel 11 und 14 der Verordnung Nr. 17 regeln zwei Verfahren, von denen jedes für sich selbständig ist. Der Umstand, daß schon eine Nachprüfung gemäß Artikel 14 stattgefunden hat, vermag in keiner Weise die Untersuchungsbefugnisse zu schmälern, die die Kommission nach Artikel 11 hat. Keine aus der Verordnung Nr. 17 abzuleitende Erwägung verfahrensmässiger Art hindert somit die Kommission daran, im Rahmen eines Auskunftsverlangens Unterlagen anzufordern, von denen sie sich bei einer früheren Nachprüfung weder eine Abschrift noch einen Auszug hat anfertigen können.

Es ist Sache der Kommission, zu beurteilen, ob eine Auskunft erforderlich ist, um ermitteln zu können, ob eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln vorliegt. Selbst wenn ihr hierfür bereits Indizien oder gar Beweise vorliegen, kann die Kommission es rechtmässigerweise für erforderlich halten, zusätzliche Auskünfte einzuholen, die es ihr ermöglichen, das Ausmaß der Zuwiderhandlung, ihre Dauer oder den Kreis der daran beteiligten Unternehmen genauer zu bestimmen.

3. Die Wahrung der Rechte der Verteidigung als Grundsatz von fundamentalem Charakter muß nicht nur in Verwaltungsverfahren, die zu Sanktionen führen können, gewährleistet sein, sondern auch im Rahmen von Voruntersuchungsverfahren - z. B. bei Auskunftsverlangen nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 -, die von entscheidender Bedeutung für die Erbringung von Beweisen für rechtswidrige Verhaltensweisen von Unternehmen sein können, die geeignet sind, deren Haftung auszulösen.

Daher ist die Kommission zwar im Rahmen eines Auskunftsverlangens nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 berechtigt, ein Unternehmen zu verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen. Jedoch darf die Kommission durch eine Entscheidung, mit der Auskünfte angefordert werden, nicht die Verteidigungsrechte des Unternehmens beeinträchtigen.

Obwohl sich in bezug auf Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art, insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts, weder aufgrund eines dem Recht der Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsatzes noch aufgrund der durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gewährleisteten Rechte für Unternehmen ein Recht zur Verweigerung der Zeugenaussage gegen sich selbst geltend machen lässt, darf die Kommission daher einem Unternehmen nicht die Verpflichtung auferlegen, Antworten zu erteilen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 18. OKTOBER 1989. - ORKEM SA, VORMALS CDF CHIMIE SA GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - WETTBEWERB - UNTERSUCHUNGSBEFUGNISSE DER KOMMISSION - VERTEIDIGUNGSRECHTE. - RECHTSSACHE 374/87.

Entscheidungsgründe:

1 Die CdF Chimie SA, nunmehr Orkem SA, hat mit Klageschrift, die am 16. Dezember 1987 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Aufhebung der Entscheidung IV/31.866 der Kommission vom 9. November 1987 betreffend ein Verfahren gemäß Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962 ( Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. Nr. 13, S. 204 ).

2 Diese Entscheidung ist im Rahmen einer Untersuchung wegen gegen Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verstossenden Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen im Thermoplastsektor ergangen. Mit der streitigen Entscheidung verpflichtete die Kommission, nachdem sie zuvor Nachprüfungen gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 vorgenommen und erfolglos gemäß Artikel 11 Absatz 1 dieser Verordnung Auskünfte verlangt hatte, die Klägerin zur Beantwortung der in dem Auskunftsverlangen gestellten Fragen.

3 Die Klägerin bringt mehrere Klagegründe vor, mit denen sie rügt,

- daß nicht vorab ein Auskunftsverlangen an sie gerichtet worden sei,

- daß es sich bei der Entscheidung in Wirklichkeit um eine Mitteilung der Beschwerdepunkte handele,

- daß die Kommission von ihrer Befugnis, Auskünfte anzufordern, in rechtswidriger Weise Gebrauch gemacht habe,

- daß die Rechte der Verteidigung verletzt worden seien, weil die Kommission die Klägerin zur Zeugenaussage gegen sich selbst gezwungen habe.

4 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zum Fehlen eines vorherigen Auskunftsverlangens

5 Die Klägerin wirft der Kommission vor, daß sie die streitige Entscheidung an sie gerichtet habe, während sie das Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1, das einem Verlangen durch Entscheidung vorausgehen müsse, an ihr Tochterunternehmen CdF Chimie EP gesandt habe, bei dem auch die Nachprüfung vorgenommen worden sei.

6 Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß eine Entscheidung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ordnungsgemäß bekanntgegeben ist, wenn sie demjenigen, für den sie bestimmt ist, übermittelt und dieser in die Lage versetzt worden ist, von ihr Kenntnis zu nehmen ( Urteile vom 14. Juli 1972 in der Rechtssache 48/69, ICI, Slg. 1972, 619, und vom 21. Februar 1973 in der Rechtssache 6/72, Continental Can, Slg. 1973, 215 ). Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob es aufgrund des Gedankens der Unternehmenseinheit als ordnungsgemäß angesehen werden kann, wenn das Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1 an die Tochtergesellschaft und die Entscheidung nach Artikel 11 Absatz 5 an die Muttergesellschaft gerichtet wird, denn es genügt die Feststellung, daß die angefochtene Entscheidung der Klägerin bekanntgegeben worden ist und daß diese tatsächlich uneingeschränkt Kenntnis von dem vorherigen Auskunftsverlangen erhalten hat. Während der gesamten Dauer des von der Kommission durchgeführten Verfahrens haben sowohl die Klägerin als auch ihre Tochtergesellschaft, die ihren Sitz unter ein und derselben Adresse haben, auf Anfragen, die die Kommission bald an das eine, bald an das andere Unternehmen gerichtet hat, geantwortet, ohne jemals die Problematik zur Sprache zu bringen, die sich aus dem Bestehen zweier verschiedener juristischer Personen ergibt. Diese Vermengung von Muttergesellschaft und Tochtergesellschaft wurde bis ins schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof hinein aufrechterhalten, da das erste Unternehmen auf eine Frage geantwortet hat, die der Gerichtshof an das zweite gerichtet hatte.

7 Der zur Begründung des Aufhebungsantrags vorgebrachte Klagegrund, mit dem das Fehlen eines vorherigen Auskunftsverlangens gerügt wird, ist daher zurückzuweisen.

Zu der Frage, ob es sich bei der streitigen Entscheidung um eine "Mitteilung der Beschwerdepunkte" handelt

8 Die Klägerin macht geltend, daß es sich bei der angefochtenen Entscheidung, die konkrete Vorwürfe hinsichtlich ihrer Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EWG-Vertrag enthalte, in Wirklichkeit um eine Mitteilung der Beschwerdepunkte handele, ohne daß ihr Gelegenheit zur Äusserung gegeben worden sei.

9 Im Hinblick auf die Beurteilung der Begründetheit dieser Rüge ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission nach Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 in ihrem Auskunftsverlangen die Rechtsgrundlage, auf die sie sich stützt, sowie den damit verfolgten Zweck anzugeben hat.

10 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 26. Juni 1980 in der Rechtssache 136/79 ( National Panasonic, Slg. 1980, 2033 ) in bezug auf die die Nachprüfungsanordnungen betreffende analoge Vorschrift des Artikels 14 Absatz 3 anerkannt hat, genügt eine Entscheidung den Anforderungen der Verordnung Nr. 17 an die Begründung, wenn in ihr angegeben ist, daß mit ihr die Umstände nachgeprüft werden sollen, aus denen sich das Vorliegen eines vertragswidrigen Verhaltens ergeben könnte.

11 Wenn die Kommission zur Begründung ihres Auskunftsverlangens von dem Verdacht gesprochen hat, daß gegen Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verstossende Vereinbarungen vorliegen könnten, so ist sie damit nur ihrer Verpflichtung aus Artikel 11 Absatz 3 nachgekommen, den Zweck ihres Verlangens anzugeben.

12 Der Klagegrund, mit dem geltend gemacht wird, daß die streitige Entscheidung eine Mitteilung der Beschwerdepunkte sei, ist somit zurückzuweisen.

Zu der Frage, ob von der Befugnis, Auskünfte zu verlangen, in rechtswidriger Weise Gebrauch gemacht worden ist

13 Die Klägerin rügt, daß die Kommission von ihren Befugnissen aus Artikel 11 in rechtswidriger Weise Gebrauch gemacht habe, indem sie sich - was nur nach Artikel 14 zulässig sei - Unterlagen zu verschaffen versucht, nicht notwendige Auskünfte verlangt und so gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstossen habe.

14 Zum Recht der Kommission, im Rahmen eines Auskunftsverlangens Unterlagen anzufordern, ist festzustellen, daß die Artikel 11 und 14 der Verordnung Nr. 17 zwei Verfahren regeln, von denen jedes für sich selbständig ist. Der Umstand, daß schon eine Nachprüfung gemäß Artikel 14 stattgefunden hat, vermag in keiner Weise die Untersuchungsbefugnisse zu schmälern, die die Kommission nach Artikel 11 hat. Keine aus der Verordnung Nr. 17 abzuleitende Erwägung verfahrensmässiger Art hindert somit die Kommission daran, im Rahmen eines Auskunftsverlangens Unterlagen anzufordern, von denen sie sich bei einer früheren Nachprüfung weder eine Abschrift noch einen Auszug hat anfertigen können.

15 Zur Notwendigkeit der verlangten Auskünfte ist festzustellen, daß die Verordnung Nr. 17 der Kommission weitgehende Nachprüfungs - und Ermittlungsbefugnisse einräumt; in ihrer achten Begründungserwägung heisst es, die Kommission müsse im gesamten Bereich des Gemeinsamen Marktes über die Befugnis verfügen, Auskünfte zu verlangen und Nachprüfungen vorzunehmen, die erforderlich sind, um Zuwiderhandlungen gegen die Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag zu ermitteln. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 18. Mai 1982 in der Rechtssache 155/79 ( AM & S, Slg. 1982, 1575 ) im Zusammenhang mit einer Nachprüfungsanordnung nach Artikel 14 anerkannt hat, ist es Sache der Kommission, zu beurteilen, ob eine Auskunft erforderlich ist, um ermitteln zu können, ob eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln vorliegt. Selbst wenn ihr hierfür bereits Indizien oder gar Beweise vorliegen, kann die Kommission es rechtmässigerweise für erforderlich halten, zusätzliche Auskünfte einzuholen, die es ihr ermöglichen, das Ausmaß der Zuwiderhandlung, ihre Dauer oder den Kreis der daran beteiligten Unternehmen genauer zu bestimmen.

16 Im vorliegenden Fall deutet nichts darauf hin, daß die verlangten Auskünfte diese Grenzen überschreiten und über das hinausgehen, was angesichts des Zwecks der Untersuchung als erforderlich angesehen werden durfte.

17 Die Klagegründe, mit denen gerügt wird, daß die Kommission von ihren Befugnissen aus Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 in rechtswidriger Weise Gebrauch gemacht habe, sind somit ebenfalls zurückzuweisen.

Zur Verletzung der Rechte der Verteidigung

18 Die Klägerin macht im wesentlichen geltend, die Kommission habe sie mit der angefochtenen Entscheidung dazu gezwungen, sich durch das Eingeständnis der Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln selbst zu beschuldigen und andere Unternehmen zu belasten. Die Kommission habe dadurch gegen den allgemeinen Grundsatz verstossen, daß niemand gegen sich selbst als Zeuge aussagen müsse. Dieser Grundsatz sei in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 ( UN Treaty Series, Bd. 999, S. 171; im folgenden : Internationaler Pakt ) anerkannt und aufgrund dessen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Die Kommission habe damit die Rechte der Verteidigung verletzt.

19 Im Hinblick auf die Frage der Begründetheit dieser Rüge ist - wie bereits im Urteil des Gerichtshofes vom 26. Juni 1980 ( a. a. O.) ausgeführt - darauf hinzuweisen, daß die der Kommission in Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 übertragenen Befugnisse ihr die Erfuellung des ihr im EWG-Vertrag erteilten Auftrags ermöglichen sollen, über die Beachtung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu wachen. Nach Absatz 4 der Präambel des EWG-Vertrags, nach Artikel 3 Buchstabe f und nach den Artikeln 85 und 86 sollen diese Regeln verhindern, daß der Wettbewerb entgegen dem öffentlichen Interesse zum Schaden der einzelnen Unternehmen und der Verbraucher verfälscht wird. Die Ausübung der der Kommission in der Verordnung Nr. 17 übertragenen Befugnisse dient daher der Aufrechterhaltung der vom Vertrag gewollten Wettbewerbsordnung, die die Unternehmen unbedingt zu beachten haben.

20 Die zur Durchführung der Artikel 85 und 86 erforderliche Regelung, die der Rat erlassen hat, sieht somit zwei aufeinanderfolgende, jedoch klar voneinander getrennte Verfahren vor, nämlich erstens ein Voruntersuchungsverfahren und zweitens ein streitiges Verfahren, das durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte eingeleitet wird.

21 Der Zweck des Voruntersuchungsverfahrens besteht ausschließlich darin, es der Kommission zu ermöglichen, die Auskünfte einzuholen und sich die Unterlagen zu beschaffen, die erforderlich sind, um das Vorliegen und die Bedeutung einer bestimmten Sach - und Rechtslage prüfen zu können ( Urteil vom 26. Juni 1980, a. a. O.).

22 Zu diesem Zweck hat die Verordnung Nr. 17 der Kommission weitgehende Untersuchungsbefugnisse verliehen und die Unternehmen dazu verpflichtet, an den Untersuchungsmaßnahmen mitzuwirken.

23 Nach Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 kann die Kommission von den Unternehmen alle erforderlichen Auskünfte einholen, während sie nach Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung diese Auskünfte durch Entscheidung anfordern kann, wenn das Unternehmen sie nicht oder nicht vollständig erteilt.

24 Falls die so zusammengetragenen Beurteilungsgrundlagen es ihrer Ansicht nach rechtfertigen, richtet die Kommission eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an das betroffene Unternehmen und eröffnet so das streitige Verfahren, für das die Verordnung Nr. 99/63 der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates ( ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268 ) gilt.

25 Im Rahmen dieses streitigen Verfahrens sehen Artikel 19 der Verordnung Nr. 17 und die Verordnung Nr. 99/63 unter anderem vor, daß das betroffene Unternehmen berechtigt ist, sich schriftlich und gegebenenfalls mündlich zu den von der Kommission in Betracht gezogenen Beschwerdepunkten zu äussern ( siehe auch die Urteile vom 13. Februar 1979 in der Rechtssache 85/76, Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461 und vom 7. Juni 1983 in den verbundenen Rechtssachen 100 bis 103/80, Musique Diffusion u. a., Slg. 1983, 1825 ). Die Kommission darf in der Entscheidung, die sie zum Abschluß des Verfahrens eventuell trifft, nur die Beschwerdepunkte berücksichtigen, zu denen sich das Unternehmen hat äussern können.

26 Im Voruntersuchungsverfahren erkennt die Verordnung Nr. 17 dem betroffenen Unternehmen nur bestimmte besondere Garantien ausdrücklich zu. So darf eine Entscheidung zur Anforderung von Auskünften erst dann erlassen werden, wenn ihr ein erfolgloses Auskunftsverlangen vorausgegangen ist. Desgleichen kann, wenn das betroffene Unternehmen die mit der Entscheidung angeforderten Auskünfte nicht erteilt, eine Entscheidung zur Festsetzung der endgültigen Höhe einer Geldbusse oder eines Zwangsgelds erst erlassen werden, nachdem das Unternehmen Gelegenheit zur Äusserung erhalten hat.

27 Die Verordnung Nr. 17 erkennt dagegen einem Unternehmen, gegen das eine Untersuchungsmaßnahme getroffen wird, nicht das Recht zu, sich dem Vollzug dieser Maßnahme mit der Begründung zu entziehen, daß ihr Ergebnis den Beweis für eine von ihm begangene Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln erbringen könnte. Sie erlegt ihm im Gegenteil eine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung auf, aufgrund deren es alle den Gegenstand der Untersuchung betreffenden Informationsquellen für die Kommission bereithalten muß.

28 Da die Verordnung Nr. 17 nicht ausdrücklich ein Recht zur Aussageverweigerung anerkennt, ist zu prüfen, ob und inwieweit gemäß der Auffassung der Klägerin die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, zu denen die Grundrechte gehören und die bei der Auslegung aller gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten sind, die Anerkennung eines Rechts gebieten, keine Informationen zu erteilen, die zum Beweis dafür verwendet werden könnten, daß derjenige, der sie erteilen soll, gegen die Wettbewerbsregeln verstossen hat.

29 Allgemein erkennen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ein Recht zur Verweigerung der Zeugenaussage gegen sich selbst nur natürlichen Personen zu, die im Rahmen eines Strafverfahrens einer Straftat beschuldigt werden. Die vergleichende Untersuchung der nationalen Rechtsordnungen rechtfertigt somit nicht den Schluß, daß ein solcher dem Recht der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz zugunsten juristischer Personen und in bezug auf Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art, insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts, bestuende.

30 Was Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention angeht, so ist zwar einzuräumen, daß sich ein Unternehmen, gegen das eine Untersuchung auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts durchgeführt wird, auf diese Vorschrift berufen kann. Jedoch ergibt sich weder aus deren Wortlaut noch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, daß damit ein Recht anerkannt wird, nicht gegen sich selbst als Zeuge aussagen zu müssen.

31 Artikel 14 des Internationalen Pakts, der die Unschuldsvermutung begründet und darüber hinaus in seinem Absatz 3 Buchstabe g das Recht anerkennt, nicht gezwungen zu werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, betrifft nur Personen, die in einem gerichtlichen Strafverfahren wegen einer strafbaren Handlung angeklagt sind, und bezieht sich somit nicht auf Untersuchungen in Wettbewerbssachen.

32 Jedoch ist zu prüfen, ob sich nicht aus dem Erfordernis der Wahrung der Rechte der Verteidigung, die der Gerichtshof als fundamentalen Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung angesehen hat ( Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 322/82, Michelin, Slg. 1983, 3461, Randnr. 7 ), Beschränkungen der Untersuchungsbefugnisse der Kommission während der Voruntersuchung ergeben.

33 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof unlängst in seinem Urteil vom 21. September 1989 in der Rechtssache 46/87 und 227/88 ( Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, Randnr. 15 ) ausgeführt, daß der Anspruch auf rechtliches Gehör in Verwaltungsverfahren, die zu Sanktionen führen können, beachtet werden muß, daß aber auch verhindert werden muß, daß dieser Anspruch in nicht wiedergutzumachender Weise in Voruntersuchungsverfahren beeinträchtigt wird; diese können von entscheidender Bedeutung für die Erbringung von Beweisen für rechtswidrige Verhaltensweisen von Unternehmen sein, die geeignet sind, deren Haftung auszulösen. Wenngleich sich somit bestimmte Verteidigungsrechte nur auf streitige Verfahren im Anschluß an eine Mitteilung der Beschwerdepunkte beziehen, so sind doch andere schon im Stadium der Voruntersuchung zu beachten.

34 Daher ist die Kommission zwar um der Erhaltung der praktischen Wirksamkeit des Artikels 11 Absätze 2 und 5 der Verordnung Nr. 17 willen berechtigt, das Unternehmen zu verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen. Jedoch darf die Kommission durch eine Entscheidung, mit der Auskünfte angefordert werden, nicht die Verteidigungsrechte des Unternehmens beeinträchtigen.

35 Daher darf die Kommission dem Unternehmen nicht die Verpflichtung auferlegen, Antworten zu erteilen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat.

36 Anhand dieser Kriterien sind die Fragen zu prüfen, zu deren Beantwortung die Kommission die Klägerin mit der streitigen Entscheidung verpflichtet hat.

37 Die Fragen zu den Zusammenkünften der Hersteller unter I, die nur auf die Erlangung von Informationen über die Abhaltung dieser Zusammenkünfte und über die Stellung der Teilnehmer sowie auf die Übermittlung sich darauf beziehender Schriftstücke abzielten, die sich im Besitz der Klägerin befinden, sind nicht zu beanstanden.

38 Die Fragen zu den Preisen unter II betreffen im wesentlichen die Initiativen, die zur Festlegung und Aufrechterhaltung von für alle Teilnehmer der Zusammenkünfte befriedigenden Preisniveaus ergriffen worden sind. Soweit die Kommission mit diesen Fragen tatsächliche Angaben über Gegenstand und Modalitäten dieser Initiativen zu erlangen sucht, sind sie nicht zu beanstanden. Anders verhält es sich dagegen mit den Fragen nach dem Zweck der unternommenen Schritte und nach dem mit diesen Initiativen verfolgten Ziel. Insofern ergibt sich aus der Teilfrage 1 Buchstabe c, mit der Angaben angefordert werden über "alle abgestimmten Vorstösse oder Maßnahmen, die möglicherweise zur Unterstüzung dieser Initiativen auf dem Gebiet der Preise ins Auge gefasst oder beschlossen worden sind", für die Klägerin der Zwang, ihre Beteiligung an einer Vereinbarung zur Festlegung von Verkaufspreisen einzugestehen, die den Wettbewerb verhindern oder beschränken könnte, oder aber zu erklären, daß dies ihr Ziel gewesen sei.

39 Dasselbe gilt für die Fragen unter III. 1 und 2, die die Verkaufsquoten und -ziele sowie deren Aufteilung auf die Hersteller betreffen. Mit der Aufforderung zur Mitteilung der "Einzelheiten jedes Systems oder jeder Methode, wonach den Teilnehmern Verkaufsziele oder -quoten zugeteilt werden konnten", und zur Beschreibung "alle((r )) Methoden, nach denen jährlich die Einhaltung jedes Systems von mengenmässig festgelegten Zielen oder von Quoten kontrolliert werden konnte", hat die Kommission versucht, die Klägerin zum Eingeständnis ihrer Beteiligung an einer Vereinbarung zu veranlassen, durch die die Produktions - oder Absatzmengen beschränkt oder kontrolliert oder die Märkte aufgeteilt werden sollten.

40 Ein solcher Vorwurf lässt sich dagegen weder hinsichtlich der Frage unter III. 3 erheben, die sich auf Mitteilungen des Unternehmens an andere Hersteller über die Produktion und den Verkauf des fraglichen Erzeugnisses bezieht, noch hinsichtlich der Fragen unter IV nach den Erklärungen und statistischen Angaben, die der Firma Fides übermittelt wurden. Mit diesen Fragen wollte die Kommission nämlich nur tatächliche Informationen über das Funktionieren des Systems des Austauschs von Informationen und statistischen Angaben erlangen.

41 Somit ist festzustellen, daß die Kommission dadurch die Verteidigungsrechte der Klägerin beeinträchtigt hat, daß sie dem Unternehmen, an das die Entscheidung gerichtet war, mit den Fragen unter II. 1 Buchstabe c und unter III. 1 und 2 des Auskunftsverlangens den Zwang auferlegt hat, eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EWG-Vertrag einzugestehen.

42 Die streitige Entscheidung ist daher in bezug auf die Fragen unter II. 1 Buchstabe c und unter III. 1 und 2 aufzuheben; im übrigen ist die Klage abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

43 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 69 § 3 Absatz 1 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof die Kosten jedoch ganz oder teilweise gegeneinander aufheben, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da dies bei allen Beteiligten der Fall ist, sind die Kosten gegeneinander aufzuheben.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Entscheidung IV/31.866 der Kommission vom 9. November 1987 betreffend ein Verfahren gemäß Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962 ( Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages ) wird in bezug auf die Fragen unter II. 1 Buchstabe c und unter III. 1 und 2 aufgehoben.

2 ) Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

3 ) Alle Beteiligten tragen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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