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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.05.1998
Aktenzeichen: C-113/96
Rechtsgebiete: EGV, Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, Verordnung (EWG) Nr. 2001/83


Vorschriften:

EGV Art. 234
EGV Art. 48
EGV Art. 51
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 6
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 78
Verordnung (EWG) Nr. 2001/83
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

3 Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung ist dahin auszulegen, daß Ziffer ii dieser Vorschrift nicht anwendbar wird, wenn ein Anspruch auf eine Waisenrente, der zunächst aufgrund von Ziffer i im Wohnmitgliedstaat des Empfängers bestand, wegen Erreichung einer Altersgrenze weggefallen ist, während in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften für den Versicherten ebenfalls gegolten haben, bei Anwendung der Zusammenrechnungsregel des Artikels 79 der Verordnung auch über diesen Zeitpunkt hinaus ein Anspruch auf eine Waisenrente bestuende.

4 Die Artikel 48 und 51 des Vertrages lassen es nicht zu, daß Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil ein bilaterales Abkommen über soziale Sicherheit infolge des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1408/71 unanwendbar geworden ist. Dieser Grundsatz kann jedoch insoweit nicht gelten, als bei der ersten Feststellung der Leistungen aufgrund der Verordnung bereits ein Vergleich der sich jeweils aus dieser und aus dem Abkommen ergebenden Vergünstigungen mit dem Ergebnis vorgenommen worden ist, daß die Anwendung der Verordnung günstiger ist als das Vertragsrecht.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 7. Mai 1998. - Manuela Gómez Rodríguez und Gregorio Gómez Rodríguez gegen Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundessozialgericht - Deutschland. - Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Leistungen für Waisen. - Rechtssache C-113/96.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundessozialgericht hat mit Beschluß vom 8. Februar 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 6 und 78 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6; im folgenden: Verordnung) geänderten und aktualisierten Fassung sowie der Artikel 48 und 51 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Manuela Gómez Rodrígüz und Gregorio Gómez Rodrígüz (Kläger des Ausgangsverfahrens) und der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz (Beklagte des Ausgangsverfahrens) über die Gewährung von Waisenrenten.

3 Die Kläger des Ausgangsverfahrens wohnen in Spanien. Ihr Vater, der spanischer Staatsangehöriger war, war als Arbeitnehmer 56 Monate in Deutschland und 80 Monate in Spanien versichert gewesen. Im Februar 1985 starb er in Spanien, ohne eine Rente bezogen zu haben.

4 Mit Bescheiden vom 23. August 1988 gewährte die Beklagte des Ausgangsverfahrens den Klägern für die Zeit vom 7. Februar bis zum 31. Dezember 1985 jeweils Halbwaisenrente auf der Grundlage der Bestimmungen des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Spanien über soziale Sicherheit vom 4. Dezember 1973 (BGBl. II 1977, S. 687) in der Fassung des Ergänzungsabkommens vom 17. Dezember 1975 (BGBl. II 1977, S. 722). Ausserdem teilte die Beklagte ihnen mit, daß der spanische Versicherungsträger ab 1. Januar 1986, dem Tag des Beitritts des Königreichs Spanien zu den Europäischen Gemeinschaften, insbesondere gemäß Artikel 78 Absatz 2 der Verordnung, allein zuständig geworden sei.

5 Diese Vorschrift sieht folgendes vor:

"Die Leistungen für Waisen werden ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Waisen oder die natürliche oder juristische Person, die ihren Unterhalt bestreitet, wohnen, wie folgt gewährt:

a) für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats gegolten haben, gemäß den Rechtsvorschriften dieses Staates;

b) für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben,

i) nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet die Waisen wohnen, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen - gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) - nach den Rechtsvorschriften dieses Staates besteht, oder

ii) in den anderen Fällen nach den Rechtsvorschriften des Staates, die für den Verstorbenen die längste Zeit gegolten haben, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) besteht; wenn nach diesen Rechtsvorschriften kein Anspruch besteht, werden die Anspruchsvoraussetzungen in bezug auf die Rechtsvorschriften der anderen in Betracht kommenden Mitgliedstaaten in der Reihenfolge der abnehmenden Dauer der nach den Rechtsvorschriften dieser Staaten zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten geprüft.

..."

6 Daher gewährte der spanische Rentenversicherungsträger den Klägern Waisenrenten für die Zeit vom 1. Januar 1986 bis zur Vollendung ihres 18. Lebensjahres; zu diesem Zeitpunkt endete nach den spanischen Rechtsvorschriften ihr Anspruch auf Waisenrente.

7 Sie stellten daraufhin bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens einen Antrag auf Gewährung von Waisenrenten nach den deutschen Rechtsvorschriften, wonach Leistungen für Personen, die sich in der Schulausbildung befinden, bis zu einem Hoechstalter von 25 Jahren weiter gewährt werden.

8 Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, auch nach dem Wegfall der spanischen Rentenleistungen bestehe nach Artikel 78 Absatz 2 der Verordnung kein Anspruch auf die nach deutschem Recht vorgesehene Waisenrente, zumal die Voraussetzungen dafür im vorliegenden Fall nicht erfuellt seien, da der Verstorbene die erforderliche Wartezeit von 60 Monaten nicht zurückgelegt habe.

9 Widerspruch, Klage und Berufung der Kläger gegenüber dieser ablehnenden Entscheidung blieben ohne Erfolg.

10 Mit Schriftsatz vom 7. November 1994 legten sie daher beim Bundessozialgericht Revision ein. Sie machten geltend, aus Artikel 78 Absatz 2 der Verordnung gehe nicht hervor, daß eine einmal nach Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe b begründete Zuständigkeit niemals in Frage gestellt werden könne. Der Anspruch auf eine deutsche Waisenrente entfalle nur so lange, wie ein Rentenanspruch nach den spanischen Rechtsvorschriften bestehe. Dies sei hier nicht mehr der Fall, da das spanische Gesetz Leistungen für Waisen nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres vorsehe.

11 In seinem Vorlagebeschluß führt das Bundessozialgericht aus, es werde darüber gestritten, ob die Beklagte verpflichtet sei, den Klägern die Waisenrenten, die sie ihnen bereits für die Zeit bis zum Beitritt des Königreichs Spanien zu den Europäischen Gemeinschaften gewährt habe, in Anbetracht dessen erneut zu zahlen, daß die Zahlung der Waisenrenten, die sie seitdem vom spanischen Versicherungsträger bezogen hätten, jeweils mit Vollendung des 18. Lebensjahres geendet habe. Das Bundessozialgericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen, daß die darin enthaltene Bestimmung der für die Leistungsgewährung maßgeblichen Rechtsvorschriften auch dann auf Dauer gilt, wenn der Anspruch auf Waisenrente zwar zunächst in dem danach zuständigen Mitgliedstaat (hier: Wohnstaat) bestand, er jedoch später wegen Erreichens einer Altersgrenze wieder entfallen ist, während in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften für den Versicherten ebenfalls gegolten haben, bei Anwendung des Artikels 79 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auch über diesen Zeitpunkt hinaus ein Waisenrentenanspruch bestehen würde, oder findet in solch einem Fall ein Wechsel der maßgeblichen Rechtsvorschriften nach Maßgabe des Artikels 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung statt?

2. Gehört zu den Vergünstigungen der sozialen Sicherheit, die Waisen nicht dadurch verlieren dürfen, daß ein in das nationale Recht eingeführtes Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 unanwendbar geworden ist, auch die Aussicht, eine bereits von einem Mitgliedstaat unter Anwendung eines derartigen Abkommens gewährte Waisenrente für eine längere Dauer (z. B. im Falle einer Schul- oder Berufsausbildung auch über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus) zu beziehen als die Waisenrente, die nach den gemäß Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 maßgeblichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zu gewähren ist?

3. Bei Bejahung der Frage 2: Können Waisen, die bereits vor dem Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nach dem Recht eines Mitgliedstaats unter Berücksichtigung eines zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Sozialversicherungsabkommens einen Waisenrentenanspruch hatten, wieder auf diesen zurückgreifen, soweit ein zunächst nach den gemäß Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 maßgebenden Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebener Leistungsanspruch nicht mehr besteht?

Zur ersten Frage

12 Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung dahin auszulegen ist, daß seine in Ziffer ii enthaltenen Regelungen anwendbar werden, wenn ein Anspruch auf eine Waisenrente, der zunächst aufgrund von Ziffer i im Wohnmitgliedstaat des Empfängers bestand, wegen Erreichung einer Altersgrenze weggefallen ist, während in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften für den Versicherten ebenfalls gegolten haben, bei Anwendung der Zusammenrechnungsregel des Artikels 79 der Verordnung auch über diesen Zeitpunkt ein Anspruch auf eine Waisenrente bestuende.

13 Die deutsche und die österreichische Regierung vertreten die Ansicht, die Intention des Gemeinschaftsgesetzgebers spreche ebenso wie Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften der Verordnung dafür, daß nach dem Auslaufen der vom Wohnstaat gezahlten Familienleistungen kein Zuständigkeitswechsel mehr stattfinde. Die durch die streitige Vorschrift bewirkte Koordinierung beruhe auf dem Grundsatz, daß ein einziger Mitgliedstaat, nämlich der Wohnstaat, für die Gewährung der Waisenrenten zuständig sei. Andernfalls blieben die Mitgliedstaaten, die eine höhere Altersgrenze vorsähen, unabhängig vom Wohnort der Waisen immer dafür zuständig, diesen eine dem gesamten Versicherungsverlauf des Verstorbenen entsprechende Rente zu gewähren, und zwar unabhängig davon, wieviele Versicherungszeiten in diesen Mitgliedstaaten zurückgelegt worden seien.

14 Die Kläger des Ausgangsverfahrens sowie die spanische und die griechische Regierung machen dagegen geltend, Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffern i und ii der Verordnung impliziere eine sukzessive Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften. Der Umstand, daß der Anspruch auf spanische Leistungen erlösche, wenn die Empfänger das 18. Lebensjahr vollendeten, lasse daher eine andere Sachlage entstehen, die die Anwendung einer anderen Regelung gemäß Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung gebiete.

15 Zunächst bedeute der in Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i verwendete Ausdruck "wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen... besteht", daß die Zuständigkeit des Trägers des Wohnstaates nur so lange erhalten bleibe, bis der Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften dieses Staates entfalle. Sodann würde eine andere Auslegung gegen die Grundsätze der Freizuegigkeit der Wanderarbeitnehmer und der Gleichbehandlung verstossen, denn die Waisen hätten auf jeden Fall Anspruch auf Leistungen, wenn sie ihren Wohnort nach Deutschland verlegen würden.

16 Die Kommission ist ebenfalls der Auffassung, die Zuständigkeit des deutschen Trägers sei im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen. Zunächst sei zwar das Königreich Spanien der vorrangig zuständige Staat gewesen; in dem Moment, in dem der spanische Anspruch nicht oder nicht mehr habe realisiert werden können, sei aber der nächstrangige Staat, d. h. die Bundesrepublik Deutschland, zuständig geworden.

17 Die spanische und die griechische Regierung sowie die Kommission stützen ihr Vorbringen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach der Anspruch auf Familienleistungen zu Lasten des Staates, in dem die Waise wohne, nicht zum Wegfall des zuvor begründeten Anspruchs auf höhere Leistungen zu Lasten eines anderen Mitgliedstaats führe. In diesem Fall schulde der letztgenannte Mitgliedstaat eine Zusatzleistung in Höhe des Unterschieds zwischen den beiden Beträgen (im folgenden: Zusatzleistung) (vgl. u. a. Urteile vom 12. Juni 1980 in der Rechtssache 733/79, Laterza, Slg. 1980, 1915, vom 9. Juli 1980 in der Rechtssache 807/79, Gravina, Slg. 1980, 2205, und vom 11. Juni 1991 in der Rechtssache C-251/89, Athanasopoulos u. a., Slg. 1991, I-2797). Die spanische und die griechische Regierung sowie die Kommission tragen vor, der Umstand, daß im Ausgangsrechtsstreit in der Vergangenheit keine Zusatzleistung gezahlt worden sei - sei es, daß sich rechnerisch kein Unterschiedsbetrag ergeben habe, oder sei es, daß die Leistungen nicht beantragt worden seien -, könne nicht zu einem endgültigen Anspruchsverlust führen.

18 Auch die schwedische Regierung verweist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Zusatzleistung und macht geltend, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens sei diese Zusatzleistung von dem anderen Mitgliedstaat auch dann zu zahlen, wenn der Leistungsanspruch im Wohnstaat erloschen sei. Diese Sachlage sei nicht anders zu behandeln als der Fall, daß eine Zusatzleistung aufgrund dessen gezahlt werde, daß das Leistungsniveau im anderen Mitgliedstaat höher als im Wohnstaat sei.

19 Aus den Erklärungen der Kläger des Ausgangsverfahrens, der spanischen, der griechischen und der schwedischen Regierung sowie der Kommission geht hervor, daß ein Anspruch auf deutsche Leistungen in einem Fall wie demjenigen des Ausgangsverfahrens eine Grundlage entweder in der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Zusatzleistung oder in Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii haben könnte, der dadurch anwendbar wird, daß der aufgrund von Ziffer i dieser Vorschrift bestehende Anspruch auf Waisenrente im Wohnstaat geendet hat.

20 Im Urteil vom 27. Februar 1997 in der Rechtssache 59/95 (Bastos Moriana u. a., Slg. 1997, I-1071) hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Zusatzleistung präzisiert. Er hat sich nämlich zu der Frage geäussert, ob der zuständige Träger eines Mitgliedstaats nach den Artikeln 77 und 78 der Verordnung selbst dann verpflichtet ist, Rentnern oder Waisen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, eine Zusatzleistung zu gewähren, wenn der Rentenanspruch oder der Anspruch auf Leistungen für Waisen nicht ausschließlich aufgrund von Versicherungszeiten erworben wurde, die im erstgenannten Staat zurückgelegt wurden.

21 Der Gerichtshof hat zunächst darauf hingewiesen, daß die Artikel 77 und 78 der Verordnung der Bestimmung des Mitgliedstaats dienen, nach dessen Recht sich die Gewährung von Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern und für Waisen regelt; die Leistungen werden dann grundsätzlich nach dem Recht allein dieses Mitgliedstaats gewährt. Nach dem jeweiligen Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i dieser Artikel werden die in Rede stehenden Leistungen nach dem Recht des Staates gewährt, in dessen Gebiet der Rentner oder die Waise des verstorbenen Arbeitnehmers wohnt, wenn für den Rentner oder den verstorbenen Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gelten bzw. gegolten haben (Urteil Bastos Moriana u. a., a. a. O., Randnr. 15).

22 Der Gerichtshof hat dann festgestellt, daß die für die Zusatzleistung aufgestellte Regel (vgl. u. a. Urteile Laterza und Gravina, a. a. O.) auf dem Grundsatz beruht, daß der Zweck der Artikel 48 bis 51 EG-Vertrag verfehlt würde, wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machen, deswegen Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats zustehen (Urteil Bastos Moriana u. a., a. a. O., Randnr. 17; vgl. auch Urteil vom 21. Oktober 1975 in der Rechtssache 24/75, Petroni, Slg. 1975, 1149, Randnr. 13).

23 Der Gerichtshof hat aber ausgeführt, daß die Anwendung der Artikel 77 und 78 der Verordnung, nach denen der Wohnmitgliedstaat für die Gewährung der in Rede stehenden Familienleistungen allein zuständig ist, dazu führen kann, daß Betroffene Leistungsansprüche verlieren, die ihnen allein nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats zustehen. Daher sind diese Bestimmungen in den Urteilen Laterza und Gravina so ausgelegt worden, daß der Grundsatz, daß nur ein Staat Familienleistungen schuldet, eine Ausnahme dahin gehend erfährt, daß der andere Mitgliedstaat eine Zusatzleistung schuldet (vgl. Urteil Bastos Moriana u. a., a. a. O., Randnr. 18).

24 Der Gerichtshof ist schließlich zu dem Ergebnis gelangt, daß die Überlegungen, auf denen diese Ausnahme beruht, ihre Erstreckung auf den Fall verbieten, daß die Ansprüche des Rentners oder der Waisen nur durch die Anwendung der Bestimmungen der Verordnung über die Zusammenrechnung eröffnet sind. Denn in diesem Fall entzieht die Anwendung der Artikel 77 und 78 den Betroffenen keine Leistungen, die ihnen allein nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats zustehen (Urteil Bastos Moriana u. a., a. a. O., Randnr. 19).

25 Nach alledem kann ein Anspruch auf deutsche Leistungen in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren streitigen in der Anwendung der Rechtsprechung zur Zusatzleistung keine Grundlage haben. Im vorliegenden Fall ist nämlich kein Anspruch auf deutsche Leistungen allein auf der Grundlage der in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten erworben worden, so daß den Klägern durch die Anwendung der Vorschriften der Verordnung, die die Zuständigkeit des Wohnstaats vorsehen, keine allein nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats eröffneten Ansprüche entzogen worden sein können.

26 Ferner wird allein aufgrund des Umstands, daß die in Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i genannte Leistung im Wohnstaat ausläuft, weil eine Altersgrenze erreicht wird, wodurch der Leistungsanspruch generell endet, nicht Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii anwendbar.

27 Durch Artikel 78 Absatz 2 der Verordnung soll nämlich der für die Gewährung von Leistungen an Waisen zuständige Staat bestimmt werden, insbesondere wenn für den Verstorbenen die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben. Diese Bestimmung bewirkt, daß gemäß dem in Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung niedergelegten Grundsatz, daß nur ein nationales Recht anwendbar sein soll, die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats anwendbar werden.

28 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Mitgliedstaaten, wie der Gerichtshof mehrfach festgestellt hat, für die Festlegung der Höhe der von ihnen gewährten Leistungen und die Dauer der Gewährung allein zuständig bleiben (vgl. u. a. Urteil vom 3. Mai 1990 in der Rechtssache C-2/89, Kits van Heijningen, Slg. 1990, I-1755, Randnr. 19).

29 Unter diesen Voraussetzungen kann der Umstand, daß die Gewährung der Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften des nach Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i bestimmten Mitgliedstaats mit der Begründung eingestellt worden ist, daß der Empfänger die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistungen in bezug auf die Altersgrenze nicht mehr erfuelle, nicht dazu führen, daß für dasselbe Risiko durch Rückgriff auf einen anderen in Artikel 78 Absatz 2 enthaltenen Anknüpfungsfaktor ein anderer Mitgliedstaat zuständig wird.

30 Wenn man sich die von den Klägern des Ausgangsverfahrens sowie der spanischen und der griechischen Regierung vorgeschlagene Auslegung zu eigen machte, wären darüber hinaus, wie die deutsche und die österreichische Regierung unterstrichen haben, die Mitgliedstaaten, die die höchste Altersgrenze für Ansprüche auf Waisenrente festgesetzt haben, unabhängig vom Wohnort der Waisen und unabhängig von der Dauer der Versicherungszeiten, die der Versicherte in den einzelnen Mitgliedstaaten zurückgelegt hat, immer für die Gewährung der Leistungen zuständig.

31 Wie die deutsche Regierung vorgetragen hat, ist es im übrigen nicht angezeigt, Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii in einem Fall anzuwenden, in dem der Wohnmitgliedstaat die Zahlung der Leistungen nicht mehr als erforderlich ansieht, etwa weil der Empfänger wegen seines Alters in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, oder weil sonstige Leistungen, wie z. B. Ausbildungsbeihilfen, an die Stelle der Familienleistungen treten.

32 Ist der im Wohnstaat eröffnete Leistungsanspruch erloschen, weil eine Altersgrenze erreicht wurde, so ist der zuständige Träger eines anderen Mitgliedstaats folglich nicht verpflichtet, den Betroffenen Leistungen zu gewähren, es sei denn, daß diese ihren Anspruch allein aufgrund von in diesem Staat zurückgelegten Versicherungszeiten erworben haben.

33 Auf die erste Vorabentscheidungsfrage ist daher zu antworten, daß Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung dahin auszulegen ist, daß Ziffer ii dieser Vorschrift nicht anwendbar wird, wenn ein Anspruch auf eine Waisenrente, der zunächst aufgrund von Ziffer i im Wohnmitgliedstaat des Empfängers bestand, wegen Erreichung einer Altersgrenze weggefallen ist, während in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften für den Versicherten ebenfalls gegolten haben, bei Anwendung der Zusammenrechnungsregel des Artikels 79 der Verordnung auch über diesen Zeitpunkt hinaus ein Anspruch auf eine Waisenrente bestuende.

Zur zweiten und zur dritten Frage

34 Die zweite und die dritte Frage des vorlegenden Gerichts gehen im wesentlichen dahin, ob die Artikel 48 und 51 des Vertrages in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens es nicht zulassen, daß Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil ein bilaterales Sozialversicherungsabkommen infolge des Inkrafttretens der Verordnung unanwendbar wird.

35 Nach Ansicht der Kläger des Ausgangsverfahrens, der spanischen, der griechischen und der schwedischen Regierung sowie der Kommission ist diese Frage zu bejahen. Sie sind nämlich der Auffassung, daß die im Urteil vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-227/89 (Rönfeldt, Slg. 1991, I-323) aufgestellten und im Urteil vom 9. November 1995 in der Rechtssache C-475/93 (Thévenon, Slg. 1995, I-3813) näher darlegten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfuellt sind.

36 Die deutsche und die österreichische Regierung vertreten dagegen die Auffassung, diese Rechtsprechung könne in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens keine Anwendung finden. Insbesondere sei diese Lösung nicht praktikabel, da die bestehenden bilateralen und multilateralen Abkommen so verschiedenartig seien, daß es verwaltungsmässig unsinnig wäre, von den Sozialversicherungsträgern der Mitgliedstaaten zu verlangen, bei jedem Wanderarbeitnehmer nicht nur seine Ansprüche aus nationalem Recht und aus dem Gemeinschaftsrecht, sondern auch die aus diesen Abkommen erwachsenden Ansprüche zu berücksichtigen.

37 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Verordnung nach ihrem Artikel 6 unter bestimmten Vorbehalten im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle von Abkommen über soziale Sicherheit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten tritt.

38 Im Urteil vom 7. Juni 1973 in der Rechtssache 82/72 (Walder, Slg. 1973, 599, Randnrn. 6 und 7), das die Auslegung der Artikel 6 und 7 der Verordnung betrifft, hat der Gerichtshof festgestellt, daß diese Bestimmungen klar erkennen lassen, daß der Grundsatz, wonach die Gemeinschaftsverordnungen an die Stelle der Abkommen über soziale Sicherheit zwischen Mitgliedstaaten tritt, zwingend ist und abgesehen von den in den Verordnungen ausdrücklich geregelten Fällen selbst dann keine Ausnahme zulässt, wenn diese Abkommen über soziale Sicherheit für die Personen, für die sie gelten, höhere Leistungen vorsehen, als sie sich aus den Verordnungen ergeben.

39 Im bereits angeführten Urteil Rönfeldt hat der Gerichtshof jedoch für Recht erkannt, daß Artikel 48 Absatz 2 und Artikel 51 des Vertrages es nicht zulassen, daß Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil in das nationale Recht eingeführte Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung unanwendbar geworden sind.

40 Im bereits genannten Urteil Thévenon hat der Gerichtshof ausgeführt, daß dem Urteil Rönfeldt besondere Umstände zugrunde gelegen hätten, die in einem Fall wie dem seinerzeit vorliegenden fehlten, in dem der Versicherte sein Recht auf Freizuegigkeit erst nach Inkrafttreten der Verordnung ausgeuebt hatte, also zu einer Zeit, zu der die Verordnung bereits an die Stelle des bilateralen Abkommens getreten war.

41 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ist festzustellen, daß der Vater der Betroffenen seine Versicherungszeiten in Spanien und in Deutschland vor dem Beitritt des Königreichs Spanien zu den Europäischen Gemeinschaften zurückgelegt hatte und daß die im Urteil Rönfeldt herausgearbeitete und im Urteil Thévenon näher bestimmte Regel daher grundsätzlich anwendbar ist.

42 Personen wie die Kläger des Ausgangsverfahrens dürften daher die Vergünstigungen der sozialen Sicherheit, die sich für sie aus dem betreffenden bilateralen Abkommen ergaben, nicht verlieren.

43 Dazu trägt die deutsche Regierung vor, im vorliegenden Fall sei bereits ein Vergleich der sich jeweils aus dem bilateralen Abkommen und aus der Verordnung ergebenden Vergünstigungen gemäß Artikel 118 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 74, S. 1) mit dem Ergebnis vorgenommen worden, daß die Anwendung der Verordnung günstiger sei als das Vertragsrecht.

44 Artikel 118 Absatz 1 der Verordnung Nr. 574/72 gilt in den Fällen, in denen die Verordnung im Zeitraum zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und der ersten Feststellung der Leistung in Kraft tritt. In diesem Fall führt der Rentenantrag nach dieser Vorschrift zu einer doppelten Feststellung, und zwar gemäß dem Abkommen für die Zeit vor der Anwendung der Verordnung und gemäß der Verordnung für die Zeit nach dem Inkrafttreten der Verordnung. Ausserdem bestimmt die Vorschrift aber, daß der Betroffene weiter den nach dem Abkommen berechneten Betrag erhält, wenn dieser höher ist als der nach der Verordnung.

45 Da bereits ein Vergleich der sich aus dem Abkommen ergebenden Vergünstigungen mit den aus der Verordnung erwachsenden mit dem Ergebnis vorgenommen worden ist, daß die Regelung der Verordnung für die Kläger günstiger ist, kann der im Urteil Rönfeldt herausgearbeitete Grundsatz nicht angewendet werden.

46 Andernfalls könnten nämlich alle Wanderarbeitnehmer, die sich in der gleichen Lage wie die Kläger befinden, jederzeit verlangen, daß, je nachdem, was für sie zu einem gegebenen Zeitpunkt zum günstigeren Ergebnis führt, entweder die Regelung der Verordnung oder die Regelung des Abkommens angewendet wird.

47 Ein solcher Vergleich der Vergünstigungen, der während der gesamten Dauer der Gewährung der Leistungen fortlaufend immer dann durchgeführt würde, wenn eine tatsächliche Änderung der persönlichen Lage der Betroffenen eintritt, würde den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten erhebliche Verwaltungsprobleme aufbürden, obwohl sich in der Verordnung keinerlei Grundlage dafür findet.

48 Auf die zweite und die dritte Frage ist daher zu antworten, daß die Artikel 48 und 51 des Vertrages es nicht zulassen, daß Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil ein bilaterales Abkommen über soziale Sicherheit infolge des Inkrafttretens der Verordnung unanwendbar geworden ist. Dieser Grundsatz kann jedoch insoweit nicht gelten, als bei der ersten Feststellung der Leistungen aufgrund der Verordnung bereits ein Vergleich der sich jeweils aus dieser und aus dem Abkommen ergebenden Vergünstigungen mit dem Ergebnis vorgenommen worden ist, daß die Anwendung der Verordnung günstiger ist als das Vertragsrecht.

Kostenentscheidung:

Kosten

49 Die Auslagen der deutschen, der griechischen, der spanischen, der österreichischen und der schwedischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Bundessozialgericht mit Beschluß vom 8. Februar 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung ist dahin auszulegen, daß Ziffer ii dieser Vorschrift nicht anwendbar wird, wenn ein Anspruch auf eine Waisenrente, der zunächst aufgrund von Ziffer i im Wohnmitgliedstaat des Empfängers bestand, wegen Erreichung einer Altersgrenze weggefallen ist, während in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften für den Versicherten ebenfalls gegolten haben, bei Anwendung der Zusammenrechnungsregel des Artikels 79 der Verordnung auch über diesem Zeitpunkt hinaus ein Anspruch auf eine Waisenrente bestuende.

2. Die Artikel 48 und 51 des Vertrages lassen es nicht zu, daß Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil ein bilaterales Abkommen über soziale Sicherheit infolge des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1408/71 unanwendbar geworden ist. Dieser Grundsatz kann jedoch insoweit nicht gelten, als bei der ersten Feststellung der Leistungen aufgrund der Verordnung bereits ein Vergleich der sich jeweils aus dieser und aus dem Abkommen ergebenden Vergünstigungen mit dem Ergebnis vorgenommen worden ist, daß die Anwendung der Verordnung günstiger ist als das Vertragsrecht.

Ende der Entscheidung

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