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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.04.1988
Aktenzeichen: 74/86
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Einführung oder unveränderte Beibehaltung einer gegen eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts verstossenden Bestimmung in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats schafft, selbst wenn diese Gemeinschaftsvorschrift in der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar gilt, Unklarheiten tatsächlicher Art, weil die betroffenen Normadressaten bezueglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden, und stellt eine Verletzung der Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 189 EWG-Vertrag dar.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 26. APRIL 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. - WEINMARKT - ANREICHERUNGSHOECHSTGRENZE. - RECHTSSACHE 74/86.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 12. März 1986 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus den Bestimmungen der gemeinsamen Marktorganisation für Wein, insbesondere aus Artikel 32 der Verordnung Nr. 337/79 des Rates vom 5. Februar 1979 über die gemeinsame Marktorganisation für Wein ( ABl. L 54, S. 1 ), sowie aus den Artikeln 5 und 189 EWG-Vertrag verstossen hat, indem sie eine Bestimmung in ihre Rechtsvorschriften eingefügt und beibehalten hat, wonach in bestimmten deutschen Weinbaugebieten für bestimmte Rebsorten und Rebflächen eine Anreicherungshöchstgrenze von 4,5 Volumenprozent gilt.

2 Gemäß Artikel 32 Absatz 1 der Verordnung Nr. 337/79 darf die Erhöhung des natürlichen Alkoholgehalts des Weins die Grenzwerte von 3,5 Volumenprozent in der Weinbauzone A, von 2,5 Volumenprozent in der Weinbauzone B und von 2 Volumenprozent in den Weinbauzonen C nicht überschreiten. Artikel 32 Absatz 2 bestimmt, daß in Jahren mit aussergewöhnlich ungünstigen Witterungsverhältnissen die in Absatz 1 genannte Erhöhung des Alkoholgehalts auf die Grenzwerte von 4,5 Volumenprozent in der Weinbauzone A und von 3,5 Volumenprozent in der Weinbauzone B heraufgesetzt werden kann. Gemäß Artikel 32 Absatz 4 werden die Beschlüsse zur Genehmigung der in Absatz 2 vorgesehenen Erhöhung von der Kommission nach dem sogenannten Verwaltungsausschußverfahren erlassen.

3 Das deutsche Weingesetz wurde durch Gesetz vom 27. August 1982 ( BGBl. I 1982, S. 1177 ) geändert. Durch dieses Änderungsgesetz wurde dem § 6 Absatz 2 des Weingesetzes folgender Satz angefügt :

" Für die Weinbaugebiete Mosel-Saar-Ruwer, Mittelrhein und Ahr gilt für bestimmte Rebsorten und bestimmte Rebflächen eine Anreicherungshöchstgrenze von 4,5 Volumenprozent."

4 Die Neufassung des geänderten deutschen Weingesetzes wurde gleichzeitig mit dem Änderungsgesetz im Bundesgesetzblatt bekanntgemacht ( BGBl. I 1982, S. 1196 ). In diese Fassung ist zu § 6 Absatz 2 eine Fußnote aufgenommen worden, die wie folgt lautet :

"Nach Artikel 32 Absatz 1 der Verordnung ( EWG ) Nr. 337/79 beträgt die Anreicherungshöchstgrenze in allen Weinbaugebieten der Weinbauzone A 3,5 Volumenprozent. Sie kann durch Beschluß der EG-Kommission in Jahren mit aussergewöhnlich ungünstiger Witterung auf 4,5 Volumenprozent erhöht werden."

5 Bereits am 8. Juli 1982 ersuchte die Kommission in einem Fernschreiben die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, das Inkrafttreten des Änderungsgesetzes wegen seiner Unvereinbarkeit mit Artikel 32 Absatz 1 der Verordnung Nr. 337/79 zu verhindern. In ihrer Antwort vom 30. Juli 1982 erklärte die Bundesregierung, sie teile die Auffassung der Kommission, deren Fernschreiben sie sowohl den für den Vollzug des Weinrechts zuständigen Länderbehörden als auch den betroffenen Wirtschaftskreisen übermittelt habe, und sie werde sich bemühen, den Widerspruch zwischen § 6 des Weingesetzes und der Gemeinschaftsverordnung alsbald zu beseitigen. Dennoch trat das Änderungsgesetz am 1. September 1982 in Kraft.

6 Da die Bundesregierung in den Jahren 1983 und 1984 keine Schritte zur Aufhebung des streitigen Satzes des § 6 Absatz 2 des Weingesetzes einleitete, eröffnete die Kommission mit Schreiben vom 9. Oktober 1984 das Verfahren nach Artikel 169 EWG-Vertrag. Am 11. Dezember 1984 teilte die Bundesregierung der Kommission mit, die Änderung des Weingesetzes habe sich verzögert, das Verfahren über einen entsprechenden Gesetzentwurf werde jedoch Anfang 1985 in Gang gesetzt. Nachdem die Kommission festgestellt hatte, daß Anfang 1985 das Verfahren zur Änderung des Gesetzes noch nicht in Gang gesetzt worden war, gab sie am 1. Juli 1985 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Da die Bundesregierung auf diese Stellungnahme nicht reagierte, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

7 Wegen weiterer Einzelheiten der Vorgeschichte des Rechtsstreits und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Zur Begründung ihrer Klage macht die Kommission vor allem geltend, der dem § 6 des Weingesetzes angefügte streitige Satz habe eine unklare Rechtslage geschaffen, da durch ihn eine Bestimmung in die deutschen Rechtsvorschriften aufgenommen worden sei, die mit der betreffenden Gemeinschaftsverordnung unvereinbar sei. Weder eine den Gemeinschaftsbestimmungen entsprechende Verwaltungspraxis noch die Fußnote in der Bekanntmachung der Neufassung des Weingesetzes könnten diese Unvereinbarkeit beseitigen. Eine solche Rechtslage lasse bei den Rechtsunterworfenen nämlich Ungewißheiten über das geltende Recht entstehen.

9 Die Bundesregierung räumt ein, daß die streitige Bestimmung mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sei. Sie hebt jedoch hervor, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Gemeinschaftsbestimmungen über die Erhöhung des Alkoholgehalts in der Praxis strikt angewandt würden, so daß keine Rechtsunsicherheit bestehe.

10 Wie der Gerichtshof wiederholt, insbesondere in seinem Urteil vom 15. Oktober 1986 in der Rechtssache 168/85 ( Kommission/Italienische Republik, Slg. 1986, 2945 ), ausgeführt hat, ergeben sich aus der Einführung oder unveränderten Beibehaltung einer gegen eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts verstossenden Bestimmung in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, selbst wenn diese Gemeinschaftsvorschrift in der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar gilt, Unklarheiten tatsächlicher Art, weil die betroffenen Normadressaten bezueglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden. Eine solche Beibehaltung stellt deshalb eine Verletzung der Verpflichtungen des genannten Mitgliedstaats aus dem EWG-Vertrag dar.

11 Daraus ergibt sich, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht nur die Verpflichtung hatte, keine gegen die Gemeinschaftsbestimmungen verstossenden Regelungen in ihre Rechtsvorschriften einzufügen, sondern auch die, solche Regelungen alsbald nach ihrem Erlaß wieder abzuschaffen.

12 Somit ist festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 189 EWG-Vertrag sowie aus Artikel 32 der Verordnung Nr. 337/79 des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Wein verstossen hat, indem sie eine Bestimmung in ihre Rechtsvorschriften eingefügt und beibehalten hat, wonach in den Weinbaugebieten Mosel-Saar-Ruwer, Mittelrhein und Ahr für bestimmte Rebsorten und Rebflächen eine Anreicherungshöchstgrenze von 4,5 Volumenprozent gilt.

Kostenentscheidung:

Kosten

13 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Bundesrepublik Deutschland hat gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 189 EWG-Vertrag sowie aus Artikel 32 der Verordnung Nr. 337/79 des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Wein verstossen, indem sie eine Bestimmung in ihre Rechtsvorschriften eingefügt und beibehalten hat, wonach in den Weinbaugebieten Mosel-Saar-Ruwer, Mittelrhein und Ahr für bestimmte Rebsorten und Rebflächen eine Anreicherungshöchstgrenze von 4,5 Volumenprozent gilt.

2 ) Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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