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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 12.07.1993
Aktenzeichen: C-128/91
Rechtsgebiete: Verordnung (EWG) Nr. 294/91 vom 4. Februar 1991, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Verordnung (EWG) Nr. 294/91 vom 4. Februar 1991 Art. 1 Abs. 3
EWG-Vertrag Art. 173 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung Nr. 294/91 über den Betrieb von Luftfrachtdiensten zwischen Mitgliedstaaten, mit dem die Anwendung dieser Verordnung auf den Flughafen Gibraltar bis zum Inkrafttreten der zwischen dem Königreich Spanien und dem Vereinigten Königreich für diesen Flughafen vereinbarten Kooperationsregelung ausgesetzt wird, kann nicht als eine Bestimmung angesehen werden, die eine Entscheidung im Sinne von Artikel 173 Absatz 2 des Vertrages enthält. Eine von einer natürlichen oder juristischen Person gegen diese Bestimmung erhobene Nichtigkeitsklage ist daher unzulässig.

In einem Rechtsakt enthaltene Beschränkungen oder Ausnahmen sind nämlich Bestandteil der gesamten Vorschriften, in denen sie stehen, und teilen ausser im Falle eines Ermessensmißbrauchs deren allgemeine Rechtsnatur. So gilt auch die fragliche Vorschrift, mit der die Anwendung der ° ihrerseits allgemein geltenden ° Verordnung ausgesetzt wird, in gleicher Weise für alle Luftverkehrsunternehmen, die einen Luftfrachtdienst zwischen einem anderen Flughafen der Gemeinschaft und dem Flughafen Gibraltar betreiben wollen, und, allgemeiner, für alle Nutzer dieses Flughafens. Mit der Vorschrift wird ausserdem nur die Konsequenz aus dem Vorliegen eines objektiven, aus einer Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Mitgliedstaaten resultierenden Hindernisses gezogen, das der sofortigen Anwendung der Verordnung auf den Flughafen Gibraltar entgegensteht.


BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 12. JULI 1993. - GOVERNMENT OF GIBRALTAR UND GIBRALTAR DEVELOPMENT CORPORATION GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - KLAGE AUF NICHTIGERKLAERUNG EINER VERORDNUNG - BETRIEB VON LUFTFRACHTDIENSTEN ZWISCHEN MITGLIEDSTAATEN. - RECHTSSACHE C-128/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die Regierung von Gibraltar und die Gibraltar Development Corporation haben mit Klageschrift, die am 8. Mai 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung des Artikels 1 Absatz 3 der Verordnung (EWG) Nr. 294/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über den Betrieb von Luftfrachtdiensten zwischen Mitgliedstaaten (ABl. L 36, S. 1).

2 Die Verordnung Nr. 294/91 betrifft den Marktzugang von Luftfrachtunternehmen der Gemeinschaft zu Luftfrachtdiensten zwischen Mitgliedstaaten sowie die Luftfrachtfahrten zwischen Mitgliedstaaten. Mit ihr sollen im Anschluß an die Liberalisierung der Luftfrachtdienste in Verbindung mit Passagierdiensten, die die Verordnung (EWG) Nr. 2343/90 des Rates vom 24. Juli 1990 über den Zugang von Luftverkehrsunternehmen zu Strecken des innergemeinschaftlichen Linienflugverkehrs und über die Aufteilung der Kapazitäten für die Personenbeförderung zwischen Luftverkehrsunternehmen im Linienflugdienst zwischen Mitgliedstaaten (ABl. L 217, S. 8) vorsieht, die ausschließlich Luftfracht befördernden Dienste liberalisiert werden.

3 Wie die Verordnung Nr. 2343/90 enthält die Verordnung Nr. 294/91 eine Bestimmung, mit der ihre Anwendung auf den Flugplatz Gibraltar bis zur Anwendung der Regelung über eine Zusammenarbeit ausgesetzt wird, die zwischen den Regierungen des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vereinbart worden ist.

4 Diese in Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung enthaltene Bestimmung, die Gegenstand der vorliegenden Klage ist, lautet:

"Die Anwendung dieser Verordnung auf den Flugplatz Gibraltar wird bis zur Anwendung der Regelung ausgesetzt, die in der gemeinsamen Erklärung der Aussenminister des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 enthalten ist. Die Regierungen des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs werden den Rat von dem Zeitpunkt der Anwendung unterrichten."

5 Die gemeinsame Erklärung der Aussenminister des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 sieht unter Punkt 8 namentlich vor, daß die Regelung über die gemeinsame Nutzung des Flugplatzes Gibraltar Anwendung findet, sobald die britischen Behörden den spanischen Behörden mitgeteilt haben, daß die zur Umsetzung von Punkt 3.3. (Zoll- und Einwanderungskontrollen in jedem Abfertigungsgebäude) erforderlichen Regelungen in Kraft getreten sind, und sobald ferner der Bau des spanischen Abfertigungsgebäudes abgeschlossen ist, spätestens aber ein Jahr nach der oben genannten Mitteilung.

6 Der Rat hat gegen die Klage gemäß Artikel 91 § 1 Absatz 1 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben und beantragt, vorab darüber zu entscheiden.

7 Der Präsident des Gerichtshofes hat mit Beschlüssen vom 16. Oktober 1991 gemäß Artikel 93 §§ 1 und 2 der Verfahrensordnung das Königreich Spanien, das Vereinigte Königreich und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Beklagten zugelassen.

8 Zur Begründung der von ihm erhobenen Einrede der Unzulässigkeit rügt der Rat zum ersten die fehlende Klagebefugnis der Regierung von Gibraltar, da die Erhebung der vorliegenden Klage nach britischem Recht in die Zuständigkeit des Gouverneurs falle. Er macht ferner geltend, daß beide Klägerinnen, sowohl die Regierung von Gibraltar als auch die Gibraltar Development Corporation, von der angefochtenen Bestimmung weder unmittelbar noch individuell betroffen seien.

9 Die Regierung von Gibraltar und die Gibraltar Development Corporation beantragen, die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen. Sie verweisen zum ersten darauf, daß die Rechtspersönlichkeit der Regierung von Gibraltar im britischen Recht anerkannt sei und insbesondere die Befugnis zur Erhebung der vorliegenden Klage umfasse, da diese eine "definierte örtliche Angelegenheit" im Sinne von Artikel 55 der Gibraltar Constitution Order vom 23. Mai 1969 und der "Despatch" des Aussenministers an den Gouverneur von Gibraltar vom gleichen Tage betreffe; nach letzterer seien die Minister von Gibraltar u. a. für den Tourismus und das Abfertigungsgebäude des Zivilflughafens zuständig. Die Klägerinnen machen weiter geltend, daß die Regierung von Gibraltar wegen der Form ihrer Beteiligung am Zulassungsverfahren für Luftfrachtdienste und als Verantwortliche für die Förderung des Wohls der Bevölkerung von Gibraltar durch die in Frage stehende Bestimmung unmittelbar und individuell betroffen sei. Als Eigentümerin des zivilen Abfertigungsgebäudes des Flughafens Gibraltar sei auch die Gibraltar Development Corporation durch diese Bestimmung unmittelbar und individuell betroffen.

10 Die Streithelfer haben sich alle der vom Rat erhobenen Einrede der Unzulässigkeit angeschlossen und diese ergänzend begründet. Sie rügen, daß die Regierung von Gibraltar keine Rechtspersönlichkeit und keine Klagebefugnis besitze, und machen weiter geltend, daß die angefochtene Verordnung keine Entscheidung enthalte, die eine der Klägerinnen unmittelbar und individuell beträfe.

11 Wird eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Artikel 91 § 1 der Verfahrensordnung erhoben, so wird nach Artikel 91 § 3 über den Antrag mündlich verhandelt, sofern der Gerichtshof nichts anderes bestimmt. Der Gerichtshof ist der Auffassung, daß ihm hier genügend Informationen vorliegen, um über die Zulässigkeit der Klage ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß entscheiden zu können.

12 Artikel 173 EWG-Vertrag bestimmt:

"Der Gerichtshof überwacht die Rechtmässigkeit des Handelns des Rates und der Kommission, soweit es sich nicht um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt. Zu diesem Zweck ist er für Klagen zuständig, die ein Mitgliedstaat, der Rat oder die Kommission wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung dieses Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmißbrauchs erhebt.

Jede persönliche oder juristische Person kann unter den gleichen Voraussetzungen gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen..."

13 Da die Regierung von Gibraltar und die Gibraltar Development Corporation nicht zu den Klagebefugten nach Artikel 173 Absatz 1 gehören und dies auch nicht geltend machen, ist die Zulässigkeit ihrer Klage ausschließlich nach Artikel 173 Absatz 2 zu prüfen.

14 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff "Entscheidung" in Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes seit dem Urteil vom 14. Dezember 1962 in den verbundenen Rechtssachen 16/62 und 17/62 (Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes/Rat, Slg. 1962, 963) in dem sich aus Artikel 189 EWG-Vertrag ergebenden technischen Sinn aufzufassen und das maßgebende Merkmal zur Unterscheidung zwischen einem Rechtsetzungsakt und einer Entscheidung im Sinne des letztgenannten Artikels darin zu sehen ist, ob die fragliche Maßnahme allgemeine Geltung hat.

15 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes verliert eine Maßnahme auch nicht etwa dadurch ihre allgemeine Geltung und damit ihren normativen Charakter, daß sich die Personen, für die sie in einem gegebenen Zeitpunkt gilt, der Zahl nach oder sogar namentlich mehr oder weniger genau bestimmen lassen, sofern nur feststeht, daß die Maßnahme nach ihrer Zweckbestimmung aufgrund eines durch sie festgelegten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist (Urteile vom 11. Juli 1968 in der Rechtssache 6/68, Zuckerfabrik Watenstedt/Rat, Slg. 1968, 612, vom 16. April 1970 in der Rechtssache 64/69, Compagnie française commerciale et financière/Kommission, Slg. 1970, 221, Randnr. 11, vom 30. September 1982 in der Rechtssache 242/81, Roquette Frères/Rat, Slg. 1982, 3213, Randnr. 7, und vom 26. April 1988 in den verbundenen Rechtssachen 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, Asteris/Kommission, Slg. 1988, 2181, Randnr. 13, Beschluß vom 13. Juli 1988 in der Rechtssache 160/88 R, Fédération européenne de la santé animale/Rat, Slg. 1988, 4121, Randnr. 29, und Urteil vom 24. November 1992 in den verbundenen Rechtssachen C-15/91 und C-108/91, Buckl/Kommission, Slg. 1992, I-6061, Randnr. 25).

16 Schließlich hat der Gerichtshof bereits festgestellt, daß in einem Rechtsakt enthaltene Beschränkungen oder Ausnahmen vorübergehender Art (Urteile Zuckerfabrik Watenstedt/Rat, a. a. O., und Compagnie française commerciale et financière/Kommission, a. a. O., Randnrn. 12 bis 15) oder räumlicher Art (Urteil vom 18. Januar 1979 in den verbundenen Rechtssachen 103/78 bis 109/78, Société des usines de Beauport/Rat, Slg. 1979, 17, Randnrn. 15 bis 19) Bestandteil der gesamten Vorschriften sind, in denen sie stehen, und ausser im Falle eines Ermessensmißbrauchs deren allgemeine Rechtsnatur teilen.

17 Im vorliegenden Fall ist die allgemeine Geltung der Verordnung Nr. 294/91 ausser hinsichtlich Artikel 1 Absatz 3 nicht strittig. Tatsächlich betrifft die Verordnung alle Luftfrachtunternehmen der Gemeinschaft, für die sie den Marktzugang und insbesondere die Ausübung der Verkehrsrechte neu regelt.

18 Mit der angefochtenen Bestimmung wird die Anwendung dieser Neuregelung auf die Flugdienste nach und von Gibraltar bis zum Inkrafttreten der Maßnahmen ausgesetzt, die in der gemeinsamen Erklärung der Aussenminister des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 vorgesehen sind. Wie der Gerichtshof bereits hinsichtlich der gleichen Bestimmung in der Richtlinie 89/463/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 zur Änderung der Richtlinie 83/416/EWG des Rates vom 25. Juli 1983 über die Zulassung des interregionalen Linienflugverkehrs zur Beförderung von Personen, Post und Fracht zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 226, S. 14) entschieden hat, gilt diese Vorschrift über die Aussetzung der Anwendung der Verordnung in gleicher Weise für alle Luftverkehrsunternehmen, die Luftfrachtdienste zwischen einem anderen Flughafen der Gemeinschaft und dem Flughafen Gibraltar erbringen wollen und, allgemeiner, für alle Nutzer dieses Flughafens. Sie gilt demnach für objektiv umschriebene Sachverhalte (Urteil vom 29. Juni 1993 in der Rechtssache C-298/89, Regierung von Gibraltar/Rat, Slg. 1993, I-3605, Randnr. 20).

19 Die Verordnung verweist zur Begründung dafür, daß ihre Anwendung auf den Flughafen Gibraltar ausgesetzt wird, auf die Regelung, die in der gemeinsamen Erklärung der Aussenminister des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 enthalten ist. Wie der Gerichtshof bereits im Urteil in der Rechtssache C-298/89 (Regierung von Gibraltar/Rat, a. a. O., Randnr. 22) ausgeführt hat, wird mit diesem Hinweis ein objektives Hindernis festgestellt, das der Anwendung der Verordnung unter Berücksichtigung ihrer Ziele entgegensteht. Denn angesichts der von den Klägerinnen selbst eingehend dargelegten Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Königreich Spanien und dem Vereinigten Königreich über die Hoheitsgewalt über das Gebiet, in dem der Flughafen Gibraltar liegt, und der sich daraus für den Flugbetrieb ergebenden Schwierigkeiten hängt die Weiterentwicklung der Flugdienste zwischen diesem Flughafen und den anderen Flughäfen der Gemeinschaft von der Durchführung der von den beiden Staaten vereinbarten Regelung über eine Zusammenarbeit ab.

20 Demnach kann Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung Nr. 294/91 nicht als eine Bestimmung angesehen werden, die eine Entscheidung im Sinne von Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag enthält; vielmehr handelt es sich um eine Vorschrift, die die allgemeine Rechtsnatur dieser Verordnung teilt.

21 Die Klage ist daher unzulässig und demgemäß abzuweisen, ohne daß die weiteren zur Begründung der Einrede der Unzulässigkeit geltend gemachten Gründe geprüft zu werden brauchen.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Regierung von Gibraltar und die Gibraltar Development Corporation mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen die Kosten aufzuerlegen. Das Königreich Spanien, das Vereinigte Königreich und die Kommission als Streithelfer tragen gemäß Artikel 69 § 4 Absatz 1 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen:

1) Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2) Die Klägerinnen tragen die Kosten.

3) Das Königreich Spanien, das Vereinigte Königreich und die Kommission als Streithelfer tragen ihre eigenen Kosten.

Luxemburg, den 12. Juli 1993

Ende der Entscheidung

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