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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.09.2004
Aktenzeichen: C-125/03
Rechtsgebiete: Richtlinie 92/50/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 92/50/EWG Art. 8
Richtlinie 92/50/EWG Art. 15 Abs. 2
Richtlinie 92/50/EWG Art. 16 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Parteien:

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer) 9. September 2004(1)

"Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Zulässigkeit - Rechtsschutzbedürfnis - Richtlinie 92/50/EWG - Öffentliche Aufträge - Müllentsorgungsdienste - Verfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung"

In der Rechtssache C-125/03

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG,

eingereicht am 20. März 2003,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Wiedner als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch W.-D. Plessing und A. Tiemann, Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter) sowie der Richter A. Rosas, S. von Bahr, K. Lenaerts und K. Schiemann,

Generalanwalt: L. A. Geelhoed, Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften beim Gerichtshof, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) verstoßen hat, dass die von den Städten Lüdinghausen und Olfen sowie den Gemeinden Nordkirchen, Senden und Ascheberg abgeschlossenen Müllentsorgungsverträge ohne Einhaltung der in Artikel 8 in Verbindung mit den Artikeln 15 Absatz 2 und 16 Absatz 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Bekanntmachungsvorschriften vergeben wurden.

Rechtlicher Rahmen

2 Nach Artikel 8 der Richtlinie 92/50 werden "Aufträge, deren Gegenstand Dienstleistungen des Anhangs IA sind, ... nach den Vorschriften der Abschnitte III bis VI vergeben".

3 Artikel 15 Absatz 2 dieser Richtlinie bestimmt, dass "[d]ie Auftraggeber, die einen Dienstleistungsauftrag im Wege eines offenen, eines nicht offenen oder - in den in Artikel 11 genannten Fällen - eines Verhandlungsverfahrens vergeben wollen, ... ihre Absicht durch Bekanntmachung mit[teilen]".

4 Nach Artikel 16 Absatz 1 der genannten Richtlinie "[schicken d]ie Auftraggeber, die einen Auftrag vergeben, ... dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften eine Bekanntmachung über die Ergebnisse des Vergabeverfahrens".

Sachverhalt und Vorverfahren

5 1997 schlossen die Städte Lüdinghausen und Olfen sowie die Gemeinden Nordkirchen, Senden und Ascheberg Müllentsorgungsverträge, ohne das in der Richtlinie 92/50 vorgesehene Verfahren anzuwenden. Diese Verträge hatten eine Laufzeit bis zum 31. Dezember 2003.

6 Nachdem die Kommission der Bundesrepublik Deutschland Gelegenheit zur Äußerung gegeben hatte, gab sie am 20. April 2001 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie feststellte, dass die Müllentsorgungsaufträge der Städte Lüdinghausen und Olfen sowie der Gemeinden Nordkirchen, Senden und Ascheberg (im Folgenden: die betreffenden Aufträge) im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften gemäß der Richtlinie 92/50 hätten ausgeschrieben werden müssen und dass die Bundesrepublik Deutschland diese Verträge hätte beenden müssen. Daher forderte sie den Mitgliedstaat auf, seinen Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag binnen zwei Monaten nachzukommen. Da die Kommission die von den deutschen Behörden mit Schreiben vom 22. Juni 2001 mitgeteilte Antwort für unbefriedigend hielt, hat sie beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

Zur Klage

Zur Zulässigkeit der Klage

Vorbringen der Parteien

7 Die deutsche Regierung trägt vor, dass die Klage unzulässig sei, weil bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist keine Verletzung des Gemeinschaftsrechts fortbestanden habe.

8 Zu diesem Zeitpunkt habe schon das Anerkenntnis der Bundesrepublik Deutschland vorgelegen, dass die betreffenden Aufträge unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht abgeschlossen worden seien, und sie habe sichergestellt, dass bei der Vergabepraxis der betreffenden öffentlichen Auftraggeber künftig ein gemeinschaftsrechtskonformer Zustand herrschen werde. Da diese nicht verpflichtet gewesen seien, die Verträge zu beenden, habe die Bundesrepublik Deutschland zu diesem Zeitpunkt schon die erforderlichen Maßnahmen getroffen, um den Beanstandungen der Kommission nachzukommen.

9 Die Kommission hält die Klage für zulässig.

10 Die Vertragsverletzung bestehe während der gesamten Dauer der Erfüllung der rechtswidrigen Verträge fort (vgl. Urteil vom 10. April 2003 in den Rechtssachen C-20/01 und C-28/01, Kommission/Deutschland, Slg. 2003, I-3609, Randnrn. 35 und 36). Die Absicht, künftig die Müllentsorgungsverträge in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht über die Vergabe öffentlicher Aufträge zu vergeben, genüge nicht, um die beanstandete Vertragsverletzung zu beenden (vgl. Urteil vom 28. Oktober 1999 in der Rechtssache C-328/96, Kommission/Österreich, Slg. 1999, I-7479, Randnrn. 42-44). Da die Erfüllung der betreffenden Verträge zum Zeitpunkt des Ablaufs der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht abgeschlossen gewesen sei, habe der Verstoß weiter angedauert und sei erst am 31. Dezember 2003 beendet worden (Urteil Kommission/Deutschland, Randnrn. 32, 38 und 39).

Würdigung durch den Gerichtshof

11 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut des Artikels 226 Absatz 2 EG eine Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung nur dann erhoben werden kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission nicht innerhalb der darin gesetzten Frist nachgekommen ist (vgl. Urteil vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-362/90, Kommission/Italien, Slg. 1992, I-2353, Randnr. 9).

12 Wenngleich der Gerichtshof im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge entschieden hat, dass bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzten Frist ein Verstoß dann nicht mehr besteht, wenn alle Wirkungen der fraglichen Ausschreibung zu diesem Zeitpunkt schon erschöpft waren (in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, Randnrn. 11 und 13), ergibt sich jedoch ebenfalls aus der Rechtsprechung, dass ein Verstoß zu diesem Zeitpunkt fortbesteht, wenn die unter Verletzung der Gemeinschaftsbestimmungen über öffentliche Aufträge geschlossenen Verträge weiter fortwirken (in diesem Sinne Urteile Kommission/Österreich, Randnr. 44, und Kommission/Deutschland, Randnrn. 34 bis 37).

13 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Erfüllung der nach Ansicht der Kommission unter Verstoß gegen die Bestimmungen der Richtlinie 92/50 geschlossenen Müllentsorgungsverträge zum Zeitpunkt des Ablaufs der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht abgeschlossen war. Folglich bestand der vermeintliche Verstoß zu diesem Zeitpunkt noch fort und wurde erst zum Zeitpunkt des Ablaufs dieser Verträge beendet.

14 In diesem Zusammenhang kann dem gegen die Zulässigkeit der Vertragsverletzungsklage gerichteten Vorbringen der deutschen Regierung nicht gefolgt werden.

15 Nach Ansicht der deutschen Regierung ergibt sich aus Artikel 2 Absatz 6 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33), dass das Prinzip pacta sunt servanda einer Pflicht zur Beendigung dieser Verträge entgegenstehe und auch den Bestand solcher Verträge schütze, die unter Verstoß gegen vergaberechtliche Bestimmungen zustande gekommen seien. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Bestimmung zwar die Mitgliedstaaten ermächtigt, nach Vertragsabschluss den nationalen Rechtsschutz auf Schadensersatz für die durch einen solchen Verstoß geschädigten Personen zu begrenzen, dass sie aber nicht dazu führt, dass das Verhalten eines öffentlichen Auftraggebers in jedem Fall im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage als gemeinschaftsrechtskonform anzusehen ist (in diesem Sinne Urteil Kommission/Deutschland, Randnrn. 38 und 39).

16 Zum Argument, dass die Bundesrepublik Deutschland die Fehlerhaftigkeit der fraglichen Vergabeverfahren eingeräumt habe, ist festzustellen, dass es im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage Sache des Gerichtshofes ist, festzustellen, ob die beanstandete Vertragsverletzung vorliegt oder nicht, auch wenn der beklagte Mitgliedstaat die Vertragsverletzung nicht mehr bestreitet. Andernfalls könnten die Mitgliedstaaten allein dadurch, dass sie die Vertragsverletzung einräumen und die sich daraus möglicherweise ergebende Haftung anerkennen, ein beim Gerichtshof anhängiges Vertragsverletzungsverfahren jederzeit beenden, ohne dass das Vorliegen der Vertragsverletzung und der Grund für ihre Haftung jemals gerichtlich festgestellt worden wären (in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 1993 in der Rechtssache C-243/89, Kommission/Dänemark, Slg. 1993, I-3353, Randnr. 30, und Kommission/Deutschland, Randnrn. 40 und 41).

17 Nach alledem ist die von der Kommission erhobene Klage zulässig.

Zur Begründetheit

18 Die Kommission macht als einzige Rüge geltend, dass die betreffenden Aufträge nach den Vorgaben der Artikel 8, 15 Absatz 2 und 16 Absatz 1 der Richtlinie 92/50 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften hätten ausgeschrieben werden müssen.

19 Die deutsche Regierung räumt ein, dass die betreffenden öffentlichen Auftraggeber ihre Dienstleistungsaufträge im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften hätten ausschreiben müssen; diese Veröffentlichung sei nicht erfolgt.

20 Die Klage der Kommission ist daher begründet.

21 Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/50 verstoßen hat, dass die von den Städten Lüdinghausen und Olfen sowie den Gemeinden Nordkirchen, Senden und Ascheberg abgeschlossenen Müllentsorgungsverträge ohne Einhaltung der in Artikel 8 in Verbindung mit den Artikeln 15 Absatz 2 und 16 Absatz 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Bekanntmachungsvorschriften vergeben wurden.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

Tenor:

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge verstoßen, dass die von den Städten Lüdinghausen und Olfen sowie den Gemeinden Nordkirchen, Senden und Ascheberg abgeschlossenen Müllentsorgungsverträge ohne Einhaltung der in Artikel 8 in Verbindung mit den Artikeln 15 Absatz 2 und 16 Absatz 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Bekanntmachungsvorschriften vergeben wurden.

2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.

Ende der Entscheidung

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