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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 29.06.1988
Aktenzeichen: 58/87
Rechtsgebiete: EWGV 1408/71, RVO, AVG


Vorschriften:

EWGV 1408/71 Art. 71 Abs. 1
RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß Zeiten der Vollarbeitslosigkeit, die ein Grenzgänger zurückgelegt hat, der gemäß Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats erhielt, in dessen Hoheitsgebiet er wohnte, unter Berücksichtigung der in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a aufgestellten allgemeinen Regel für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften rentenrechtlich nach den Rechtsvorschriften des Staates der letzten Beschäftigung vor Eintritt der Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind, da eine abweichende Regelung weder im Gemeinschaftsrecht vorgesehen noch aus mit der Verwirklichung der Ziele des Gemeinschaftsrechts zusammenhängenden Erfordernissen geboten ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 29. JUNI 1988. - JOSEF REBMANN GEGEN BUNDESVERSICHERUNGSANSTALT FUER ANGESTELLTE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM BUNDESSOZIALGERICHT. - GRENZGAENGER - LEISTUNGEN BEI ARBEITSLOSIGKEIT - RENTENVERSICHERUNG. - RECHTSSACHE 58/87.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundessozialgericht hat mit Beschluß vom 21. Januar 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 71 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, in der geänderten Fassung ( ABl. 1983, L 230, S. 8 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt, um den für die rentenrechtliche Berücksichtigung von Zeiten der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers zuständigen Träger bestimmen zu können.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Josef Rebmann und der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte.

3 Im Ausgangsverfahren geht es um die Berücksichtigung einer Zeit der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers bei der Berechnung einer Rente. Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Josef Rebmann, der 1920 geboren ist und in Kleinblittersdorf ( Bundesrepublik Deutschland ) wohnt, ist deutscher Staatsangehöriger und hat stets in Deutschland gewohnt. Vom 1. August 1959 bis zum 30. Juni 1972 war er als Grenzgänger in Frankreich beschäftigt und entrichtete während dieser Zeit Beiträge zur französischen Sozialversicherung. Er war danach vollarbeitslos und wurde nach Meldung bei der französischen Arbeitsverwaltung von dieser an das Arbeitsamt Saarbrücken verwiesen, von dem er vom 13. Juli 1972 bis zum 31. Juli 1974 Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz bezog. In der Folge war der Kläger nach deutschem Recht pflichtversichert, nachdem er in Deutschland eine Beschäftigung gefunden hatte.

4 Seit Dezember 1980 erhält der Kläger eine französische Versichertenrente; mit Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 10. Dezember 1980 wurde ihm eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt, bei deren Berechnung die Zeit der Arbeitslosigkeit von Juli 1972 bis Juli 1974 jedoch unberücksichtigt blieb. Nach dem Vorlagebeschluß blieben Widerspruch und Klage des Klägers gegen diesen Bescheid ohne Erfolg; seine Berufung wurde mit der Begründung zurückgewiesen, daß eine Zeit der Arbeitslosigkeit nur dann eine Ausfallzeit im Sinne von § 36 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes ( im folgenden : AVG ) sei, wenn durch sie eine nach deutschem Recht versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen worden sei; die Ausfallzeiten sollten in solchen Fällen an die Stelle der deutschen Beitragszeit treten, so daß nur die Unterbrechung einer deutschen Beitragszeit einen Ausfallzeittatbestand begründe.

5 Der Kläger legte Revision zum Bundessozialgericht ein und rügte eine Verletzung des § 36 AVG in Verbindung mit Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates. Seiner Auffassung nach war nicht berücksichtigt worden, daß er aufgrund der vorgenannten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung bei Eintritt der Vollarbeitslosigkeit ausschließlich Leistungen des Wohnstaates habe in Anspruch nehmen und sich dessen Arbeitsverwaltung habe zur Verfügung stellen müssen. Daraus folge, daß es auch in die Zuständigkeit des Wohnstaates falle, die von ihm zurückgelegten Zeiten der Arbeitslosigkeit rentenrechtlich zu berücksichtigen und ihn so zu behandeln, als ob während seiner letzten Beschäftigung vor der Arbeitslosigkeit die Rechtsvorschriften dieses Staates für ihn gegolten hätten. Andernfalls würde er allein deshalb rentenrechtlich benachteiligt, weil er kraft Gemeinschaftsrechts die Zeiten der Arbeitslosigkeit nur im Wohnstaat habe zurücklegen können.

6 Da es nach Ansicht des Bundessozialgerichts in dem Rechtsstreit darum geht, wie die betreffende gemeinschaftsrechtliche Regelung auszulegen ist, hat das Gericht dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Welcher Leistungsträger - derjenige des Wohnstaates oder des Beschäftigungsstaates - ist für die rentenrechtliche Berücksichtigung von Zeiten der Vollarbeitslosigkeit zuständig, wenn es sich um einen Grenzgänger handelt, der bei Vollarbeitslosigkeit nach Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 Leistungen des Wohnstaates in Anspruch nehmen und sich dessen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen musste?

Insbesondere :

a ) Folgt aus Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71, daß die von einem Grenzgänger im Wohnstaat zurückgelegten Zeiten der Vollarbeitslosigkeit auch nach den rentenrechtlichen Vorschriften des Wohnstaates zu berücksichtigen sind, als ob dessen Vorschriften während seiner letzten Beschäftigung für ihn gegolten hätten?

b ) Oder sind statt dessen die Zeiten der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers nach den rentenrechtlichen Vorschriften des Beschäftigungsstaates zu berücksichtigen, als ob während der Vollarbeitslosigkeit die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates für ihn gegolten hätten?

c ) Oder hat der Grenzgänger ein Recht zu wählen, ob er den Leistungsträger des Wohnstaates oder des Beschäftigungsstaates hinsichtlich der rentenrechtlichen Berücksichtigung der zurückgelegten Arbeitslosenzeiten in Anspruch nehmen will?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der gemäß Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der EWG eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob die Zeiten der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers bei der Berechnung der Rente nach den rentenrechtlichen Vorschriften des Wohnstaates oder denen des Beschäftigungsstaates zu berücksichtigen sind oder ob dem Grenzgänger insoweit ein Wahlrecht zusteht.

9 Ein solches Wahlrecht ist abzulehnen; mit seiner Bejahung würde nämlich, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 12. Juni 1986 in der Rechtssache 1/85 ( Miethe, Slg. 1986, 1846 ) ausgeführt hat, die Bedeutung der Verordnung Nr. 1408/71 verkannt, die gemäß ihrer fünften Begründungserwägung darin besteht, die nationalen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit im Rahmen der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind, zu koordinieren. Im Rahmen einer solchen Koordinierung, durch die die Kriterien für die Anknüpfung an die verschiedenen nationalen Rechte aufgestellt und die Lasten zwischen den verschiedenen nationalen Systemen verteilt werden sollen, darf diese Anknüpfung nicht von einer Wahl abhängen, die der Begünstigte trifft.

10 Im Hinblick auf die Beantwortung der Frage ist zunächst festzustellen, daß die Verordnung Nr. 1408/71, wie alle Verfahrensbeteiligten einräumen, keine Vorschrift enthält, die ausdrücklich bestimmt, nach welchem nationalen Recht und von der zuständigen Stelle welchen Staates Zeiten der Vollarbeitslosigkeit bei der Rentenberechnung im Fall eines Grenzgängers zu berücksichtigen sind.

11 Mangels einer spezifischen Vorschrift in der Verordnung Nr. 1408/71 ist die Lösung aus dem Zweck und dem Grundanliegen dieser Verordnung herzuleiten, soll sie doch das in Artikel 51 EWG-Vertrag für die Herstellung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer vorgesehene System der sozialen Sicherheit abschließend regeln.

12 Wie sich aus den Begründungserwägungen der Verordnung Nr. 1408/71 ergibt, sollen die zur Durchführung von Artikel 51 EWG-Vertrag erlassenen Koordinierungsvorschriften innerhalb der Gemeinschaft sicherstellen, daß alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gleich behandelt werden und die Arbeitnehmer unabhängig von ihrem Beschäftigungs - oder Wohnort in den Genuß der Leistungen der sozialen Sicherheit kommen.

13 Für die Grenzgänger sollten diese Ziele durch Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 verwirklicht werden, wonach für die Stellung dieser Arbeitnehmer grundsätzlich die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates gelten. Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel sind in Artikel 25 Absatz 2 für Leistungen bei Krankheit oder Mutterschaft, in Artikel 39 für Leistungen bei Invalidität und in Artikel 71 für Leistungen bei Arbeitslosigkeit vorgesehen.

14 Diese besonderen Anknüpfungen an das System der sozialen Sicherheit des Wohnstaates erklären sich aus sozialen Erwägungen und solchen der praktischen Wirksamkeit. Insbesondere entspricht die Regelung in Artikel 71, nach der die Zahlung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu Lasten des Wohnstaates geht, dem Bemühen, dem Grenzgänger die praktischen Nachteile zu ersparen, die sich für ihn aus einer Anknüpfung an den Beschäftigungsstaat ergeben würden. Seine Verpflichtung, sich der Arbeitsverwaltung zur Verfügung zu stellen und zu halten, ist nämlich leichter im Wohnstaat zu erfuellen. Ausserdem sind die Stellen dieses Staates am besten in der Lage, die Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu gewähren und sich dabei zu vergewissern, daß der Betroffene die Voraussetzungen für ihren Bezug erfuellt, und gleichzeitig seine berufliche Wiedereingliederung zu erleichtern.

15 Die Verordnung Nr. 1408/71 ist somit von dem allgemeinen Grundsatz der Anknüpfung an den Beschäftigungsstaat nur in besonderen Fallgestaltungen und aus Erwägungen der praktischen Wirksamkeit abgegangen, die eine Anknüpfung an den Wohnstaat als sachgerechter und den Interessen der Grenzgänger eher entsprechend erscheinen ließen.

16 Eine Ausdehnung dieser Ausnahmeregelungen auf nicht ausdrücklich vorgesehene Tatbestände käme nur in Betracht, wenn diese in engem Zusammenhang mit den in der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen stuenden und wenn diese Ausdehnung durch gleichartige Erwägungen geboten wäre.

17 Dies ist jedoch bei der Berücksichtigung von Zeiten der Vollarbeitslosigkeit für die Rentenberechnung nicht der Fall.

18 Das durch Artikel 51 EWG-Vertrag vorgegebene Ziel besteht darin, die Zusammenrechnung aller Zeiten der Berufstätigkeit sicherzustellen; diesen Zeiten sind Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit gleichzustellen, für die Leistungen gewährt worden sind ( siehe Urteil vom 9. Juli 1975 in der Rechtssache 20/75, d' Amico, Slg. 1975, 891 ). Dabei ist zu gewährleisten, daß alle Ansprüche der Wanderarbeitnehmer unabhängig davon berücksichtigt werden, in welchem Staat sie erworben worden sind.

19 Aus den Erfordernissen, die mit der Verwirklichung dieses Zieles zusammenhängen, lässt sich keine Erwägung ableiten, die eine Abweichung von der allgemeinen Regel des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 geböte; eine solche Abweichung lässt sich auch nicht durch Erwägungen rechtfertigen, wie sie den in dieser Verordnung vorgesehenen besonderen Anknüpfungen zugrunde liegen. Mangels einer besonderen Vorschrift folgt die Berücksichtigung der Zeiten der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers bei der Rentenberechnung dem allgemeinen Grundsatz, wonach für die Stellung der Grenzgänger grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsstaates gilt. Im übrigen hat der Grenzgänger in der Regel in diesem Staat Rentenansprüche erworben, die durch diese Zeiten ergänzt werden können. Dagegen ist es nicht sicher, daß der Grenzgänger in seinem Wohnstaat derartige Ansprüche hat erwerben können; insbesondere wird dies dann nicht der Fall sein, wenn er dort niemals eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeuebt hat.

20 Auf die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, daß die Verordnung Nr. 1408/71 des Rates dahin auszulegen ist, daß Zeiten der Vollarbeitslosigkeit, die ein Grenzgänger zurückgelegt hat, der gemäß Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates erhielt, in dessen Hoheitsgebiet er wohnte, rentenrechtlich nach den Rechtsvorschriften des Staates der letzten Beschäftigung vor Eintritt der Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der Regierung des Königreichs der Niederlande, der Regierung der Italienischen Republik und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Fünfte Kammer )

auf die ihm vom Bundessozialgericht mit Beschluß vom 21. Januar 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Die Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, in der geänderten Fassung ist dahin auszulegen, daß Zeiten der Vollarbeitslosigkeit, die ein Grenzgänger zurückgelegt hat, der gemäß Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates erhielt, in dessen Hoheitsgebiet er wohnte, rentenrechtlich nach den Rechtsvorschriften des Staates der letzten Beschäftigung vor Eintritt der Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind.

Ende der Entscheidung

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