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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 23.02.1988
Aktenzeichen: 68/86
Rechtsgebiete: EWGV, Richtlinie 85/649/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 43
EWGV Art. 100
EWGV Art. 173 Abs. 1
Richtlinie 85/649/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 43 EWG-Vertrag ist die geeignete Rechtsgrundlage für alle Regelungen über die Produktion und die Vermarktung der im Anhang II des Vertrages aufgeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die zur Verwirklichung eines oder mehrerer der in Artikel 39 EWG-Vertrag genannten Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik beitragen. Selbst wenn solche Regelungen neben Zielen der Agrarpolitik auch andere Ziele anstreben, die in Ermangelung besonderer Bestimmungen auf der Grundlage von Artikel 100 EWG-Vertrag verfolgt werden, können sie die Harmonisierung der innerstaatlichen Bestimmungen auf diesem Gebiet einschließen, ohne daß es des Rückgriffs auf diesen Artikel bedarf. Da Artikel 38 Absatz 2 EWG-Vertrag den Vorrang der besonderen Bestimmungen des Agrarbereichs vor den allgemeinen Bestimmungen über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes sicherstellt, lässt sich Artikel 100 nämlich nichts für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von Artikel 43 entnehmen.

Die Richtlinie 85/649 zum Verbot des Gebrauchs von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung im Tierbereich, die neben einer Harmonisierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zum Schutz der Verbraucher und der menschlichen Gesundheit die Bedingungen für die Produktion und Vermarktung des Fleisches im Hinblick auf eine Verbesserung seiner Qualität regelt, konnte vom Rat allein auf der Grundlage von Artikel 43 EWG-Vertrag erlassen werden.

2. Die Bestimmung der geeigneten Rechtsgrundlage eines Rechtsakts hängt nicht von der Beurteilung des rechtsetzenden Gemeinschaftsorgans ab, sondern muß sich auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Eine Praxis des Rates, die darin besteht, Rechtsetzungsakte auf einem bestimmten Gebiet auf eine doppelte Rechtsgrundlage zu stützen, vermag die Regeln des Vertrages nicht abzuändern. Eine solche Praxis kann folglich kein Präjudiz schaffen, das die Organe der Gemeinschaft hinsichtlich der Bestimmung der zutreffenden Rechtsgrundlage bindet.

3. Die Grundsätze über die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane sind im Vertrag festgelegt und stehen nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst.

4. Die Nichtbeachtung von Artikel 6 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Rates, der die Voraussetzungen regelt, unter denen auf das schriftliche Abstimmungsverfahren zurückgegriffen werden kann, stellt eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne von Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag dar.

Der Rat ist nämlich gehalten, diese von ihm selbst aufgestellte Verfahrensregel zu beachten; er kann davon selbst mit einer grösseren Mehrheit, als sie für den Erlaß oder die Änderung der Geschäftsordnung erforderlich ist, nicht abweichen, ohne die Geschäftsordnung, die ein aufgrund von Artikel 5 des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission erlassener Rechtsakt ist, förmlich abzuändern.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 23. FEBRUAR 1988. - VEREINIGTES KOENIGREICH GROSSBRITANNIEN UND NORDIRLAND GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - STOFFE MIT HORMONALER WIRKUNG - NICHTIGKEITSKLAGE - RECHTSGRUNDLAGE - BEGRUENDUNGSPFLICHT - MAENGEL DES RECHTSETZUNGSVERFAHRENS - GRUNDSATZ DER VERHAELTNISMAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE 68/86.

Entscheidungsgründe:

1 Das Vereinigte Königreich hat mit Klageschrift, die am 10. März 1986 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag eine Klage auf Nichtigerklärung der Richtlinie 85/649 des Rates vom 31. Dezember 1985 zum Verbot des Gebrauchs von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung im Tierbereich ( ABl. L 382, S. 228 ) erhoben.

2 Zur Begründung seiner Klage macht der Kläger geltend, die Rechtsgrundlage der Richtlinie sei unzureichend, die Begründung sei mangelhaft, der Grundsatz des Vertrauensschutzes sei verletzt, die Geschäftsordnung des Rates sei verletzt, das Europäische Parlament und der Wirtschafts - und Sozialausschuß seien nicht angehört worden und die Richtlinie sei sachlich nicht gerechtfertigt.

3 Wegen des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Rechtsgrundlage

4 Der Kläger macht, im wesentlichen unterstützt von der dänischen Regierung, geltend, die angefochtene Richtlinie, die mit qualifizierter Mehrheit auf der Grundlage von Artikel 43 EWG-Vertrag erlassen worden sei, hätte nicht nur auf diesen Artikel, sondern auch auf Artikel 100, der Einstimmigkeit im Rat verlange, gestützt werden müssen. Diese doppelte Rechtsgrundlage sei erforderlich gewesen, weil die streitige Richtlinie neben Zielen der Agrarpolitik unter anderem auch den Zweck habe, die Angleichung der Rechts - und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten sicherzustellen, um die Interessen und die Gesundheit der Verbraucher zu schützen. Dieses Ziel sei nicht von Artikel 43 EWG-Vertrag gedeckt, sondern falle unter Artikel 100. Die frühere Praxis des Rates bestätige die Notwendigkeit dieser doppelten Rechtsgrundlage.

5 Der beklagte Rat und die Kommission als Streithelferin stellen nicht in Abrede, daß ein Aspekt der streitigen Richtlinie die Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zum Schutz der Verbraucher und der Volksgesundheit sei; sie meinen aber, daß die Richtlinie dadurch dem Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik nicht entzogen und somit durch Artikel 43 EWG-Vertrag gedeckt sei.

6 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Meinungsverschiedenheit über die zutreffende Rechtsgrundlage im vorliegenden Fall keine bloß formale Bedeutung hat, da die Artikel 43 und 100 EWG-Vertrag unterschiedliche Regeln für die Willensbildung des Rates enthalten. Die Wahl der Rechtsgrundlage konnte sich somit auch auf die inhaltliche Ausgestaltung der angefochtenen Richtlinie auswirken.

7 Um zu beurteilen, ob der Klagegrund der unzureichenden Rechtsgrundlage durchgreift, ist folglich zu prüfen, ob der Rat befugt war, die streitige Richtlinie allein auf der Grundlage von Artikel 43 EWG-Vertrag zu erlassen.

8 Hierzu ist zunächst festzustellen, daß sich der sachliche Anwendungsbereich der Artikel 39 bis 46 EWG-Vertrag gemäß Artikel 38 auf die Erzeugnisse erstreckt, die in der dem Vertrag als Anhang II beigefügten Liste aufgeführt sind.

9 Sodann ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 43 im Lichte der Artikel 39 und 4O EWG-Vertrag auszulegen ist; Artikel 39 zählt die Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik auf, und Artikel 4O regelt die Verwirklichung dieser Politik, wobei er namentlich bestimmt, daß zur Erreichung der Ziele des Artikels 39 eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte geschaffen wird, die alle zur Durchführung des Artikels 39 erforderlichen Maßnahmen einschließen kann ( Urteil vom 21. Februar 1979 in der Rechtssache 138/78, Stölting/Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Slg. 1979, 713 ).

10 Als Ziel der Agrarpolitik nennt Artikel 39 EWG-Vertrag insbesondere die Steigerung der Produktivität durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren. Nach Artikel 39 Absatz 2 Buchstaben b und c sind ausserdem bei der Gestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik die Notwendigkeit, die geeigneten Anpassungen stufenweise durchzuführen, und die Tatsache zu berücksichtigen, daß die Landwirtschaft einen mit der gesamten Volkswirtschaft eng verflochtenen Wirtschaftsbereich darstellt. Folglich müssen die Ziele der Agrarpolitik so verstanden werden, daß die Gemeinschaftsorgane ihre Aufgaben unter Berücksichtigung der Entwicklungen in der Landwirtschaft und in der gesamten Volkswirtschaft erfuellen können.

11 Die Maßnahmen, die auf der Grundlage von Artikel 43 EWG-Vertrag zur Erreichung dieser Ziele im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation gemäß Artikel 4O Absatz 2 EWG-Vertrag getroffen werden, können die Regelung der Bedingungen und Modalitäten der Produktion, der Qualität und der Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse einschließen. Die gemeinsamen Marktorganisationen enthalten zahlreiche derartige Bestimmungen.

12 Bei der Verfolgung der Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik, insbesondere im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisationen, darf von Erfordernissen des Allgemeininteresses, wie etwa des Verbraucherschutzes oder des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen und Tieren, denen die Gemeinschaftsorgane bei der Ausübung ihrer Befugnisse Rechnung zu tragen haben, nicht abgesehen werden.

13 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 42 EWG-Vertrag die Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit ihnen nur insoweit Anwendung finden, als der Rat dies im Rahmen der nach Artikel 43 EWG-Vertrag erlassenen Vorschriften bestimmt. Beim Erlaß dieser Vorschriften muß der Rat daher auch die Erfordernisse der Wettbewerbspolitik berücksichtigen.

14 Aus der Gesamtheit der vorstehend analysierten Bestimmungen ergibt sich, daß Artikel 43 EWG-Vertrag die geeignete Rechtsgrundlage für jede Regelung über die Produktion und die Vermarktung der im Anhang II des Vertrages aufgeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse ist, die zur Verwirklichung eines oder mehrerer der in Artikel 39 EWG-Vertrag genannten Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik beiträgt. Solche Regelungen können die Harmonisierung der innerstaatlichen Bestimmungen auf diesem Gebiet einschließen, ohne daß es des Rückgriffs auf Artikel 100 EWG-Vertrag bedarf.

15 Wie der Gerichtshof unter anderem in den Urteilen vom 29. November 1978 in der Rechtssache 83/78 ( Pigs Marketing Board/Redmond, Slg. 1978, 2347 ) und vom 26. Juni 1979 in der Rechtssache 177/78 ( Pigs and Bacon Commission/McCarren, Slg. 1979, 2161 ) entschieden hat, stellt Artikel 38 Absatz 2 EWG-Vertrag den Vorrang der besonderen Bestimmungen des Agrarbereichs vor den allgemeinen Bestimmungen über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes sicher.

16 Selbst wenn also die in Rede stehenden Regelungen sowohl Ziele der Agrarpolitik als auch andere Ziele anstreben, die in Ermangelung besonderer Bestimmungen auf der Grundlage von Artikel 100 EWG-Vertrag verfolgt werden, lässt sich dieser Vorschrift, die allgemein den Erlaß von Richtlinien für die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erlaubt, nichts für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von Artikel 43 EWG-Vertrag entnehmen.

17 Auf der Grundlage dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die streitige Richtlinie in den so bestimmten Anwendungsbereich von Artikel 43 EWG-Vertrag fällt.

18 Hierzu ist zunächst festzustellen, daß gemeinsame Marktorganisationen für Rindfleisch ( Verordnung Nr. 805/68 des Rates vom 27. Juni 1968, ABl. L 148, S. 24 ), für Schweinefleisch ( Verordnung Nr. 2759/75 des Rates vom 29. Oktober 1975, ABl. L 282, S. 1 ) und für Schaf - und Ziegenfleisch ( Verordnung Nr. 1837/80 des Rates vom 27. Juni 1980, ABl. L 183, S. 1 ) bestehen und daß nach Artikel 2 jeder dieser Verordnungen gemeinschaftliche Maßnahmen zur Förderung einer besseren Organisation der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung sowie zur Verbesserung der Qualität getroffen werden können.

19 Die streitige Richtlinie enthält im wesentlichen zum einen Vorschriften über die Verabfolgung bestimmter Stoffe mit hormonaler Wirkung an Nutztiere, deren Fleisch von den genannten gemeinsamen Marktorganisationen erfasst wird, und zum anderen Vorschriften über die notwendigen Kontrollmaßnahmen. Diese Maßnahmen betreffen insbesondere den innergemeinschaftlichen Handel mit lebenden Tieren und Fleisch sowie die Einfuhren dieser Erzeugnisse in die Gemeinschaft.

20 Aus den Begründungserwägungen der Richtlinie ergibt sich, daß diese dem Schutz der menschlichen Gesundheit und den Interessen der Verbraucher dienen soll, um die "Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen" zu beseitigen und den "Absatz (( der )) betreffenden Produkte" zu erleichtern.

21 Angesichts des Inhalts und der Ziele der Richtlinie ist festzustellen, daß diese sich mit der Regelung der Bedingungen für die Produktion und Vermarktung des Fleisches im Hinblick auf eine Verbesserung seiner Qualität in den Rahmen der Maßnahmen einfügt, die von den genannten gemeinsamen Marktorganisationen für Fleisch vorgesehen sind, und damit zur Verwirklichung der in Artikel 39 EWG-Vertrag genannten Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik beiträgt.

22 Daraus ergibt sich, daß die streitige Richtlinie in den Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik fällt und daß der Rat befugt war, die Richtlinie allein auf der Grundlage von Artikel 43 EWG-Vertrag zu erlassen.

23 Dieser Feststellung steht der vom Kläger angeführte Umstand nicht entgegen, daß der Rat von seiner ständigen Praxis, Rechtsakte in diesem Bereich auf die Artikel 43 und 100 EWG-Vertrag zu stützen, abgewichen ist.

24 Wie der Gerichtshof bereits im Urteil vom 26. März 1987 in der Rechtssache 45/86 ( Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493 ) entschieden hat, muß sich die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Eine blosse Praxis des Rates vermag Regeln des Vertrages nicht abzuändern. Eine solche Praxis kann folglich kein Präjudiz schaffen, das die Organe der Gemeinschaft hinsichtlich der Bestimmung der zutreffenden Rechtsgrundlage bindet.

25 Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.

Zur Begründung

26 Der Kläger macht geltend, die streitige Richtlinie sei unzureichend begründet.

27 Insoweit beanstandet der Kläger mit seiner ersten Rüge, daß der eigentliche Gegenstand der Richtlinie, nämlich die Angleichung der einzelstaatlichen Bestimmungen im Interesse der Verbraucher, insbesondere zum Schutz ihrer Gesundheit, nicht angegeben sei.

28 Wie hierzu zum einen festzustellen ist, ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen zur Rechtsgrundlage, daß in den Begründungserwägungen der Richtlinie die verfolgten Ziele mit hinreichender Deutlichkeit genannt sind; zum anderen ist zu bemerken, daß die menschliche Gesundheit und der Schutz der Interessen der Verbraucher in der ersten und zweiten Begründungserwägung ausdrücklich erwähnt sind. Diese Rüge ist daher zurückzuweisen.

29 Die zweite Rüge des Klägers in bezug auf die Begründung betrifft die fehlende Bezugnahme auf die Richtlinie 81/602 des Rates vom 31. Juli 1981 über ein Verbot von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung und von Stoffen mit thyreostatischer Wirkung ( ABl. L 222, S. 32 ), die durch die streitige Richtlinie ergänzt werde. Artikel 8 der Richtlinie 81/602 sehe nämlich vor, daß die Kommission dem Rat einen Bericht über die gesammelten Erfahrungen und die wissenschaftliche Entwicklung vorlege, dem gegebenenfalls Vorschläge, die dieser Entwicklung Rechnung trügen, beigefügt würden.

30 Diese Rüge greift nicht durch. Zwar wird die Richtlinie 81/602 in den Begründungserwägungen der streitigen Richtlinie nicht erwähnt, doch wird in deren Artikeln 1, 2, 5, 6 und 7 ausdrücklich auf die Richtlinie 81/602 verwiesen. Der Zusammenhang zwischen den beiden Richtlinien geht sonach hinreichend deutlich aus dem Wortlaut der streitigen Richtlinie hervor.

31 Mit seiner dritten Rüge in bezug auf die Begründung macht der Kläger geltend, der Vorschlag der Kommission lasse sich nicht identifizieren.

32 Hierzu ist festzustellen, daß die in Rede stehende Richtlinie in der Tat keine genaue Bezugnahme enthält, anhand deren sich der Vorschlag der Kommission identifizieren ließe. In dieser Unterlassung kann jedoch keine Verletzung wesentlicher Formvorschriften gesehen werden, da feststeht, daß die Richtlinie tatsächlich auf Vorschlag der Kommission erlassen worden ist.

33 Die Rüge der fehlenden Identifizierung des Kommissionsvorschlags ist daher zurückzuweisen.

34 Mit seiner vierten Rüge in bezug auf die Begründung beanstandet der Kläger schließlich, die streitige Richtlinie lasse nicht erkennen, daß sie nach Vorlage des wissenschaftlichen Berichts gemäß Artikel 8 der Richtlinie 81/602 erlassen worden sei, und sie enthalte keine Begründung dafür, daß sie den Ergebnissen dieses Berichts nicht Rechnung trage; diesen hätte der Rat prüfen müssen, um festzustellen, ob die vorgeschlagene Regelung zur Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele nicht offensichtlich ungeeignet gewesen sei.

35 Hierzu genügt die Feststellung, daß Artikel 8 der Richtlinie 81/602, wie der Rat zutreffend bemerkt hat, nur der Kommission eine Verpflichtung auferlegte, der es oblag, den Bericht erstellen zu lassen und ihn gegebenenfalls in ihren Vorschlägen zu berücksichtigen. Der Rat war demnach nicht gehalten, auf diese Vorarbeiten Bezug zu nehmen. Die Rüge greift daher nicht durch.

36 Aus alledem ergibt sich, daß die Richtlinie hinreichend begründet ist. Der zweite Klagegrund ist daher zurückzuweisen.

Zum Grundsatz des Vertrauensschutzes

37 Der Kläger sieht einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes darin, daß die streitige Richtlinie mit Mehrheit angenommen worden sei, obwohl Artikel 5 der Richtlinie 81/602 und Artikel 14 der Richtlinie 85/358 des Rates vom 16. Juli 1985 zur Ergänzung der Richtlinie 81/602 ( ABl. L 191, S. 46 ) einen einstimmigen Beschluß des Rates über die Verabfolgung der fünf in der streitigen Richtlinie genannten Hormone an Tiere vorsähen. Damit habe sich der Rat zu einstimmiger Beschlußfassung verpflichtet.

38 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß die Grundsätze über die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane im Vertrag festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen.

39 Dieser Klagegrund ist daher ebenfalls zurückzuweisen.

Zur Verletzung der Geschäftsordnung des Rates

40 Der Kläger ist der Auffassung, die Anwendung des schriftlichen Verfahrens für die Annahme der angefochtenen Richtlinie trotz des ausdrücklichen Widerspruchs zweier Mitgliedstaaten stelle eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften dar, da es nach Artikel 6 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Rates ( ABl. 1979, L 268, S. 1 ) für dieses Verfahren des Einverständnisses aller Mitgliedstaaten bedürfe.

41 Um zu prüfen, ob dieser Klagegrund durchgreift, sind die wesentlichen Umstände der Entstehungsgeschichte der Richtlinie in Erinnerung zu rufen.

42 Im November 1985 legte die Kommission dem Rat eine Änderung ihres früheren Vorschlags vor, die - wie die später erlassene, mit dieser Klage angefochtene Richtlinie - ein Verbot natürlicher Hormone ausser zu therapeutischen Zwecken und ein absolutes Verbot künstlicher Hormone vorsah. Diesen Entwurf erörterte der Rat am 19. November 1985.

43 Einen weiteren geänderten Vorschlag, der am 18. Dezember 1985 vorgelegt wurde, prüfte der Rat am 19. Dezember 1985 ausschließlich auf der Grundlage eines französischen Textes. Während dieser Sitzung schlug die Kommission letzte Änderungen vor. Der Rat beschloß gegen die Stimmen des Vereinigten Königreichs und Dänemarks, die Richtlinie im schriftlichen Verfahren vor dem 31. Dezember 1985 anzunehmen.

44 Am 23. Dezember 1985 sandte der Generalsekretär des Rates ein Fernschreiben an den britischen Landwirtschaftsminister, mit dem er das Vereinigte Königreich ersuchte, seine Stimme zu der streitigen Richtlinie im schriftlichen Verfahren vor dem 30. Dezember 1985, 16.00 Uhr, abzugeben. Mit Schreiben vom 31. Dezember 1985 erinnerte das Vereinigte Königreich daran, daß es sowohl der Anwendung des schriftlichen Verfahrens als auch der Richtlinie selbst widerspreche.

45 Am selben Tag, dem 31. Dezember 1985, wurde die streitige Richtlinie dem Vereinigten Königreich als im schriftlichen Verfahren angenommen bekanntgegeben.

46 Angesichts dieser Umstände ist zunächst auf Artikel 6 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Rates hinzuweisen, der wie folgt lautet :

"Beschlüsse des Rates über eine dringende Angelegenheit können durch schriftliche Abstimmung gefasst werden, sofern sich alle Ratsmitglieder mit diesem Verfahren für die Angelegenheit einverstanden erklären."

47 Der Wortlaut dieser Bestimmung besagt eindeutig, daß der Rückgriff auf das schriftliche Verfahren das Einverständnis aller Ratsmitglieder voraussetzt. Dieses Einstimmigkeitserfordernis ist unabhängig von der Frage, ob der betreffende Rechtsakt nach dem Vertrag einstimmig oder mit Mehrheit anzunehmen ist.

48 Folglich ist der Rat gehalten, die Verfahrensregel zu beachten, die er selbst in Artikel 6 Absatz 1 seiner Geschäftsordnung aufgestellt hat. Er kann davon selbst mit einer grösseren Mehrheit, als sie für den Erlaß oder die Änderung der Geschäftsordnung erforderlich ist, nicht abweichen, ohne die Geschäftsordnung, die ein aufgrund von Artikel 5 des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission erlassener Rechtsakt ist, förmlich abzuändern.

49 Daraus folgt, daß im vorliegenden Fall die Nichtbeachtung von Artikel 6 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Rates als eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne von Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag anzusehen ist; die Klage ist daher nach diesem Klagegrund begründet. Demgemäß ist die Richtlinie 85/649 des Rates vom 31. Dezember 1985 zum Verbot des Gebrauchs von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung im Tierbereich ( ABl. L 382, S. 228 ) für nichtig zu erklären, ohne daß es der Prüfung der übrigen vom Kläger vorgebrachten Klagegründe bedarf.

Kostenentscheidung:

Kosten

50 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung sind der unterliegenden Partei die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69 § 3 Absatz 1 kann der Gerichtshof jedoch die Kosten ganz oder teilweise gegeneinander aufheben, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt oder wenn ein aussergewöhnlicher Grund gegeben ist.

51 Im vorliegenden Fall hat der Kläger zwar mit dem Klagegrund der Verletzung wesentlicher Formvorschriften obsiegt, er ist jedoch mit anderen Klagegründen, darunter demjenigen, der das wesentliche institutionelle Problem des vorliegenden Rechtsstreits, nämlich die Wahl der Rechtsgrundlage der angefochtenen Richtlinie, betrifft, unterlegen.

52 Unter diesen Umständen ist es angebracht, daß die Parteien, einschließlich der Streithelferinnen, ihre eigenen Kosten tragen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Richtlinie 85/649 des Rates vom 31. Dezember 1985 zum Verbot des Gebrauchs von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung im Tierbereich wird für nichtig erklärt.

2 ) Die Parteien, einschließlich der Streithelferinnen, tragen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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