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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.07.1995
Aktenzeichen: C-116/94
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, RiLi 76/207 EWG


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
RiLi 76/207 EWG Art. 1
RiLi 76/207 EWG Art. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Eine Leistung wie der Family credit, die eine Person in Großbritannien erhalten kann, wenn ihr Einkommen einen bestimmten Betrag nicht übersteigt, wenn sie oder ihr Ehegatte eine entgeltliche Beschäftigung ausübt und wenn sie oder ihr Ehegatte für ein Kind oder ein anderes Mitglied desselben Haushalts verantwortlich ist, und die eine Doppelfunktion erfuellt, nämlich zum einen, gering bezahlte Arbeitnehmer anzuregen, weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und zum anderen, dem Ausgleich von Familienlasten zu dienen, hat mit ihrer ersten Funktion ein Ziel, das sie in den Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen fallen lässt.

Der Begriff des Zugangs zur Beschäftigung in Artikel 3 der Richtlinie ist nämlich dahin zu verstehen, daß er nicht nur die Bedingungen betrifft, die vor der Begründung eines Arbeitsverhältnisses bestehen. Die Aussicht, im Fall der Annahme einer gering bezahlten Beschäftigung einen Family credit zu erhalten, bietet einen Anreiz für einen Arbeitslosen, diese Beschäftigung anzunehmen, so daß sich die Leistung auf Erwägungen des Zugangs zur Beschäftigung bezieht. Im übrigen impliziert die Wahrung des fundamentalen Grundsatzes der Gleichbehandlung, daß eine Leistung wie der Family credit, die notwendig mit einem Arbeitsverhältnis verknüpft ist, eine Arbeitsbedingung im Sinne von Artikel 5 der Richtlinie darstellt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (VIERTE KAMMER) VOM 13. JULI 1995. - JENNIFER MEYERS GEGEN ADJUDICATION OFFICER. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SOCIAL SECURITY COMMISSIONER - VEREINIGTES KOENIGREICH. - GLEICHBEHANDLUNG VON MAENNERN UND FRAUEN - RICHTLINIE 76/207/EWG - VORAUSSETZUNGEN FUER DEN ZUGANG ZUR BESCHAEFTIGUNG - ARBEITSBEDINGUNGEN - FAMILY CREDIT. - RECHTSSACHE C-116/94.

Entscheidungsgründe:

1 Der Social Security Commissioner, London, hat mit Entscheidung vom 11. Februar 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 19. April 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40; im folgenden: die Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Jennifer Meyers und dem Adjudication Officer über das Recht von Frau Meyers, von ihrem Bruttolohn die Kinderbetreuungskosten abzuziehen, um den Family credit zu erhalten.

3 Der Family credit ist eine einkommensabhängige Leistung, die gewährt wird, um das Einkommen von Arbeitnehmern mit niedrigem Lohn, die für ein Kind verantwortlich sind, zu ergänzen.

4 Gemäß Section 20 des Social Security Act 1986 hat eine Person in Großbritannien Anspruch auf Family credit, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem der Antrag gestellt wird oder als gestellt gilt,

° ihr Einkommen bestimmte Beträge nicht übersteigt,

° sie oder gegebenenfalls ihr Ehegatte oder die Person, mit der sie in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenlebt, gewöhnlich eine entgeltliche Beschäftigung ausübt und

° sie oder gegebenenfalls ihr Ehegatte oder die Person, mit der sie in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenlebt, für ein Mitglied desselben Haushalts verantwortlich ist, das ein Kind oder eine andere Person, die bestimmte Voraussetzungen erfuellt, ist.

5 Nach Absatz 6 dieser Section wird "der Family credit für einen Zeitraum von 26 Wochen oder einen anderen festgelegten Zeitraum gezahlt...; soweit nicht in Regulations etwas anderes bestimmt ist, werden die Gewährung des Family credit und der Satz, zu dem er zu zahlen ist, durch eine Änderung der Umstände, die in diesem Zeitraum eintritt, nicht berührt..."

6 Frau Meyers, die alleinerziehend ist, stellte einen Antrag auf Family credit für sich und ihre dreijährige Tochter. Dieser Antrag wurde vom Adjudication Officer mit der Begründung abgelehnt, daß ihr Einkommen, wie es für diese Leistung berechnet worden sei, über dem Betrag liege, bis zu dem ein Leistungsanspruch bestehe.

7 In ihrem beim Social Security Appeal Tribunal gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf trug Frau Meyers vor, daß der Nichtabzug von Kinderbetreuungskosten bei der Berechnung ihres Nettoeinkommens eine Diskriminierung der Alleinerziehenden darstelle, denn es sei für Paare viel leichter, ihre Arbeitszeiten so aufeinander abzustimmen, daß einer von ihnen auf die Kinder aufpassen könne. Da die Mehrzahl der Alleinerziehenden Frauen seien, handele es sich um eine mittelbare Diskriminierung der Frauen.

8 Das Social Security Appeal Tribunal folgte diesem Argument von Frau Meyers.

9 Im Rechtsmittelverfahren vor dem Social Security Commissioner ist zwischen den Parteien jedoch unstreitig, daß das erstinstanzliche Gericht eine Bestimmung des nationalen Rechts fehlerhaft angewendet hat. Der Social Security Commissioner weist darauf hin, daß sich Frau Meyers auf die unmittelbare Wirkung von Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie berufen könne, falls der Family credit in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle.

10 Die Vorlagefrage, die sich daher nur auf diesen letztgenannten Punkt bezieht, hat folgenden Wortlaut:

Fällt eine Leistung, die die Merkmale und den Zweck des Family credit hat, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207/EWG des Rates?

11 Die Richtlinie hat nach Artikel 1 Absatz 1 zum Ziel, daß in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen verwirklicht wird. Nach Absatz 2 dieses Artikels erlässt der Rat im Hinblick auf die schrittweise Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit auf Vorschlag der Kommission Bestimmungen, in denen dazu insbesondere der Inhalt, die Tragweite und die Anwendungsmodalitäten angegeben sind.

12 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes der Gleichbehandlung die in Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie für das Gebiet der sozialen Sicherheit vorgesehene Ausnahme vom Anwendungsbereich der Richtlinie eng auszulegen (vgl. Urteile vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 151/84, Roberts, Slg. 1986, 703, Randnr. 35, und in der Rechtssache 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Randnr. 36).

13 Der Gerichtshof hat daher entschieden, daß ein Leistungssystem nicht allein deswegen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen werden kann, weil es, formal gesehen, Bestandteil eines nationalen Systems der sozialen Sicherheit ist. Ein solches Leistungssystem kann unter die Richtlinie fallen, wenn es den Zugang zur Beschäftigung einschließlich des beruflichen Aufstiegs und der Berufsbildung oder die Arbeitsbedingungen zum Gegenstand hat. Jedoch reicht der Umstand, daß die Voraussetzungen für den Anspruch auf die Gewährung von Leistungen dazu führen können, daß die Möglichkeit des Zugangs zur Beschäftigung für einen alleinstehenden Elternteil beeinträchtigt wird, für sich allein nicht aus, um die Anwendbarkeit der Richtlinie zu begründen (vgl. Urteil vom 16. Juli 1992 in den verbundenen Rechtssachen C-63/91 und C-64/91, Jackson und Creßwell, Slg. 1992, I-4737, Randnrn. 27, 28 und 31).

14 Im Hinblick auf diese Voraussetzungen ist somit zu prüfen, ob die Merkmale einer Leistung wie des Family credit geeignet sind, diese Leistung in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen zu lassen.

15 Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs ist der Family credit gemäß Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen. Der Family credit bezwecke, Personen, deren Mittel zur Deckung ihrer Bedürfnisse nicht ausreichten, ein zusätzliches Einkommen zu gewähren. Diese Qualifizierung als zusätzliches Einkommen rechtfertige sich dadurch, daß, wenn ein Paar den Antrag stelle, der Family credit an die Frau gezahlt werde, unabhängig davon, ob sie die Person sei, die die entgeltliche Beschäftigung ausübe. Das Vereinigte Königreich hebt ausserdem hervor, daß die Zahlung während eines Zeitraums von 26 Wochen erfolge, auch wenn sich die Lage ändere, und daß Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen über diese Leistung bei den zuständigen Stellen der sozialen Sicherheit eingelegt würden. Schließlich trägt das Vereinigte Königreich vor, daß der Family credit weder den Zugang zur Beschäftigung, da er Personen gewährt werde, die bereits beschäftigt seien, noch die Arbeitsbedingungen betreffe, da diese nur Maßnahmen entsprächen, die im Arbeitsvertrag festgelegt seien oder die vom Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses angewendet würden.

16 Diesen Argumenten kann nicht gefolgt werden.

17 Wie aus dem genannten Urteil Jackson und Creßwell hervorgeht, kann die formale Zugehörigkeit eines Leistungssystems zu einem nationalen System der sozialen Sicherheit, die die nationalen Rechtsbehelfe auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit im Ausgangsverfahren anwendbar macht, dieses Leistungssystem nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen.

18 In seinem Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-78/91 (Hughes, Slg. 1992, I-4839, Randnr. 19) hat der Gerichtshof ausgeführt, daß der Family credit in Nordirland eine Doppelfunktion erfuellte, nämlich zum einen, gering bezahlte Arbeitnehmer anzuregen, weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und zum anderen, dem Ausgleich von Familienlasten zu dienen. Wegen dieser zweiten Funktion hat er (Randnr. 20) die Ansicht vertreten, daß eine Leistung wie der Family credit unter die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung fällt.

19 Diese Qualifizierung kann jedoch nicht verhindern, daß eine gleichartige Leistung wegen ihrer Funktion, Arbeitnehmern mit niedrigem Lohn ihren Arbeitsplatz zu erhalten, in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, soweit sie den Zugang zur Beschäftigung sowie die Arbeitsbedingungen zum Gegenstand hat.

20 Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, daß die Ausübung einer entgeltlichen Beschäftigung zu den Voraussetzungen für die Gewährung eines Family credit gehört. Nach den Texten, auf die die Regierung des Vereinigten Königreichs in ihren schriftlichen Erklärungen Bezug nimmt, bezweckt die Leistung, sicherzustellen, daß sich die Familien, wenn sie arbeiten, nicht in einer weniger günstigen materiellen Lage befinden, als wenn sie nicht arbeiten. Sie soll somit Arbeitnehmern mit niedrigem Lohn ihren Arbeitsplatz erhalten.

21 Unter diesen Umständen hat der Family credit den Zugang zur Beschäftigung im Sinne von Artikel 3 der Richtlinie zum Gegenstand.

22 Es ist hinzuzufügen, daß der Begriff des Zugangs zu einer Beschäftigung nicht nur die Bedingungen betrifft, die vor der Begründung eines Arbeitsverhältnisses bestanden. Wie der Generalanwalt in Nummer 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bietet die Aussicht, im Fall der Annahme einer gering bezahlten Beschäftigung einen Family credit zu erhalten, einen Anreiz für einen Arbeitslosen, diese Beschäftigung anzunehmen, so daß sich die Leistung auf Erwägungen des Zugangs zur Beschäftigung bezieht.

23 Diese Feststellung wird durch die anderen Argumente der Regierung des Vereinigten Königreichs nicht widerlegt, die beweisen sollen, daß kein Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis bestehe. Es ist nämlich gerade das Arbeitsverhältnis, das zu der Leistung berechtigt, auch wenn der Arbeitnehmer nicht der unmittelbare Empfänger dieser Leistung ist, falls es sich um eine verheiratete oder in nichtehelicher Gemeinschaft lebende Frau handelt, die keiner Beschäftigung nachgeht, jedoch die Leistung erhält, weil ihr Ehemann oder die Person, mit der sie zusammenlebt, eine Beschäftigung ausübt. Der Umstand, daß der Anspruch auf Family credit durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder eine Lohnerhöhung während der 26 Wochen nach der Bewilligung nicht berührt wird, kann die Feststellung nicht entkräften, daß die Leistung nur gewährt wird, wenn der Antragsteller einer entgeltlichen Beschäftigung nachgeht und kein Einkommen bezieht, das einen bestimmten Betrag übersteigt.

24 Im übrigen impliziert die Wahrung des fundamentalen Grundsatzes der Gleichbehandlung, daß eine Leistung wie der Family credit, die notwendig mit einem Arbeitsverhältnis verknüpft ist, eine Arbeitsbedingung im Sinne von Artikel 5 der Richtlinie darstellt. Würde man diesen letztgenannten Begriff auf die Arbeitsbedingungen beschränken, die im Arbeitsvertrag enthalten sind oder vom Arbeitgeber im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses angewendet werden, so liefe dies darauf hinaus, daß Situationen, die unmittelbar auf dem Arbeitsverhältnis beruhen, dem Anwendungsbereich der Richtlinie entzogen würden.

25 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß eine Leistung, die die Merkmale und den Zweck des Family credit hat, den Zugang zur Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen zum Gegenstand hat und daher in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

auf die ihm vom Social Security Commissioner, London, mit Entscheidung vom 11. Februar 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Eine Leistung, die die Merkmale und den Zweck des Family credit hat, hat den Zugang zur Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen zum Gegenstand und fällt daher in den Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen.

Ende der Entscheidung

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