Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.07.1990
Aktenzeichen: C-117/89
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 76
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 73
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 soll es den Wanderarbeitnehmern erleichtern, Familienbeihilfen in ihrem Beschäftigungsstaat zu erlangen, wenn ihre Familie ihnen nicht in diesen Staat gefolgt ist. Artikel 73 wird durch Artikel 76 ergänzt, der lediglich die Möglichkeit einer Kumulierung von Beihilfen einschränken soll. Artikel 76 in der Fassung der Verordnung Nr. 2001/83 ist dahin auszulegen, daß der nach Artikel 73 bestehende Anspruch auf Familienleistungen oder -beihilfen in dem Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil beschäftigt ist, nicht ausgesetzt wird, wenn die Leistungen oder Beihilfen in dem Mitgliedstaat, in dem Familienangehörige wohnen, nur deshalb nicht oder nicht weiter zu zahlen sind, weil ein entsprechender Antrag nicht oder nicht mehr gestellt wurde.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 4. JULI 1990. - KLAUS JUERGEN KRACHT GEGEN BUNDESANSTALT FUER ARBEIT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BUNDESSOZIALGERICHT - DEUTSCHLAND. - SOZIALE SICHERHEIT - FAMILIENBEIHILFEN - AUSSETZUNG DES LEISTUNGANSPRUCHS. - RECHTSSACHE C-117/89.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundessozialgericht hat mit Beschluß vom 22. Februar 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 10. April 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 76 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern ( ABl. L 149, S. 2 ), in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 ( ABl. L 230, S. 6 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Kracht und der Bundesanstalt für Arbeit wegen deren Weigerung, Familienbeihilfen zu gewähren.

3 Herr Kracht übt im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes eine Arbeitnehmertätigkeit aus. Seine Ehefrau, eine italienische Staatsangehörige, wohnt mit den beiden gemeinsamen Kindern Marco, geboren am 3. Mai 1964, und Lukas Oliver, geboren am 11. März 1966, in Italien. Sie arbeitet bei einer Bank in Mailand.

4 Frau Kracht bezog für ihre beiden Söhne Kindergeld nach italienischem Recht nur bis zum 31. Dezember 1983, da sie von diesem Zeitpunkt an keinen entsprechenden Antrag mehr stellte. Auch als Lukas Oliver im September 1986 ein Studium aufnahm, stellte Frau Kracht bei dem zuständigen italienischen Träger keinen Antrag auf Kindergeld.

5 Als die Bundesanstalt für Arbeit ( Beklagte des Ausgangsverfahrens ) es ablehnte, Kindergeld an Herrn Kracht zu zahlen, wandte dieser sich an das Sozialgericht Oldenburg, das durch Urteil vom 12. Juni 1987 die Ablehnungsbescheide aufhob. Mit seinem Urteil vom 22. September 1987 wies das Landessozialgericht Niedersachsen die Berufung der Beklagten zurück, die gegen deren Verurteilung zur laufenden Kindergeldzahlung unter Berücksichtigung von Marco ab dem 1. Januar 1984 und von Lukas Oliver ab dem 1. September 1986 gerichtet war. Mit Beschluß vom 22. Februar 1989 hat der 10. Senat des Bundessozialgerichts als Revisionsinstanz das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

1. Wird der Anspruch auf Leistungen nach Artikel 73 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 gemäß Artikel 76 dieser Verordnung ausgesetzt, wenn die Familienleistungen oder -beihilfen in dem Mitgliedstaat, in dem Familienangehörige wohnen, nur deshalb nicht weiter zu zahlen sind, weil die Leistungen nicht beantragt werden?

2. Wird der Anspruch auf Leistungen nach Artikel 73 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 gemäß Artikel 76 dieser Verordnung ausgesetzt, wenn die Familienleistungen oder -beihilfen in dem Mitgliedstaat, in dem Familienangehörige wohnen, nur deshalb nicht weiter zu zahlen sind, weil die Leistungen von einem willkürlich bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr beansprucht werden?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Die beiden Fragen des vorlegenden Gerichts sind zusammen zu behandeln. Sie gehen im Kern dahin, ob der Anspruch auf Leistungen nach Artikel 73 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 gemäß Artikel 76 dieser Verordnung ausgesetzt wird, wenn die Familienleistungen oder -beihilfen in dem Mitgliedstaat, in dem Familienangehörige wohnen, nur deshalb nicht weiter zu zahlen sind, weil ein entsprechender Antrag nicht oder nicht mehr gestellt wurde.

8 Artikel 73 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 2001/83 lautet :

Arbeitnehmer

"( 1 ) Ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als Frankreich unterliegt, hat für seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob die Familienangehörigen in diesem Staat wohnten."

9 Artikel 76 der Verordnung in derselben Fassung bestimmt :

Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -beihilfen gemäß Artikel 73 oder 74 und bei Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in dem Land, in dem die Familienangehörigen wohnen

"Der Anspruch auf die nach den Artikeln 73 und 74 geschuldeten Familienleistungen oder Familienbeihilfen wird ausgesetzt, wenn wegen der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit Familienleistungen oder Familienbeihilfen auch nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Familienangehörigen wohnen, zu zahlen sind."

10 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 76 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 ( ABl. L 331, S. 1 ), wonach der Beschäftigungsstaat den Anspruch auf die Familienleistungen aussetzen kann, wenn in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt wird, erst mit Wirkung vom 1. Mai 1990 gilt. Er hat somit keinen Einfluß auf die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts.

11 Sodann ist zu bemerken, daß den Urteilen vom 13. November 1984 in der Rechtssache 191/83 ( Salzano, Slg. 1984, 3741 ) und vom 23. April 1986 in der Rechtssache 153/84 ( Ferraioli, Slg. 1986, 1401 ) zufolge der Anspruch auf Familienbeihilfen, die im Beschäftigungsstaat eines Elternteils zu zahlen sind, nicht ausgesetzt wird, wenn der andere Elternteil mit den Kindern in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und dort eine berufliche Tätigkeit ausübt, jedoch keine Familienbeihilfen für die Kinder bezieht, weil nicht alle Voraussetzungen des Rechts dieses Mitgliedstaats für die tatsächliche Auszahlung der Beihilfen, einschließlich der Voraussetzung einer vorherigen Antragstellung, erfuellt sind.

12 Das vorlegende Gericht hält indessen eine Überprüfung dieser Auslegung für geboten. Es ist der Ansicht, Artikel 76 der Verordnung Nr. 1408/71 sei eine zwingende Prioritätsregel, die nicht durch eine Willenserklärung des Berechtigten ausser Wirkung gesetzt werden könne. In der mündlichen Verhandlung hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls diese Auffassung vertreten. Sie hat geltend gemacht, durch den Ausschluß eines Wahlrechts des Leistungsberechtigten ließen sich praktische Schwierigkeiten - die sich zum Beispiel daraus ergäben, daß der Berechtigte die Verteilung der finanziellen Belastung verschieben oder Leistungen des Wohnsitzstaats der Familie mit Leistungen des Beschäftigungsstaats kumulieren könne - vermeiden, ohne daß er dadurch in irgendeiner Weise benachteiligt würde, da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Beschäftigungsstaat den Unterschiedsbetrag zuzuschießen habe, wenn seine Leistungen höher seien als diejenigen, die im Wohnsitzstaat der Familie des Wanderarbeitnehmers vorgesehen seien. Im übrigen handele es sich bei der Neufassung des Artikels 76 lediglich um eine klarstellende Auslegungsregel, nicht aber um eine Neuregelung.

13 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.

14 Wie der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, ist das mit Artikel 51 EWG-Vertrag verfolgte Ziel, die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer herzustellen, für die Auslegung der Verordnungen maßgebend, die der Rat auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer erlassen hat. Die in den vorerwähnten Urteilen vorgenommene Auslegung des Artikels 76 steht mit diesem Ziel in Einklang.

15 Der Gerichtshof hat Artikel 76 nämlich in dem Sinne ausgelegt, daß dadurch lediglich die Möglichkeit einer Kumulierung von Beihilfen eingeschränkt werden soll. In dieser Auslegung ist Artikel 76 eine Ergänzung zu Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71, der es den Wanderarbeitnehmern erleichtern soll, Familienbeihilfen in ihrem Beschäftigungsstaat zu erlangen, wenn ihre Familie ihnen nicht in diesen Staat gefolgt ist.

16 Sollte die fragliche Bestimmung hingegen, wie die Bundesregierung meint, als eine zwingende Prioritätsregel aufgefasst werden, so würde sie eine Einschränkung der den Wanderarbeitnehmern gemäß Artikel 73 zustehenden Vergünstigungen bewirken.

17 Schließlich kann der Bundesregierung auch insoweit nicht gefolgt werden, als sie geltend macht, die durch die Verordnung Nr. 3427/89 erfolgte Neufassung von Artikel 76 der Verordnung Nr. 1408/71 bezwecke lediglich die Klarstellung einer Rechtslage, zu der es bisher unterschiedliche Auffassungen gegeben habe. Diese Auffassung steht nämlich in klarem Widerspruch zu Artikel 3 der Verordnung Nr. 3427/89, wonach Artikel 76 in seiner geänderten Fassung erst mit Wirkung vom 1. Mai 1990 gilt, während alle übrigen Bestimmungen dieser Verordnung mit Wirkung vom 15. Januar 1986 für anwendbar erklärt werden.

18 Dem vorlegenden Gericht ist deshalb zu antworten, daß Artikel 76 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 dahin auszulegen ist, daß der Anspruch auf Leistungen nach Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht ausgesetzt wird, wenn die Familienleistungen oder -beihilfen in dem Mitgliedstaat, in dem Familienangehörige wohnen, nur deshalb nicht weiter zu zahlen sind, weil ein entsprechender Antrag nicht oder nicht mehr gestellt wurde.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der Regierung der Italienischen Republik und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

auf die ihm vom Bundessozialgericht mit Beschluß vom 22. Februar 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

Artikel 76 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 ist dahin auszulegen, daß der Anspruch auf Leistungen nach Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht ausgesetzt wird, wenn die Familienleistungen oder -beihilfen in dem Mitgliedstaat, in dem Familienangehörige wohnen, nur deshalb nicht weiter zu zahlen sind, weil ein entsprechender Antrag nicht oder nicht mehr gestellt wurde.

Ende der Entscheidung

Zurück