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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 01.02.2001
Aktenzeichen: C-108/96
Rechtsgebiete: EGV


Vorschriften:

EGV Art. 5 a.F.
EGV Art. 10
EGV Art. 28
EGV Art. 43
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Rechtslage einer Gesellschaft, die zu einer Firmengruppe mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten gehört, die Waren und Dienstleistungen im optischen Bereich vertreibt, wird als die einer Tochtergesellschaft einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Gesellschaft nach den Bestimmungen des Artikels 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) vom Gemeinschaftsrecht erfasst.

( Randnr. 16 )

2. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts verwehrt es Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) den zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats nicht, das nationale Recht der Heilkunde so auszulegen, dass im Rahmen der Korrektur rein optischer Sehfehler des Kunden die objektive Untersuchung des Sehvermögens, d. h. eine Untersuchung nach einer anderen Methode als derjenigen, bei der allein der Kunde die Sehfehler bestimmt, unter denen er leidet, aus Gründen des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung einer Gruppe von besonders qualifizierten Berufstätigen wie den Augenärzten unter Ausschluss u. a. der Augenoptiker, die keine Ärzte sind, vorbehalten ist. Behält nämlich ein Mitgliedstaat einer Gruppe von solchen Berufstätigen das Recht vor, bei ihren Patienten eine objektive Untersuchung des Sehvermögens mit Hilfe technisch hochentwickelter Instrumente vorzunehmen, die die Feststellung des Augeninnendrucks, die Messung des Gesichtsfeldes oder die Feststellung des Zustands der Hornhaut ermöglicht, so ist diese Entscheidung des betreffenden Mitgliedstaats als ein geeignetes Mittel anzusehen, die Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus zu gewährleisten.

Das den Augenoptikern, die keine Ärzte sind, somit auferlegte Verbot der Vornahme bestimmter Augenuntersuchungen, das unabhängig von der Staatsangehörigkeit und vom Wohnstaat derjenigen gilt, an die es gerichtet ist, muss jedoch für die Verwirklichung dieses Zieles erforderlich und verhältnismäßig sein. Insoweit kann sich die Einschätzung der Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung im Laufe der Jahre ändern, insbesondere nach Maßgabe der erzielten technischen und wissenschaftlichen Fortschritte.

Das vorlegende Gericht hat anhand der Vorschriften des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit sowie der Erfordernisse der Rechtssicherheit und des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu prüfen, ob die von den zuständigen nationalen Stellen insoweit vorgenommene Auslegung des innerstaatlichen Rechts weiterhin eine hinreichende Grundlage für die im Ausgangsverfahren durchgeführte Strafverfolgung ist.

( Randnrn. 27, 30-31, 35-38 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 1. Februar 2001. - Strafverfahren gegen Dennis Mac Quen, Derek Pouton, Carla Godts, Youssef Antoun und Grandvision Belgium SA, zivilrechtlich haftend, Beteiligte: Union professionnelle belge des médecins spécialistes en ophtalmologie et chirurgie oculaire. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de première instance de Bruxelles - Belgien. - Auslegung der Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG) sowie 30, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG, 43 EG und 49 EG) - Nationale Rechtsvorschriften, nach denen Augenoptikern bestimmte Augenuntersuchungen untersagt sind - Nationale Rechtsvorschriften, die den Vertrieb von Geräten beschränken, mit denen bestimmte, Augenärzten vorbehaltene Augenuntersuchungen durchgeführt werden können. - Rechtssache C-108/96.

Parteien:

In der Rechtssache C-108/96

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom Tribunal de première instance Brüssel (Belgien) in dem bei diesem anhängigen Strafverfahren gegen

Dennis Mac Quen,

Derek Pouton,

Carla Godts,

Youssef Antoun

und

Grandvision Belgium SA, ehemals Vision Express Belgium SA,

zivilrechtlich haftend,

Beteiligte:

Union professionnelle belge des médecins spécialistes en ophtalmologie et chirurgie oculaire, Nebenklägerin,

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG) sowie 30, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG, 43 EG und 49 EG)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer M. Wathelet in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. A. O. Edward (Berichterstatter) und P. Jann,

Generalanwalt: J. Mischo

Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Frau Godts, der Herren Antoun und Pouton sowie der Grandvision Belgium SA, vertreten durch M. Fyon, F. Louis, A. Vallery und H. Gilliams, avocats,

- der Union professionnelle belge des médecins spécialistes en ophtalmologie et chirurgie oculaire, vertreten durch J.-M. Defourny, avocat, und R. Bützler, avocat, zugelassen bei der belgischen Cour de cassation,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Patakia als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Godts, der Herren Antoun und Pouton sowie der Grandvision Belgium SA, vertreten durch M. Fyon, F. Louis, A. Vallery und H. Gilliams, avocats, der Union professionnelle belge des médecins spécialistes en ophtalmologie et chirurgie oculaire, vertreten durch J.-M. Defourny und F. Mourlon Beernaert, avocats, sowie der Kommission, vertreten durch M. Patakia in der Sitzung vom 10. Februar 2000,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. März 2000,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de première instance Brüssel hat mit Urteil vom 27. März 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 1996, gemäss Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG) sowie 30, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG, 43 EG und 49 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren gegen Frau Godts, die Herren Mac Quen, Antoun und Pouton sowie die Grandvision Belgium SA (im Folgenden: Grandvision) als Arbeitgeberin der vier Angeklagten wegen unrechtmäßiger Vornahme einer oder mehrerer zur Heilkunde gehörender Handlungen.

Rechtlicher Rahmen

3 Die anwendbaren innerstaatlichen Bestimmungen finden sich in der Königlichen Verordnung vom 30. Oktober 1964 (Moniteur belge vom 24. Dezember 1964, S. 13274) über die Festlegung der Voraussetzungen für die Ausübung des Berufes des Augenoptikers in Handwerksunternehmen, kleinen und mittleren Handelsunternehmen sowie im Kleingewerbe in der durch die Königlichen Verordnungen vom 16. September 1966, 14. Januar 1975, 3. Oktober 1978 und 2. März 1988 geänderten Fassung (Moniteur belge vom 17. März 1988, S. 3812) und in der Königlichen Verordnung Nr. 78 vom 10. November 1967 über die Ausübung der ärztlichen Heilkunde, der Krankenpflege und der arztähnlichen Berufe sowie über die Ärzteausschüsse zur Vorbeugung gegen die unrechtmäßige Ausübung der Heilkunde (Moniteur belge vom 14. November 1967, S. 11881).

4 Artikel 2 § 1 der Königlichen Verordnung vom 30. Oktober 1964 lautet:

Der Beruf des Augenoptikers im Sinne der vorliegenden Verordnung besteht in der fortgesetzten und unabhängigen Ausübung einer oder mehrerer der folgenden Tätigkeiten:

a) öffentliches Anbieten, Verkauf, Instandhaltung und Instandsetzung von optischen Artikeln, die zur Korrektur und/oder zum Ausgleich des Sehvermögens bestimmt sind,

a') Prüfung, Anpassung, Verkauf und Instandhaltung von Kunstaugen,

b) Ausführung der von den Augenärzten zur Korrektur des Sehvermögens ausgestellten Verschreibungen."

5 Artikel 2 § 1 Absatz 1 der Königlichen Verordnung Nr. 78 lautet:

Die ärztliche Heilkunde darf nur ausüben, wer Inhaber des gemäß den Rechtsvorschriften über die Verleihung akademischer Grade und das Programm der Hochschulprüfungen erworbenen gesetzlichen Diploms eines Doktors der Medizin, der Chirurgie und der Geburtshilfe ist oder hiervon rechtmäßig befreit ist und wer darüber hinaus die in Artikel 7 § 1 oder § 2 vorgeschriebenen Voraussetzungen erfuellt."

6 In Artikel 2 § 1 Absatz 2 heißt es:

Die ärztliche Heilkunde übt unrechtmäßig aus, wer, ohne sämtliche nach Artikel 2 § 1 Absatz 1 erforderlichen Voraussetzungen zu erfuellen, fortgesetzt Handlungen vornimmt, die die Untersuchung des Gesundheitszustands, das Feststellen von Krankheiten oder Schwächen, die Stellung einer Diagnose, die Ein- oder Durchführung der Behandlung eines physischen oder psychischen, tatsächlichen oder vermuteten pathologischen Zustands oder die Impfung bei einem Menschen zum Gegenstand haben oder als solche ausgegeben werden."

7 Mit Urteil vom 28. Juni 1989 (Sammlung der Urteile der Cour de cassation 1989, I-1182) hat die belgische Cour de cassation entschieden, dass Artikel 2 Absatz 1 der Königlichen Verordnung vom 30. Oktober 1964 unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Königlichen Verordnung Nr. 78 auszulegen sei.

8 Die Cour de cassation hat in diesem Urteil festgestellt, dass es Augenoptikern, die keine Ärzte sind, zwar erlaubt ist, Handlungen mit dem Ziel der Korrektur rein optischer Sehfehler vorzunehmen, unabhängig davon, ob sie hierfür Geräte oder Instrumente benutzen, dass es ihnen jedoch untersagt ist, das Sehvermögen ihrer Kunden anders als nach einer Methode zu prüfen, nach der allein der Patient die Sehfehler, unter denen er leidet, bestimmt, insbesondere anhand einer gegebenenfalls in einem Kontrollgerät angebrachten Skala, und selbst für die Korrektur sorgt, indem er auf ihren Vorschlag die ihn zufrieden stellenden Gläser aussucht, wobei der Augenoptiker verpflichtet ist, seinem Kunden zu raten, einen Augenarzt aufzusuchen, wenn die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse einen Zweifel an der Natur des festgestellten Fehlers aufkommen lassen".

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

9 Ausweislich der Akten ist Grandvision eine Aktiengesellschaft belgischen Rechts mit Geschäftssitz in Brüssel. Sie gehört zu einer Firmengruppe, die Waren und Dienstleistungen im optischen Bereich vertreibt. Sie wird von der Gesellschaft englischen Rechts Vision Express UK Ltd kontrolliert. Herr Mac Quen war Generaldirektor der letztgenannten Gesellschaft, bevor er zwischen November 1990 und Juli 1991 die Aufgaben eines Administrateur-délégué (bestelltes Verwaltungsratsmitglied) der Vision Express Belgium SA wahrnahm. Herr Pouton war sein Nachfolger in diesem Amt von Juli 1991 bis 1993.

10 Kurz nach ihrer Gründung warb die Vision Express Belgium SA in Belgien für verschiedene Untersuchungen des Sehvermögens in ihren Geschäftslokalen, und zwar insbesondere für eine computergestützte Tonometrie" zur Feststellung eines erhöhten Augeninnendrucks", eine allgemeine Retinoskopie" zur Untersuchung des Zustands der Netzhaut" sowie eine Messung des Gesichtsfeldes mit Hilfe eines ultramodernen Geräts" und eine Biomikroskopie" zur Feststellung des Zustands Ihrer Hornhaut, Ihrer Bindehaut, der Lider und der Tränenfluessigkeit...". Bei dieser Werbung handelte es sich offenbar um eine wörtliche Übersetzung der Werbung der Vision Express UK Ltd im Vereinigten Königreich.

11 Aufgrund dieser Werbung stellte die Union professionnelle belge des médecins spécialistes en ophtalmologie et chirurgie oculaire (UPBMO) (Belgischer Berufsverband der Fachärzte für Augenheilkunde und Augenchirurgie) im September 1991 als Privatklägerin Strafantrag gegen Grandvision wegen unrechtmäßiger Ausübung der Heilkunst und wahrheitswidriger Werbung.

12 Nach Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen wurden die Herren Mac Quen und Poutoun sowie der Augenoptiker Antoun und die Sekretärin Godts zusammen mit der Firma Grandvision - die als Arbeitgeberin der vier Angeklagten zivilrechtlich haftet - vor dem in Strafsachen tagenden Tribunal de première instance Brüssel angeklagt.

13 Da das Tribunal de première instance Brüssel Zweifel hat, ob die in den Randnummern 3 bis 6 des vorliegenden Urteils aufgeführten belgischen Rechtsvorschriften, wie sie die Cour de cassation ausgelegt hat, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist ein Verbot, das sich aus der Auslegung oder Anwendung einer Bestimmung des nationalen Rechts ergibt und sich an die Augenoptiker in anderen Mitgliedstaaten richtet, innerhalb eines Mitgliedstaats im Rahmen der Korrektur rein optischer Sehfehler Dienstleistungen anzubieten, die in einer objektiven Untersuchung des Sehvermögens bestehen, d. h. anders als nach einer Methode, nach der allein der Kunde die Sehfehler, unter denen er leidet, bestimmt und für die erforderliche Korrektur sorgt, mit den Artikeln 5, 52 und 59 EG-Vertrag vereinbar?

2. Sind die Hindernisse für das Inverkehrbringen von Geräten, die eine objektive Untersuchung des Sehvermögens im Hinblick auf die Korrektur rein optischer Sehfehler ermöglichen, wie z. B. ein Autorefraktometer, die sich in einem Mitgliedstaat aus dem in den nationalen Rechtsvorschriften aufgestellten Verbot für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Augenoptiker ergeben, in diesem Mitgliedstaat Dienstleistungen anzubieten, die in einer objektiven, also nicht subjektiven Untersuchung des Sehvermögens, und zwar im Rahmen der Korrektur gleichwohl rein optischer Sehfehler, bestehen, mit Artikel 30 EG-Vertrag vereinbar?

14 Nach Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diesen Beschluss durch die UPBMO hat der Präsident des Gerichtshofes das Verfahren mit Beschluss vom 28. Juni 1996 ausgesetzt. Nachdem die Cour de cassation, bei der ein Rechtsmittel gegen das Urteil der Cour d'appel Brüssel (Belgien) anhängig war, mit Urteil vom 12. Mai 1999 festgestellt hatte, dass das von der UPBMO bei ihr eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen worden war, ist das Verfahren vor dem Gerichtshof am 11. Juni 1999 fortgesetzt worden.

Vorbemerkungen

15 Die UPBMO trägt vor, das Ausgangsverfahren betreffe einen rein internen Sachverhalt, der keinen Anknüpfungspunkt an das Gemeinschaftsrecht aufweise. Denn als in Belgien tätige Gesellschaft belgischen Rechts befinde sich Grandvision in einer Situation, die nicht vom Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts erfasst werde.

16 Nach den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen sowie den in der Sitzung vorgetragenen Erläuterungen ist Grandvision eine Aktiengesellschaft belgischen Rechts, die von der niederländischen Gesellschaft VE Holdings BV unter der Firma Vision Express Belgium 1990 gegründet wurde. Als Tochtergesellschaft der Gesellschaft englischen Rechts Vision Express UK Ltd gehört sie zu einer Firmengruppe mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten, die Waren und Dienstleistungen im optischen Bereich vertreibt. Die Rechtslage einer solchen Gesellschaft wird nach den Bestimmungen des Artikels 52 des Vertrages vom Gemeinschaftsrecht erfasst.

17 Grandvision trägt vor, über die Auslegung der in Randnummer 3 des vorliegenden Urteils aufgeführten nationalen Rechtsvorschriften herrsche bei den belgischen Stellen Uneinigkeit. Sie weist insbesondere darauf hin, dass die von der Cour de cassation vorgenommene Auslegung, die dahin gehe, den Augenoptikern, die keine Ärzte seien, zu verbieten, objektive Kontrollen des Sehvermögens vorzunehmen, und derartige Untersuchungen den Augenärzten vorzubehalten, von anderen belgischen Gerichten nicht geteilt werde, so dass nicht feststehe, dass die Vornahme solcher Untersuchungen in Belgien Augenoptikern zwingend verboten sei.

18 Wenn unter den Behörden oder den Gerichten der Mitgliedstaaten abweichende Auffassungen über die zutreffende Auslegung nationaler Rechtsvorschriften, insbesondere hinsichtlich ihrer genauen Tragweite bestehen oder zu bestehen scheinen, so ist es nicht Sache des Gerichtshofes, darüber zu entscheiden, welche Auslegung mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar oder am ehesten vereinbar ist. Der Gerichtshof hat vielmehr die Aufgabe, anhand der Sach- und Rechtslage, wie sie das vorlegende Gericht dargestellt hat, das Gemeinschaftsrecht auszulegen, um diesem Gericht sachdienliche Hinweise für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu geben.

Zu den Vorlagefragen

19 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 5, 30, 52 und 59 des Vertrages es verbieten, dass die zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats das nationale Recht der Heilkunde so auslegen, dass im Rahmen der Korrektur rein optischer Sehfehler des Kunden die objektive Untersuchung des Sehvermögens, d. h. eine Untersuchung nach einer anderen Methode als derjenigen, bei der allein der Kunde die Sehfehler bestimmt, unter denen er leidet, den Augenärzten unter Ausschluss u. a. der Augenoptiker, die keine Ärzte sind, vorbehalten ist.

20 Da es im Ausgangsverfahren weder um die Erbringung von Dienstleistungen durch Grandvision oder ihre Mitarbeiter gegenüber in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Empfängern noch um Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Sinne des Artikels 5 des Vertrages geht, braucht die Vereinbarkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verbotes (im Folgenden: streitiges Verbot) mit den Artikeln 5 und 59 des Vertrages nicht geprüft zu werden.

21 Was Artikel 30 des Vertrages betrifft, so wären etwaige einschränkende Auswirkungen des streitigen Verbotes auf den freien Warenverkehr die unvermeidbare Folge dieses Verbotes. Soweit dieses Verbot gerechtfertigt wäre, müssten seine Auswirkungen im Hinblick auf Artikel 30 des Vertrages hingenommen werden.

22 Zu Artikel 52 des Vertrages ist zunächst festzustellen, dass die Frage, ob die objektive Untersuchung des Sehvermögens eine den Augenärzten vorbehaltene Tätigkeit ist, nicht durch die Richtlinien 75/362/EWG und 75/363/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr bzw. zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes (ABl. L 167, S. 1 bzw. 14) und auch durch die Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise (ABl. L 165, S. 1) geregelt wird, die die ersten beiden genannten Richtlinien geändert hat. Außerdem steht fest, dass die Tätigkeit des Augenoptikers nicht Gegenstand einer speziellen gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist.

23 Die UPBMO ist der Ansicht, dass unter diesen Umständen die Mitgliedstaaten berechtigt seien, bestimmte Untersuchungen des Sehvermögens den qualifiziertesten Personen, d. h. den Augenärzten, vorzubehalten. Nach dem Urteil vom 3. Oktober 1990 in der Rechtssache C-61/89 (Bouchoucha, Slg. 1990, I-3551, Randnr. 12) stehe es, da es für die in jener Rechtssache in Rede stehende arztähnliche Tätigkeit an einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung fehle, jedem Mitgliedstaat frei, die Ausübung dieser Tätigkeit in seinem Hoheitsgebiet unter dem einzigen Vorbehalt zu regeln, dass er keine diskriminierende Unterscheidung zwischen seinen eigenen Staatsangehörigen und solchen der anderen Mitgliedstaaten treffe. Für das Ausgangsverfahren gälten die gleichen Erwägungen.

24 Zwar bleiben die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der im Ausgangsverfahren betroffenen Tätigkeiten grundsätzlich befugt, die Ausübung dieser Tätigkeiten zu regeln, jedoch müssen sie ihre Befugnisse in diesem Bereich unter Beachtung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten ausüben (vgl. Urteile vom 29. Oktober 1998 in den Rechtssachen C-193/97 und C-194/97, De Castro Freitas und Escallier, Slg. 1998, I-6747, Randnr. 23, und vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-58/98, Corsten, Slg. 2000, I-7919, Randnr. 31).

25 Nach Artikel 52 Absatz 2 des Vertrages wird die Niederlassungsfreiheit nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen ausgeübt. Ist folglich die Aufnahme oder Ausübung einer bestimmten Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat geregelt, so muss der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, der diese Tätigkeit ausüben will, die Bedingungen dieser Regelung grundsätzlich erfuellen (Urteil vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 36).

26 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes sind jedoch nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten behindern oder unattraktiver machen können, nur unter vier Voraussetzungen zulässig: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie müssen zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. Urteile vom 31. März 1993 in der Rechtssache C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32, Gebhard, Randnr. 37, und, zuletzt, Urteil vom 4. Juli 2000 in der Rechtssache C-424/97, Haim, Slg. 2000, I-5123, Randnr. 57).

27 Zunächst ist zu beachten, dass das streitige Verbot unabhängig von der Staatsangehörigkeit und vom Wohnstaat derjenigen gilt, an die es gerichtet ist.

28 Sodann ist bei der Frage, ob zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen, die die sich aus dem streitigen Verbot ergebende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können, darauf hinzuweisen, dass der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu den Gründen zählt, die gemäß Artikel 56 Absatz 1 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 46 Absatz 1 EG) Einschränkungen rechtfertigen können, die sich aus einer Sonderregelung für Ausländer ergeben. Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung kann daher grundsätzlich auch unterschiedslos geltende nationale Maßnahmen wie im vorliegenden Fall rechtfertigen.

29 Die Bedeutung des Gesundheitsschutzes wird auch dadurch unterstrichen, dass gemäß Artikel 3 Buchstabe o EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe p EG) die Tätigkeit der Gemeinschaft nach Maßgabe des Vertrages und der darin vorgesehenen Zeitfolge einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus umfasst.

30 Behält ein Mitgliedstaat einer Gruppe von besonders qualifizierten Berufstätigen wie den Augenärzten das Recht vor, bei ihren Patienten eine objektive Untersuchung des Sehvermögens mit Hilfe technisch hochentwickelter Instrumente vorzunehmen, die die Feststellung des Augeninnendrucks, die Messung des Gesichtsfeldes oder die Feststellung des Zustands der Hornhaut ermöglicht, so ist diese Entscheidung des betreffenden Mitgliedstaats als ein geeignetes Mittel anzusehen, die Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus zu gewährleisten.

31 Demnach ist zu prüfen, ob das streitige Verbot zur Verwirklichung des Zieles, ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu erreichen, erforderlich und verhältnismäßig ist.

32 Grandvision räumt zwar die Bedeutung der Gesundheit der Bevölkerung ein, sieht jedoch in dem Umstand, dass die Augenärzte über eine höhere berufliche Qualifikation verfügten als die Augenoptiker, allein keine Rechtfertigung dafür, ihnen die objektiven Untersuchungen rein optischer Sehfehler vorzubehalten. Sie trägt vor, es sei nicht bewiesen worden, dass die Verwendung dieser Geräte durch Augenoptiker eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung mit sich bringe, wenn man u. a. bedenke, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten auch von Augenoptikern, die keine Ärzte seien, ausgeübt werden dürften.

33 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat weniger strenge Vorschriften erlässt als ein anderer, nicht bedeutet, dass dessen Vorschriften unverhältnismäßig und folglich mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind (vgl. Urteile vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141, Randnr. 51, und vom 12. Dezember 1996 in der Rechtssache C-3/95, Reisebüro Broede, Slg. 1996, I-6511, Randnr. 42).

34 Der Umstand allein, dass ein Mitgliedstaat andere Schutzregelungen als ein anderer Mitgliedstaat erlassen hat, ist nämlich für die Beurteilung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der einschlägigen Bestimmungen ohne Belang (Urteil vom 21. Oktober 1999 in der Rechtssache C-67/98, Zenatti, Slg. 1999, I-7289, Randnr. 34).

35 Das im Ausgangsverfahren als Grundlage für die Strafverfolgung herangezogene streitige Verbot ist jedoch in keiner gesetzlichen Bestimmung des nationalen Rechts ausdrücklich vorgesehen, sondern ergibt sich vielmehr aus der von der Cour de cassation 1989 vorgenommenen Auslegung einer Reihe einschlägiger nationaler Vorschriften mit dem Ziel, beim Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ein hohes Niveau zu erreichen. Offenbar ist diese Auslegung auf eine Einschätzung der Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung gestützt, die sich ergeben könnten, wenn den Augenoptikern die Vornahme bestimmter Untersuchungen des Sehvermögens erlaubt würde.

36 Eine solche Einschätzung kann sich aber im Laufe der Jahre ändern, insbesondere nach Maßgabe der im betreffenden Bereich erzielten technischen und wissenschaftlichen Fortschritte. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 7. August 2000 (1 BvR 254/99) zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Gefahren, die sich ergeben könnten, wenn den Augenoptikern die Vornahme bestimmter Untersuchungen des Sehvermögens ihrer Patienten wie der Tonometrie und der computergestützten Perimetrie erlaubt würde, nicht geeignet seien, ein Verbot solcher Untersuchungen durch die Augenoptiker zu rechtfertigen.

37 Das vorlegende Gericht hat anhand der Vorschriften des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit sowie der Erfordernisse der Rechtssicherheit und des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu prüfen, ob die von den zuständigen nationalen Stellen insoweit vorgenommene Auslegung des innerstaatlichen Rechts weiterhin eine hinreichende Grundlage für die im Ausgangsverfahren durchgeführte Strafverfolgung ist.

38 Auf die Vorabentscheidungsfragen ist daher wie folgt zu antworten: Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts verwehrt es Artikel 52 des Vertrages den zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats nicht, das nationale Recht der Heilkunde so auszulegen, dass im Rahmen der Korrektur rein optischer Sehfehler des Kunden die objektive Untersuchung des Sehvermögens, d. h. eine Untersuchung nach einer anderen Methode als derjenigen, bei der allein der Kunde die Sehfehler bestimmt, unter denen er leidet, aus Gründen des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung einer Gruppe von besonders qualifizierten Berufstätigen wie den Augenärzten unter Ausschluss u. a. der Augenoptiker, die keine Ärzte sind, vorbehalten ist. Das vorlegende Gericht hat anhand der Vorschriften des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit sowie der Erfordernisse der Rechtssicherheit und des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu prüfen, ob die von den zuständigen nationalen Stellen insoweit vorgenommene Auslegung des innerstaatlichen Rechts weiterhin eine hinreichende Grundlage für die im Ausgangsverfahren durchgeführte Strafverfolgung ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

39 Die Auslagen der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal de première instance Brüssel mit Urteil vom 27. März 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts verwehrt es Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) den zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats nicht, das nationale Recht der Heilkunde so auszulegen, dass im Rahmen der Korrektur rein optischer Sehfehler des Kunden die objektive Untersuchung des Sehvermögens, d. h. eine Untersuchung nach einer anderen Methode als derjenigen, bei der allein der Kunde die Sehfehler bestimmt, unter denen er leidet, aus Gründen des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung einer Gruppe von besonders qualifizierten Berufstätigen wie den Augenärzten unter Ausschluss u. a. der Augenoptiker, die keine Ärzte sind, vorbehalten ist. Das vorlegende Gericht hat anhand der Vorschriften des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit sowie der Erfordernisse der Rechtssicherheit und des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu prüfen, ob die von den zuständigen nationalen Stellen insoweit vorgenommene Auslegung des innerstaatlichen Rechts weiterhin eine hinreichende Grundlage für die im Ausgangsverfahren durchgeführte Strafverfolgung ist.

Ende der Entscheidung

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