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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.11.1995
Aktenzeichen: C-113/94
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, EG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EG-Vertrag Art. 95
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Ein System der Besteuerung von Erzeugnissen, in dem die Höhe der Steuern nach einem objektiven Kriterium progressiv wächst, ist nicht als solches durch das Gemeinschaftsrecht verboten und kann nicht allein deswegen als diskriminierend angesehen werden, weil nur ° insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten ° eingeführte Erzeugnisse in die am höchsten besteuerte Gruppe fallen. Es verstösst nur dann gegen das Verbot des Artikels 95 des Vertrages, wenn es den Verbraucher zugunsten der im Inland hergestellten Erzeugnisse vom Kauf der am höchsten besteuerten eingeführten Erzeugnisse abhalten kann.

2. Artikel 95 des Vertrages steht der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, durch die eine gestaffelte Steuer auf Kraftfahrzeuge eingeführt wird, bei der der Faktor der Progression von einer Steuerstufe zur nächsten für die Stufen jenseits einer bestimmten Hubraumschwelle, unter die nur ° insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten ° eingeführte Fahrzeuge fallen, höher ist als für die niedrigeren Stufen, sofern diese erhöhte Progression, gesetzt den Fall, daß sie bestimmte Verbraucher vom Kauf der von ihr betroffenen Fahrzeuge abhält, keinen Anreiz zum Kauf eines Fahrzeugs inländischer Herstellung darstellt, da die Fahrzeuge der unmittelbar darunterliegenden Steuerstufe in ganz grosser Mehrzahl aus ausländischer Herstellung stammen und da die nächstniedrigere Steuerstufe neben einer Mehrzahl von Fahrzeugen inländischer Herstellung eine grosse Zahl eingeführter Fahrzeuge umfasst.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 30. NOVEMBER 1995. - ELISABETH CASARIN, VERHEIRATETE JACQUIER GEGEN DIRECTEUR GENERAL DES IMPOTS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - FRANKREICH. - ARTIKEL 95 DES VERTRAGES - GESTAFFELTE KRAFTFAHRZEUGSTEUER. - RECHTSSACHE C-113/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die französische Cour de cassation hat mit Beschluß vom 29. März 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 95 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Jacquier, geborene Casarin, und dem Directeur général des impôts du Jura wegen dessen Weigerung, ihr die für ihr Kraftfahrzeug entrichtete gestaffelte Steuer zu erstatten.

3 In Frankreich wurde durch die Artikel 1599 C bis 1599 J des Code général des impôts eine gestaffelte Steuer auf Kraftfahrzeuge eingeführt. Im Wege der Gesetzgebung wurden Steuerstufen festgelegt, die je nach dem Hubraum mehrere Nutzleistungsstufen umfassen. Jeder dieser Steuerstufen entspricht ein Koeffizient. Die Höhe der gestaffelten Steuer ergibt sich aus der Multiplikation eines Grundtarifs, den die Mitglieder der einzelnen Departementsräte jährlich festsetzen, mit den der betreffenden Steuerstufe entsprechenden Koeffizienten.

4 Die Faktoren der Progression von einer Steuerstufe zur anderen, die als "Progressionsköffizienten" bezeichnet werden, entsprechen dem Verhältnis zwischen dem Multiplikationsköffizienten einer Steuerstufe und dem Multiplikationsköffizienten der nächstniedrigeren Steuerstufe.

5 Artikel 1599 G des Code général des impôts ist durch das Gesetz Nr. 87-1061 vom 30. Dezember 1987 (Journal officiel de la République française vom 31. Dezember 1987, S. 15532; im folgenden: Gesetz vom 30. Dezember 1987) geändert worden.

6 Wie aus den Akten hervorgeht, betragen die Progressionsköffizienten, die sich für alle Steuerstufen aus diesem Gesetz ergeben, abgerundet 1,2 von der Steuerstufe 12-14 CV [Steuer-PS] bis zur Steuerstufe 15-16 CV, 1,2 von der Steuerstufe 15-16 CV bis zur Steuerstufe 17-18 CV, 1,5 von der Steuerstufe 17-18 CV bis zur Steuerstufe 19-20 CV, 1,5 von der Steuerstufe 19-20 CV bis zur Steuerstufe 21-22 CV sowie 1,5 von der Steuerstufe 21-22 CV bis zur Steuerstufe 23 CV und höher.

7 Frau Jacquier besitzt ein Kraftfahrzeug der Marke Mercedes mit einer steuerlichen Nutzleistung von 40 CV. Für das Jahr 1990 musste sie gemäß dem Gesetz vom 30. Dezember 1987 die gestaffelte Kraftfahrzeugsteuer entrichten, die für diese Fahrzeugkategorie 10 832 FF betrug.

8 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist der Auffassung, daß das Gesetz vom 30. Dezember 1987 importierte Fahrzeuge diskriminiere, da das durch dieses Gesetz eingeführte Steuersystem einen nicht gerechtfertigten Progressionsbruch aufweise zwischen der letzten Steuerstufe, in der in Frankreich hergestellte Fahrzeuge vertreten seien, nämlich der Steuerstufe 17-18 CV, und den höheren Steuerstufen, die die Fahrzeuge mit hoher steuerlicher Nutzleistung und damit ausschließlich importierte Fahrzeuge beträfen.

9 Da Frau Jacquier der Ansicht war, daß die Steuer auf ihr Kraftfahrzeug demnach unter Verletzung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des Artikels 95 EG-Vertrag erhoben worden sei, reichte sie beim Directeur général des impôts du Jura einen Erstattungsantrag ein.

10 Nachdem dieser ihren Antrag abgelehnt hatte, erhob Frau Jacquier mit Schriftsatz vom 30. Oktober 1990 beim Tribunal de grande instance Lons-le-Saunier gegen ihn Klage. Da dieses Gericht feststellte, daß der Koeffizient für die Progression der nach dem Hubraum der Fahrzeuge festgelegten Steuerstufen stabil sei, vertrat es die Auffassung, daß das Besteuerungssystem keine diskriminierende Wirkung im Sinne von Artikel 95 des Vertrages habe, und wies die Klage von Frau Jacquier durch Urteil vom 3. Dezember 1991 ab.

11 Frau Jacquier legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde ein, die sie auf folgenden Kassationsgrund stützte:

"Ein Besteuerungssystem, das einen Multiplikationsköffizienten anwendet, dessen Progression von Stufe zu Stufe ab den Stufen, die eingeführten Fahrzeugen entsprechen, stärker ist als für die unteren Stufen, denen der Hauptteil der inländischen Produktion entspricht, hat eine durch Artikel 95 des Vertrages von Rom verbotene diskriminierende oder protektionistische Wirkung; das Gericht, das sich, als es das Vorliegen einer solchen Wirkung verneinte, auf die Feststellung beschränkt hat, daß der Koeffizient für die Progression der Stufen stabil sei, wobei dieser jedoch auf zunehmende Werte angewandt wird, hat gegen diesen Artikel verstossen."

12 Aufgrund dieser Überlegungen hat die französische Cour de cassation beschlossen, das Verfahren auszusetzen und den Gerichtshof um Vorabentscheidung über folgende Frage zu ersuchen:

Ist Artikel 95 des Vertrages dahin auszulegen, daß er der Anwendung von Rechtsvorschriften wie den vorliegenden über die Einführung eines Besteuerungssystems für Kraftfahrzeuge entgegensteht, wonach der Progressionsköffizient für die Steuerstufen ab 19 CV, die nur aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Fahrzeuge betreffen, höher ist als der Progressionsköffizient für die Steuerstufen, die von der drei steuerliche Nutzleistungsstufen umfassenden Stufe 12-14 CV bis zur Stufe 17-18 CV reichen und im wesentlichen in Frankreich hergestellte Fahrzeuge betreffen, die im Verhältnis zu den eingeführten Fahrzeugen mit mehr als 19 CV als gleichartige Waren angesehen werden können?

Zur Zulässigkeit

13 Die Kommission führt aus, das vorlegende Gericht wolle wissen, ob der Umstand, daß der Progressionsköffizient für die Steuerstufen über 18 CV höher sei als der Progressionsköffizient für die Steuerstufen 12-14 CV bis 17-18 CV, eine Diskriminierung darstelle, die gegen Artikel 95 des Vertrages verstosse. Sie bezweifelt aber, daß das Fahrzeug von Frau Jacquier, das nach der steuerlichen Einstufung eine hohe Nutzleistung, nämlich 40 CV, aufweise, und die Fahrzeuge inländischer Herstellung, die unter die Steuerstufen 12-14 CV bis 17-18 CV fielen, als gleichartig im Sinne von Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages angesehen werden könnten.

14 Die Kommission fragt sich folglich, ob die von der französischen Cour de cassation vorgelegte Frage zulässig ist, da sie deren Erheblichkeit im Rahmen des Ausgangsverfahrens bezweifelt.

15 Dazu genügt die Feststellung, daß, wie der Generalanwalt in Nummer 20 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Waren gleichartig im Sinne von Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages sind, wenn sie aufgrund ihrer Eigenschaften und der Bedürfnisse, denen sie dienen, miteinander in einem Wettbewerbsverhältnis stehen. Es lässt sich aber nicht von vornherein ausschließen, daß ein starker Anstieg der Steuer auf die Kraftfahrzeuge, die unter die letzten drei Steuerstufen fallen, eine abschreckende Wirkung auf den Verbraucher hat und ihn veranlasst, sich von den Fahrzeugen der höchsten Stufe (23 CV und darüber) abzuwenden, um sich einem inländischen Modell der Steuerstufe 17-18 CV oder 15-16 CV zuzuwenden, soweit seine Mindestanforderungen an Leistung, Grösse und Komfort erfuellt sind.

16 Unter diesen Umständen ist die Frage im Rahmen des Ausgangsverfahrens nicht unerheblich und kann deshalb nicht als unzulässig angesehen werden.

Zur Sache

17 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Urteil vom 9. Mai 1985 in der Rechtssache 112/84 (Humblot, Slg. 1985, 1367, Randnrn. 12 und 13) anerkannt hat, daß es den Mitgliedstaaten beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts freisteht, Erzeugnisse wie Personenwagen einem System der Verkehrssteuer zu unterwerfen, die nach einem objektiven Kriterium, wie dem Hubraum, progressiv wächst, sofern jedoch dieses Besteuerungssystem keine diskriminierende oder protektionistische Wirkung hat.

18 Angesichts des Wortlauts der Vorabentscheidungsfrage muß der Gerichtshof, dem insoweit keine Informationen vorliegen, von der Hypothese ausgehen, daß in einem progessiven Besteuerungssystem wie dem vom vorlegenden Gericht bezeichneten insbesondere die Methode zur Bestimmung der steuerlichen Nutzleistung, die Einteilung der Steuerstufen und die Höhe des steuerlichen Grundtarifs auf objektiven Kriterien beruhen und keine diskriminierende oder protektionistische Wirkung im Sinne von Artikel 95 des Vertrages zugunsten der Fahrzeuge inländischer Herstellung haben.

19 Unter diesen Umständen ist die Frage des vorlegenden Gerichts dahin zu verstehen, daß es im wesentlichen wissen möchte, ob Artikel 95 des Vertrages der Anwendung einer nationalen Regelung über die Kraftfahrzeugsteuer entgegensteht, die einen Anstieg des Progressionsköffizienten wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vorsieht.

20 Zur Beantwortung dieser Frage ist zu prüfen, ob ein Progressionssystem wie das vom vorlegenden Gericht bezeichnete keine diskriminierende oder protektionistische Wirkung hat.

21 Zunächst ist klarzustellen, daß ein Besteuerungssystem nicht allein deswegen als diskriminierend angesehen werden kann, weil nur ° insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten ° eingeführte Erzeugnisse in die am höchsten besteuerte Gruppe fallen (Urteile vom 14. Januar 1981 in der Rechtssache 140/79, Chemial Farmaceutici, Slg. 1981, 1, Randnr. 18, und vom 5. April 1990 in der Rechtssache C-132/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-1567, Randnr. 18).

22 Um festzustellen, ob der Anstieg des Progressionsköffizienten der gestaffelten Steuer jenseits der Schwelle von 18 CV eine diskriminierende oder protektionistische Wirkung hat, ist zu prüfen, ob dieser Anstieg den Verbraucher zugunsten der Fahrzeuge inländischer Herstellung vom Kauf von Fahrzeugen mit einer steuerlichen Nutzleistung von mehr als 18 CV, die alle im Ausland hergestellt werden, abhalten kann.

23 Falls der Anstieg des Koeffizienten, der auf die Fahrzeuge mit einer steuerlichen Nutzleistung von mehr als 18 CV angewandt wird, tatsächlich bestimmte Verbraucher vom Kauf solcher Fahrzeuge abhalten sollte, werden diese Verbraucher ein Modell der unmittelbar darunterliegenden Steuerstufe 17-18 CV oder sogar, wie der Generalanwalt in Nummer 27 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ein Modell der Steuerstufe 15-16 CV wählen.

24 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Steuerstufen 15-16 CV und 17-18 CV sowohl eingeführte Fahrzeuge wie auch Fahrzeuge inländischer Herstellung umfassen. Hinsichtlich der Fahrzeuge der Steuerstufe 17-18 CV ergibt sich aus den Akten, daß es sich in ganz grosser Mehrzahl um Fahrzeuge ausländischer Herstellung handelt und daß die inländischen Hersteller beim Verkauf von Fahrzeugen dieser Stufe einen Marktanteil haben, der nur ungefähr 5 % der gesamten in dieser Stufe verkauften Fahrzeuge ausmacht. In der Stufe 15-16 CV handelt es sich zwar bei der Mehrzahl der verkauften Fahrzeuge um solche inländischer Herstellung, doch ändert dies nichts daran, daß die Verbraucher in dieser Stufe über eine grosse Auswahl an eingeführten Fahrzeugen verfügen und daß, wie aus Randnummer 6 des vorliegenden Urteils hervorgeht, der Progressionsköffizient für die Steuerstufen von 15-16 CV bis 17-18 CV in abgerundeten Zahlen gleich ist, so daß die Verbraucher, die ein Fahrzeug der gehobenen Klasse suchen, dadurch nicht veranlasst werden, ein Fahrzeug der Stufe 15-16 CV zu erwerben.

25 Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, daß in einem System wie dem vorliegenden der Anstieg des Progressionsköffizienten bewirken könnte, daß der Verkauf von Fahrzeugen inländischer Herstellung begünstigt wird.

26 Somit ist auf die Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß Artikel 95 des Vertrages der Anwendung einer nationalen Regelung über die Kraftfahrzeugsteuer, die einen Anstieg des Progressionsköffizienten wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vorsieht, nicht entgegensteht, sofern dieser Anstieg nicht bewirkt, daß der Verkauf von Fahrzeugen inländischer Herstellung gegenüber dem Verkauf der aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Fahrzeuge begünstigt wird.

Kostenentscheidung:

Kosten

27 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm von der französischen Cour de cassation mit Beschluß vom 29. März 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 95 EG-Vertrag steht der Anwendung einer nationalen Regelung über die Kraftfahrzeugsteuer, die einen Anstieg des Progressionsköffizienten wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vorsieht, nicht entgegen, sofern dieser Anstieg nicht bewirkt, daß der Verkauf von Fahrzeugen inländischer Herstellung gegenüber dem Verkauf der aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Fahrzeuge begünstigt wird.

Ende der Entscheidung

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