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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 29.05.2001
Aktenzeichen: C-1/00 SA
Rechtsgebiete: Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, EGV


Vorschriften:

Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften Art. 1 S. 3
EGV Art. 177 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, nach dem die Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein dürfen, bezweckt, zu verhindern, dass die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften beeinträchtigt werden. Folglich beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes im Fall eines Antrags auf Pfändung auf die Prüfung der Frage, ob eine solche Maßnahme im Hinblick auf die Wirkungen, die sie nach dem anwendbaren nationalen Recht entfaltet, geeignet ist, das ordnungsgemäße Funktionieren und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften zu beeinträchtigen. Dabei kann das Funktionieren der Gemeinschaften durch Zwangsmaßnahmen behindert werden, die die Finanzierung der gemeinsamen Politiken oder die Durchführung von Aktionsprogrammen der Gemeinschaften betreffen.

( vgl. Randnrn. 9-10, 12 )


Beschluss des Gerichtshofes vom 29. Mai 2001. - Cotecna Inspection SA gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Antrag auf Ermächtigung zur Pfändung bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Rechtssache C-1/00 SA.

Parteien:

In der Rechtssache C-1/00 SA

Cotecna Inspection SA mit Sitz in Genf (Schweiz), Prozessbevollmächtigter: J. H. J. Bourgeois, avocat, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Antragstellerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. De Pauw und B. Martenczuk als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Antragsgegnerin,

wegen eines Antrags auf Ermächtigung zur Pfändung bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften

erlässt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann, A. La Pergola, M. Wathelet und V. Skouris, der Richter D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, P. Jann, L. Sevón und R. Schintgen, der Richterinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr (Berichterstatter), J. N. Cunha Rodrigues und C. W. A. Timmermans

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer

Kanzler: R. Grass

nach Anhörung des Generalanwalts,

folgenden

Beschluss

Entscheidungsgründe:

1 Das Unternehmen Cotecna Inspection SA (nachfolgend: Cotecna) hat mit Antragsschrift, die am 14. Dezember 2000 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 1 Satz 3 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften (nachfolgend: Protokoll) die Ermächtigung zur Pfändung verschiedener Beträge bei der Kommission beantragt, die die Europäische Gemeinschaft der Republik Dschibuti schuldet.

Dem Rechtsstreit zugrundeliegender Sachverhalt

2 Der Sachverhalt dieser Rechtssache lässt sich nach Aktenlage wie folgt zusammenfassen.

3 Cotecna schloss am 20. Januar 1996 mit der Republik Dschibuti einen Dienstleistungsvertrag über die Inspektion und Überprüfung von Einfuhren in dieses Land. Da die Republik Dschibuti die Begleichung der vom 3. Juni 1997 bis zum 30. November 1997 monatlich gestellten Rechnungen mit Ausnahme einer einzigen schuldig blieb, griff Cotecna auf eine vertraglich vorgesehene Schiedsklausel zurück.

4 Mit Schiedsspruch vom 28. Januar 2000 wurde die Republik Dschibuti verurteilt, Cotecna 2 265 550,63 USD zuzüglich Zinsen zum in Dschibuti geltenden gesetzlichen Zinssatz ab Erlass des Spruches sowie weitere 66 000 USD zu zahlen. Da die Republik Dschibuti ihrer Verpflichtung zur Zahlung dieser Beträge nicht nachkam, beantragte Cotecna die Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruches beim Tribunal de première instance Brüssel (Belgien). Mit Beschluss vom 16. November 2000 erteilte dieses gemäß Artikel 1710 des belgischen Code judiciaire die Vollstreckbarerklärung.

5 Mit Schreiben vom 1. September 2000 bat Cotecna die Kommission, ihr mitzuteilen, ob eine Pfändung der der Republik Dschibuti von der Kommission geschuldeten Beträge bei dieser das Funktionieren und die Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften beeinträchtigen würde.

6 Am 2. Oktober 2000 antwortete die Kommission, dass sie sich auf die ihr durch das Protokoll verliehene Immunität berufen werde, falls eine Pfändung die Finanzierung einer Gemeinschaftspolitik und insbesondere die Entwicklungszusammenarbeit mit der Republik Dschibuti beeinträchtigen sollte.

Anträge der Parteien

7 Cotecna beantragt in ihrer Antragsschrift, sie zu ermächtigen, bei der Kommission eine Pfändung in Höhe von 2 265 550,63 USD zuzüglich Zinsen zum in Dschibuti geltenden gesetzlichen Zinssatz ab Erlass des Schiedsspruches vom 28. Januar 2000 und in Höhe von 66 000 USD vorzunehmen.

8 Die Kommission beantragt, den Antrag von Cotecna abzuweisen und dieser die Kosten aufzuerlegen.

Würdigung durch den Gerichtshof

9 Nach Artikel 1 des Protokolls dürfen die Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften... ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein". Zweck dieser Bestimmung ist es, zu verhindern, dass die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften beeinträchtigt werden (Beschluss vom 11. April 1989 in der Rechtssache 1/88 SA, Générale de Banque/Kommission, Slg. 1989, 857, Randnr. 2).

10 Folglich beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes im Fall eines Antrags auf Pfändung, wie es der Gerichtshof in Randnummer 3 seines Beschlusses vom 17. Juni 1987 in der Rechtssache 1/87 SA (Universe Tankship/Kommission, Slg. 1987, 2807) entschieden hat, auf die Prüfung der Frage, ob eine solche Maßnahme im Hinblick auf die Wirkungen, die sie nach dem anwendbaren nationalen Recht entfaltet, geeignet ist, das ordnungsgemäße Funktionieren und die Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften zu beeinträchtigen.

11 Nach Ansicht von Cotecna würde eine Pfändung im vorliegenden Fall das Funktionieren der Gemeinschaft nicht behindern. Zur Begründung dieser Auffassung bringt sie mehrere Argumente vor, nämlich die Bedeutung der von ihr erbrachten Dienstleistungen für die Entwicklung eines Landes wie Dschibuti, das Ausbleiben von Folgen einer Pfändung für zukünftige Handlungen der Gemeinschaft und das Bestehen von die gemeinsame Agrarpolitik ähnlich wie Pfändungen berührenden Praktiken.

12 Dazu ist festzustellen, dass das Funktionieren der Gemeinschaften durch Zwangsmaßnahmen behindert werden kann, die die Finanzierung der gemeinsamen Politiken oder die Durchführung von Aktionsprogrammen der Gemeinschaften betreffen (Beschluss in der Rechtssache 1/88 SA, Randnr. 13).

13 Nach Artikel 177 Absatz 1 EG fördert die Politik der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit u. a. die nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Entwicklungsländer.

14 Die Gemeinschaft hat ihre Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks in einer Reihe von Abkommen organisiert, die sie nach und nach mit diesen Ländern geschlossen hat. In diesen Zusammenhang fügt sich die finanzielle Entwicklungszusammenarbeit der Gemeinschaft mit der Republik Dschibuti ein. Der spezifische Rahmen dieser Zusammenarbeit ist in den nationalen Richtprogrammen zum sechsten, siebten und achten Europäischen Entwicklungsfonds festgelegt. Diese Programme setzen den Gesamtbetrag fest, der für die Entwicklungszusammenarbeit mit der Republik Dschibuti verfügbar ist, und bestimmen die Bereiche sowie die Ziele und die Art und Weise des Tätigwerdens der Gemeinschaft.

15 Aus den Erklärungen der Parteien ergibt sich, dass der Antrag von Cotecna Mittel betrifft, hinsichtlich deren die Kommission beschlossen hat, sie dem Europäischen Entwicklungsfonds zu entnehmen und im Rahmen der gemeinschaftlichen Politik der Entwicklungszusammenarbeit der Durchführung spezifischer Programme zugunsten der Republik Dschibuti zuzuweisen.

16 Die Ermächtigung zur Pfändung hätte hier zur Folge, dass Mittel, die die Gemeinschaft ausdrücklich für die Politik der Entwicklungszusammenarbeit bestimmt hat, für private Interessen verwendet würden, die zwar legitim sind, mit der genannten Politik aber nichts zu tun haben.

17 Daher ist der Antrag von Cotecna zurückzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Cotecna mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr dem Antrag der Kommission gemäß die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen:

1. Der Antrag wird zurückgewiesen.

2. Die Cotecna Inspection SA trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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