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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 03.10.1990
Aktenzeichen: 54/88
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 5
EWG-Vertrag Art. 52
EWG-Vertrag Art. 57
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Bestimmungen des EWG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit gelten nicht für Sachverhalte, die sich ausschließlich innerhalb eines Mitgliedstaats abspielen, wie etwa die Fälle von Angehörigen eines Mitgliedstaats, die in dessen Gebiet eine selbständige Berufstätigkeit ausüben, bei der sie sich auf keine frühere Ausbildung oder Praxis in einem anderen Mitgliedstaat berufen können.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 3. OKTOBER 1990. - STRAFVERFAHREN GEGEN NINO ELEONORA UND ANDERE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA DI CONEGLIANO, PRETURA DI PRATO UND PRETURA DI PISA - ITALIEN. - NIEDERLASSUNGSFREIHEIT: AUSUEBUNG VON ARZTAEHNLICHEN BERUFEN (BIOTHERAPIE UND PRANOTHERAPIE). - VERBUNDENE RECHTSSACHEN 54/88, 91/88 UND C-14/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura Conegliano, die Pretura Prato und die Pretura Pisa haben mit Beschlüssen vom 8. Februar 1988 ( Rechtssache C-54/88, Nino ), vom 9. März 1988 ( Rechtssache C-91/88, Prandini und Goti ) und vom 6. Dezember 1988 ( Rechtssache C-14/89, Pierini ), die bei der Kanzlei des Gerichtshofes am 19. Februar 1988, am 16. März 1988 und am 19. Januar 1989 eingegangen sind, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag jeweils drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 5, 52 und 57 EWG-Vertrag sowie des Allgemeinen Programms zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit vom 18. Dezember 1961 ( ABl. 1962, S. 36 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob ein italienisches Gesetz, das die unbefugte Ausübung des Arztberufs verbietet, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.

2 Diese Fragen stellen sich in drei Strafverfahren gegen Eleonora Nino, Rinaldo Prandini, Bruna Goti und Pier Cesare Pierini, alle italienische Staatsangehörige und Mitglieder der Associazione italiana flussoterapeuti e pranoterapeuti ( italienischer Verband der Biönergetiker und Pranotherapeuten ), die ohne Zulassung zum Arztberuf in Italien biotherapeutische und pranotherapeutische Behandlungen vornahmen.

3 Nach Artikel 348 des italienischen Strafgesetzbuches macht sich strafbar, wer einen Beruf ohne staatliche Zulassung ausübt, wenn eine solche Zulassung erforderlich ist. Aus den Akten ergibt sich, daß die Biotherapie und die Pranotherapie in Italien zu den Tätigkeiten gezählt werden, die zur Ausübung des Arztberufs gehören und als solche die Erteilung einer besonderen Zulassung erfordern.

4 Am 24. Juni 1986 wurde Eleonora Nino wegen einer Straftat nach Artikel 348 des italienischen Strafgesetzbuches angezeigt, weil sie durch die Vornahme biotherapeutischer und pranotherapeutischer Behandlungen den Arztberuf unbefugt ausgeuebt haben soll. Gegen Rinaldo Prandini, Bruna Goti und Pier Cesare Pierini wurde am 3. Juni 1986 wegen der gleichen Straftat Anzeige erstattet.

5 Von den Preturen vorgeladen, machten die Angeklagten geltend, die Strafvorschrift, gegen die sie angeblich verstossen hätten, verletze die Niederlassungsfreiheit. Die Preturen haben daher die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"1 ) Enthält Artikel 52 EWG-Vertrag, in Verbindung mit Artikel 57 ausgelegt und mit Rücksicht darauf, daß er in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung hat, für die Mitgliedstaaten und damit auch für die italienische Regierung die Verpflichtung, die normativen Maßnahmen zu erlassen, die die unabdingbare Voraussetzung für den Erlaß der im Vertrag vorgesehenen Richtlinien auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit sind, und hat die italienische Regierung, weil sie dies nicht erfuellt hat, gegen ihre Verpflichtung aus Artikel 5 EWG-Vertrag verstossen?

2 ) Kann ein Mitgliedstaat, der die arztähnlichen Berufe wie die Biotherapie in keiner Weise geregelt hat, gegen einen Bürger der Gemeinschaft, der möglicherweise zur Ausübung des Berufs des Biotherapeuten in anderen Mitgliedstaaten befugt ist, eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Tat ( Behandlung mit biotherapeutischen Methoden ) verhängen, die im Gesetz als Straftatbestand vorgesehen ist, wenn diese Tätigkeit nur deshalb nicht erlaubt ist, weil der Mitgliedstaat sie weder geregelt noch vorgesehen hat?

3 ) Kann der Rat bei Fehlen der Richtlinien, deren Erlaß durch den Rat in Artikel 57 EWG-Vertrag vorgesehen ist, aufgrund des Abschnitts V des Allgemeinen Programms zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit Maßnahmen erlassen, durch die die Voraussetzungen für die Ausübung der arztähnlichen Berufe, die Gegenstand des vorliegenden Auslegungsersuchens sind, koordiniert werden sollen, um dem Mangel der Richtlinien abzuhelfen?"

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts der Ausgangsverfahren, der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Vorschriften, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sowohl die Richtlinie 75/362/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr ( ABl. L 167, S. 1 ) als auch die Richtlinie 75/363/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 zur Koordinierung der Rechts - und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes ( ABl. L 167, S. 14 ) nur Vorschriften enthalten, die den Arztberuf betreffen. Es gibt keine gemeinschaftsrechtliche Regelung für die Ausübung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden arztähnlichen Tätigkeiten.

8 Die Angeklagten machen geltend, die nationale Strafvorschrift, gegen die sie angeblich verstossen hätten, verletze die Niederlassungsfreiheit. Die tatsächliche Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit gemäß Artikel 52 EWG-Vertrag könne einer dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden Person nicht allein deshalb verwehrt werden, weil für einen bestimmten Beruf die in Artikel 57 EWG-Vertrag vorgesehenen Richtlinien noch nicht erlassen worden seien. Die gegen sie eingeleiteten Strafverfahren verstießen deshalb und im Hinblick darauf, daß sie ihren Beruf in einigen anderen Mitgliedstaaten ausüben dürften, ohne eine Zulassung zum Arztberuf zu besitzen, gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit.

9 Die italienische Regierung hält dem, unterstützt von der Kommission, entgegen, die vorliegenden Ausgangsverfahren ließen kein Merkmal erkennen, das sie mit dem Gemeinschaftsrecht verknüpfe, so daß sich keine gemeinschaftsrechtliche Frage stelle. Hilfsweise trägt die italienische Regierung, insoweit von der belgischen Regierung unterstützt, vor, Artikel 52 verpflichte in Verbindung mit Artikel 57 EWG-Vertrag die Mitgliedstaaten keinesfalls, die Ausübung jeder beruflichen Tätigkeit zu regeln.

10 Ausweislich der Akten handelt es sich bei allen Angeklagten um italienische Staatsangehörige, die in Italien wohnen, ihre Qualifikationen als Biotherapeuten und Pranotherapeuten in Italien erwarben und nach Artikel 348 des italienischen Strafgesetzbuches aufgrund von Behandlungen belangt wurden, die ausschließlich im Gebiet dieses Mitgliedstaats durchgeführt wurden. All dies zeigt, daß die Ausgangsverfahren Sachverhalte betreffen, die sich ausschließlich innerhalb eines Mitgliedstaats abspielen.

11 Liegen aber, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 20. April 1988 in der Rechtssache 204/87 ( Bekärt, Slg. 1988, 2029 ) entschieden hat, in einem bestimmten Fall keinerlei über den rein innerstaatlichen Rahmen hinausweisende Gesichtspunkte vor, so führt dies im Bereich der Niederlassungsfreiheit zur Unanwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf den betreffenden Fall.

12 Auf die von den Preturen Conegliano, Prato und Pisa vorgelegten Fragen ist daher zu antworten, daß die Bestimmungen des EWG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht für Sachverhalte gelten, die sich ausschließlich innerhalb eines Mitgliedstaats abspielen, wie etwa die Fälle von Angehörigen eines Mitgliedstaats, die in dessen Gebiet eine selbständige Berufstätigkeit ausüben, bei der sie sich auf keine frühere Ausbildung oder Praxis in einem anderen Mitgliedstaat berufen können.

Kostenentscheidung:

Kosten

13 Die Auslagen der italienischen Regierung, der belgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

auf die ihm von den Preturen Conegliano, Prato und Pisa mit Beschlüssen vom 8. Februar, 9. März und 6. Dezember 1988 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

Die Bestimmungen des EWG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit gelten nicht für Sachverhalte, die sich ausschließlich innerhalb eines Mitgliedstaats abspielen, wie etwa die Fälle von Angehörigen eines Mitgliedstaats, die in dessen Gebiet eine selbständige Berufstätigkeit ausüben, bei der sie sich auf keine frühere Ausbildung oder Praxis in einem anderen Mitgliedstaat berufen können.

Ende der Entscheidung

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