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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.05.1996
Aktenzeichen: C-133/94
Rechtsgebiete: Richtlinie 85/337/EWG vom 27. Juni 1985, EG-Vertrag


Vorschriften:

Richtlinie 85/337/EWG vom 27. Juni 1985
EG-Vertrag Artikel 189
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 169 des Vertrages ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt wurde, befand; später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden.

2. Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten sieht vor, daß Projekte der in Anhang II der Richtlinie aufgezählten Klassen einer Prüfung unterzogen werden, wenn ihre Merkmale nach Auffassung der Mitgliedstaaten dies erfordern, und daß die Mitgliedstaaten zu diesem Zweck bestimmte Arten von Projekten, die einer Prüfung zu unterziehen sind, bestimmen oder Kriterien und/oder Schwellenwerte aufstellen können, anhand deren bestimmt werden kann, welche dieser Projekte einer Prüfung unterzogen werden sollen. Diese Vorschrift ist dahin auszulegen, daß sie den Mitgliedstaaten nicht die Befugnis verleiht, bei einer oder mehreren dieser Klassen die Möglichkeit einer Prüfung vollständig und endgültig auszuschließen, denn mit den genannten Kriterien und/oder Schwellenwerten wird nicht das Ziel verfolgt, bestimmte Klassen der in Anhang II aufgeführten Projekte, die im Gebiet eines Mitgliedstaats in Betracht kommen, von vornherein insgesamt von der Prüfungspflicht auszunehmen, sondern nur das Ziel, die Beurteilung der konkreten Merkmale eines Projekts zu erleichtern, damit bestimmt werden kann, ob es dieser Pflicht unterliegt.

3. Wenn ein Mitgliedstaat gegen seine besonderen Verpflichtungen aus einer Richtlinie verstossen hat, braucht nicht geprüft zu werden, ob er dadurch zugleich seine Verpflichtungen aus Artikel 5 des Vertrages verletzt hat.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 2. Mai 1996. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien. - Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten - Richtlinie 85/337/EWG des Rates. - Rechtssache C-133/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 6. Mai 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40; im folgenden: die Richtlinie) sowie aus den Artikeln 5 und 189 EG-Vertrag verstossen hat, daß es diese Richtlinie nicht vollständig und ordnungsgemäß in belgisches Recht umgesetzt hat.

2 Nach Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie mussten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um der Richtlinie innerhalb von drei Jahren nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen. Da die Richtlinie am 3. Juli 1985 bekanntgegeben worden war, lief diese Frist am 3. Juli 1988 ab.

3 Mit Schreiben vom 29. Dezember 1989 teilte die Kommission dem Königreich Belgien gemäß Artikel 169 des Vertrages mit, daß die Umsetzung der Richtlinie ihrer Auffassung nach unvollständig und unrichtig sei, und forderte die belgische Regierung auf, dazu Stellung zu nehmen.

4 Die belgische Regierung kam dieser Aufforderung am 25. Mai 1990 nach und übermittelte der Kommission später, am 26. Juli 1991, ergänzende Informationen.

5 Da die Kommission der Auffassung war, daß die Antwort der belgischen Regierung nicht zufriedenstellend sei, gab sie am 3. Dezember 1991 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie ihre Rügen gegenüber dem Königreich Belgien aufrechterhielt und dieses aufforderte, innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung dieser Stellungnahme Abhilfe zu schaffen.

6 Mit Schreiben vom 9. Dezember 1991, 3. Februar 1992 und 23. Juli 1992 teilte die belgische Regierung der Kommission bestimmte Maßnahmen und Entwürfe von Maßnahmen mit, durch die die Umsetzung der Richtlinie in belgisches Recht vervollständigt werden sollte.

7 Da die Kommission jedoch der Auffassung war, daß die Richtlinie nicht vollständig und ordnungsgemäß umgesetzt worden sei, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

8 Durch Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 25. November 1994 ist die Bundesrepublik Deutschland als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Belgien zugelassen worden.

9 In ihrer Klage erhebt die Kommission vier Rügen: Die Artikel 2 Absatz 1 und 4 Absatz 1 der Richtlinie in Verbindung mit Anhang I Nr. 2 seien auf nationaler Ebene nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden, die Artikel 2 Absatz 1 und 4 Absatz 1 der Richtlinie in Verbindung mit Anhang I Nr. 6 seien durch die Region Flandern nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden, Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 sei von der Region Flandern nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden, und schließlich hätten die Regionen Flandern und Brüssel-Hauptstadt die Artikel 7 und 9 der Richtlinie überhaupt nicht umgesetzt.

10 In ihrer Klageschrift hat die Kommission auch eine Rüge wegen nicht ordnungsgemässer Umsetzung von Artikel 6 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 9 der Richtlinie erhoben. Die Kommission hat aber aufgrund der Erläuterungen, die die belgische Regierung hierzu gegeben hat, in ihrer Erwiderung von dieser Rüge Abstand genommen.

Zu der Rüge, daß die Artikel 2 Absatz 1 und 4 Absatz 1 der Richtlinie in Verbindung mit Anhang I Nr. 2 auf nationaler Ebene nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden seien

11 Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt:

"Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor der Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Grösse oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Prüfung in bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden.

Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert."

12 Artikel 4 Absatz 1 bestimmt:

"Projekte der in Anhang I aufgeführten Klassen werden vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 3 einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen."

13 Nummer 2 des Anhangs I hat folgenden Wortlaut:

"2. Wärmekraftwerke und andere Verbrennungsanlagen mit einer Wärmeleistung von mindestens 300 MW sowie Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren (mit Ausnahme von Forschungseinrichtungen für die Erzeugung und Bearbeitung von spalt- und brutstoffhaltigen Stoffen, deren Hoechstleistung 1 kW thermische Dauerleistung nicht übersteigt)."

14 Die Kommission trägt vor, daß nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 die in Anhang I aufgeführten Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen seien. Die Mitgliedstaaten könnten insoweit keine Beschränkungen vornehmen. In Belgien sei die obligatorische Umweltverträglichkeitsprüfung aber für Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren (mit Ausnahme von Forschungseinrichtungen für die Erzeugung und Bearbeitung von spalt- und brutstoffhaltigen Stoffen, deren Hoechstleistung 1 kW thermische Dauerleistung nicht übersteige) sowie für Anlagen mit dem ausschließlichen Zweck der Endlagerung oder endgültigen Beseitigung radioaktiver Abfälle nicht gewährleistet.

15 In ihrer Gegenerwiderung führt die belgische Regierung aus, daß die Königliche Verordnung vom 28. Februar 1963 zur allgemeinen Regelung des Schutzes der Bevölkerung und der Arbeitnehmer vor der Gefahr ionisierender Strahlung durch die Königliche Verordnung vom 23. Dezember 1993 (Belgisch Staatsblad vom 2. Februar 1994, S. 2142) geändert und die Richtlinie dadurch in diesem Punkt in die nationale Rechtsordnung umgesetzt worden sei.

16 Die Kommission erhält, ohne die Richtlinienkonformität der vorgenommenen Umsetzung zu bestreiten, ihre Rüge aufrecht. Zum einen habe Belgien die Richtlinie innerhalb der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 3. Dezember 1991 gesetzt worden sei, nicht vollständig und ordnungsgemäß umgesetzt. Zum anderen habe sie zum Zeitpunkt der Klageerhebung die getroffenen Umsetzungsmaßnahmen nicht gekannt, da sie erst durch Schreiben vom 12. September 1994 offiziell über diese Maßnahmen unterrichtet worden sei.

17 Dazu ist zu bemerken, daß nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt wurde, befand, und daß später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (Urteil vom 27. November 1990 in der Rechtssache C-200/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4299, Randnr. 13).

18 Im vorliegenden Fall wurden die angeblichen Umsetzungsmaßnahmen nach Ablauf der Frist erlassen, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war.

19 Folglich ist dieser Rüge stattzugeben.

Zu der Rüge, daß die Artikel 2 Absatz 1 und 4 Absatz 1 der Richtlinie in Verbindung mit Anhang I Nr. 6 von der Region Flandern nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden seien

20 Unter den Projekten, die einer Prüfung unterliegen, erwähnt Anhang I der Richtlinie in seiner Nummer 6 "integrierte chemische Anlagen".

21 In der Region Flandern wurde das Verfahren zur Prüfung der Umweltverträglichkeit in die bestehenden Genehmigungsverfahren für störende und für nichtstörende Einrichtungen integriert.

22 Hinsichtlich der störenden Einrichtungen wurden die Genehmigungsverfahren durch das Dekret des Flämischen Rates vom 28. Juni 1985 über umweltschutzrechtliche Genehmigungen (Belgisch Staatsblad vom 17. September 1985, S. 13304) geregelt.

23 Zur Durchführung dieses Dekrets erließ die Flämische Exekutive am 23. März 1989 die Verordnung 89-928 (Belgisch Staatsblad vom 17. Mai 1989, S. 8442). Artikel 3 Nr. 6 dieser Verordnung definiert integrierte chemische Anlagen als Anlagen "zur chemischen Verarbeitung von

a) ungesättigten aliphatischen Kohlenwasserstoffen mit weniger als fünf Kohlenstoffatomen pro Molekül,

b) ungesättigten zyklischen Kohlenwasserstoffen einschließlich Aromaten mit weniger als neun Kohlenstoffatomen pro Molekül

mit einer Kapazität von mindestens 100 000 Tonnen pro Jahr".

24 Nach Auffassung der Kommission hat die Flämische Exekutive den Begriff "integrierte chemische Anlagen" einschränkend ausgelegt. Die Festlegung quantitativer Kriterien gewährleiste nicht, daß alle integrierten chemischen Anlagen einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen würden. So unterlägen nur die Anlagen zur Verarbeitung der Stoffe, die in den Buchstaben a und b der von der Flämischen Exekutive festgelegten Definition genannt würden, und von diesen Anlagen nur diejenigen mit einer Mindestverarbeitungskapazität von 100 000 Tonnen dem Prüfungsverfahren. Anhang I Nr. 6 der Richtlinie enthalte aber keine quantitativen Beschränkungen.

25 Die belgische Regierung vertritt die Auffassung, daß der Begriff "integrierte chemische Anlagen" unbestimmt sei, was die Kommission im übrigen selbst anerkannt habe, da sie diesen Begriff in ihrem Vorschlag zur Änderung der Richtlinie (Dokument KOM[93] 575 endg.; ABl. 1994, C 130, S. 8) genauer definiere. Unter diesen Umständen habe die Flämische Regierung aus Gründen der Rechtssicherheit keine andere Möglichkeit gehabt, als diesem Begriff selbst einen Inhalt zu geben. Wenn die gesättigten Kohlenwasserstoffe dort nicht erwähnt würden, so sei dies auf den Umstand zurückzuführen, daß sie wegen ihrer begrenzten Reaktionsfähigkeit in der Basischemie kaum als Grundstoffe eingesetzt würden. Ausserdem enthalte das Kapazitätskriterium, das sich nicht auf die in der Menge des Endprodukts ausgedrückte Produktionskapazität, sondern auf die in der Menge der Grundstoffe (kleine Moleküle) ausgedrückte Verarbeitungskapazität beziehe, ebenfalls keine wirkliche Beschränkung des Geltungsbereichs der Richtlinie. Daher erfasse die von der Flämischen Exekutive festgelegte Definition alle wichtigen chemischen Anlagen in der Region Flandern.

26 Hierzu ist festzustellen, daß Anhang I Nr. 6 der Richtlinie keine Einschränkungen hinsichtlich der integrierten chemischen Anlagen enthält, die der Prüfung unterliegen. Soweit der Gemeinschaftsgesetzgeber die Prüfungspflicht einschränken wollte, hat er dies ausdrücklich angeordnet. Dies ist u. a. bei den Nummern 1, 2, 5, 7 und 8 dieses Anhangs der Fall.

27 Im übrigen liegt das entscheidende Element des Begriffes "integrierte chemische Anlagen" gerade in ihrem integrierten Charakter, während die anderen chemischen Anlagen unter Anhang II Nr. 6 fallen. Wie der Generalanwalt in den Nummern 36 bis 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wird aber dieser Begriff durch die flämische Regelung weder präzisiert noch definiert, da der integrierte Charakter einer chemischen Anlage weder von ihrer Verarbeitungskapazität noch von der Art der dort verarbeiteten chemischen Stoffe, sondern davon abhängt, daß mehrere Produktionseinheiten miteinander verbunden sind und funktionell eine einzige Produktionseinheit bilden.

28 Folglich greift auch diese Rüge durch.

Zu der Rüge, daß Artikel 4 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie von der Region Flandern nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sei

29 Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt:

"Projekte der in Anhang II aufgezählten Klassen werden einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen, wenn ihre Merkmale nach Auffassung der Mitgliedstaaten dies erfordern.

Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten insbesondere bestimmte Arten von Projekten, die einer Prüfung zu unterziehen sind, bestimmen oder Kriterien und/oder Schwellenwerte aufstellen, anhand deren bestimmt werden kann, welche von den Projekten der in Anhang II aufgezählten Klassen einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen werden sollen."

30 In der Region Flandern enthält Artikel 3 der erwähnten Verordnung 89-928 die Liste der störenden Einrichtungen, die gemäß dem erwähnten Dekret des Flämischen Rates vom 28. Juni 1985 über umweltschutzrechtliche Genehmigungen einer Prüfung zu unterziehen sind.

31 Hinsichtlich der nichtstörenden Einrichtungen führte das Gesetz über Raumordnung und Städtebau vom 29. März 1962 (Belgisch Staatsblad vom 12. April 1962, S. 3000) ein Verfahren zur Erteilung der Baugenehmigung ein. In Anwendung dieses Gesetzes erließ die Flämische Exekutive u. a. die Verordnung 89-929 vom 23. März 1989 (Belgisch Staatsblad vom 17. Mai 1989, S. 8450), die die Prüfung der Umweltauswirkungen der Arbeiten und Handlungen regelt, die in den Anwendungsbereich des Gesetzes vom 29. März 1962 fallen. Artikel 2 dieser Verordnung enthält die Liste der Projekte, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen sind.

32 Die Kommission trägt vor, daß Artikel 4 Absatz 2 unter Berücksichtigung von Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie verlange, daß die Mitgliedstaaten jeweils im Einzelfall für jedes in Anhang II aufgeführte Projekt eine Untersuchung der Merkmale durchführten. Diese Untersuchung ermögliche dann eine Entscheidung darüber, ob wegen der Art, der Grösse oder des Standorts des betreffenden Projekts eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich sei. Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Richtlinie gestatte es den Mitgliedstaaten, diese Untersuchung durch Festlegung von Kriterien und/oder Schwellenwerten zu erleichtern. Dagegen gestatte es ihnen diese Bestimmung nicht, Kriterien und/oder Schwellenwerte festzulegen, um bestimmte in Anhang II aufgeführte Projekte von vornherein von dieser Untersuchung auszunehmen.

33 Die in der Region Flandern geltende Regelung genüge diesen Anforderungen nicht. Die in Artikel 3 der Verordnung 89-928 und in Artikel 2 der Verordnung 89-929 enthaltenen Listen erfassten nicht alle in Anhang II aufgeführten Projekte. Bei den nicht erfassten Projekten werde also niemals eine Untersuchung durchgeführt, um festzustellen, ob ihre Merkmale eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderten.

34 Die belgische Regierung trägt vor, die Flämische Regierung sei bei Erlaß der beanstandeten Verordnungen der Auffassung gewesen, daß angesichts der Umweltsituation in Flandern nur bestimmte Kategorien der in Anhang II genannten Projekte, die den von ihr festgelegten Schwellenwerten und sonstigen Kriterien genügten, aufgrund ihrer Art einer Prüfung zu unterziehen seien. Sie habe sich somit implizit auf den Standpunkt gestellt, daß die Merkmale aller anderen in Anhang II aufgeführten Projekte so beschaffen seien, daß es nicht erforderlich sei, diese Projekte einer Prüfung zu unterziehen.

35 Nach Ansicht der belgischen Regierung, die von der deutschen Regierung unterstützt wird, ergibt sich aus keiner Bestimmung der Richtlinie, daß die Mitgliedstaaten nur im konkreten Fall beurteilen dürften, ob die Merkmale einzelner Projekte eine Umweltverträglichkeitsprüfung überfluessig machten. Die Mitgliedstaaten könnten auch generell die Auffassung vertreten, daß aufgrund der Merkmale von bestimmten in Anhang II aufgeführten Projekten eine Prüfung überfluessig sei. Die beiden Regierungen berufen sich in diesem Zusammenhang auf den Wortlaut des Artikels 4 Absatz 2.

36 Die deutsche Regierung trägt im besonderen vor, daß die Formulierung dieser Bestimmung für eine abstrakte Festlegung der zu prüfenden Projekte spreche, weil andernfalls nicht die Mitgliedstaaten, sondern die im Einzelfall zuständigen Behörden zu beurteilen hätten, ob ein Projekt einer Prüfung zu unterziehen sei. Ausserdem zeige die Unterscheidung zwischen "Klassen" und "Projekten" in der achten und der neunten Begründungserwägung sowie in Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie, daß die Auswahl der Projekte, die der Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen seien, abstrakt erfolgen könne.

37 Auch spreche der Umstand, daß gemäß Artikel 2 Absatz 3 der Richtlinie eine Ausnahme von der Prüfungspflicht nur für die unter Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie fallenden Projekte möglich sei, dagegen, daß bei den Projekten des Anhangs II eine Einzelfallprüfung notwendig sei.

38 Die belgische Regierung fügt hinzu, daß nach dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Durchführung der Richtlinie (Dokument KOM[93] 28, Bd. 1, 2. April 1993) die meisten Mitgliedstaaten Artikel 4 Absatz 2 ebenso ausgelegt hätten wie die Flämische Regierung.

39 Schließlich stützen die belgische und die deutsche Regierung ihre Auffassung auf den von der Kommission dem Rat vorgelegten Vorschlag zur Änderung der Richtlinie (Dokument KOM[93] 575 endg., a. a. O.). Insbesondere schlage die Kommission den Erlaß eines neuen Artikels 4 Absatz 3 vor, der in Verbindung mit einem neuen Anhang IIa die Mitgliedstaaten verpflichte, die Notwendigkeit einer Prüfung im Einzelfall zu untersuchen. Dieser Vorschlag wäre aber überfluessig, wenn die daraus folgende Verpflichtung bereits Teil des geltenden Rechts wäre.

40 Zunächst ist klarzustellen, daß die flämische Regelung, wie in den Randnummern 33 und 34 dieses Urteils dargelegt worden ist, bei bestimmten der in Anhang II aufgeführten Klassen von Projekten eine Umweltverträglichkeitsprüfung ausschließt, und zwar vollständig und endgültig. Daher stellt sich die Frage, ob Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie einen solchen Ausschluß gestattet.

41 Aus dieser Vorschrift ergibt sich zwar, daß die Mitgliedstaaten immer bestimmte "Arten" von Projekten, die einer Prüfung zu unterziehen sind, bestimmen oder Kriterien und/oder Schwellenwerte aufstellen können, anhand deren bestimmt werden kann, welche von den Projekten einer Prüfung unterzogen werden sollen; doch besteht diese Befugnis der Mitgliedstaaten jeweils im Rahmen der einzelnen Klassen des Anhangs II. Der Gemeinschaftsgesetzgeber ist nämlich davon ausgegangen, daß alle in Anhang II aufgeführten Klassen von Projekten je nach den Merkmalen, die die Projekte zum Zeitpunkt ihrer Ausarbeitung aufweisen, erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben können.

42 Folglich wird mit den in Artikel 4 Absatz 2 erwähnten Kriterien und/oder Schwellenwerten das Ziel verfolgt, die Beurteilung der konkreten Merkmale eines Projekts zu erleichtern, damit bestimmt werden kann, ob es der Prüfungspflicht unterliegt; dagegen ist es nicht ihr Zweck, bestimmte Klassen der in Anhang II aufgeführten Projekte, die im Gebiet eines Mitgliedstaats in Betracht kommen, von vornherein insgesamt von dieser Pflicht auszunehmen.

43 Demnach verleiht Artikel 4 Absatz 2 den Mitgliedstaaten nicht die Befugnis, bei einer oder mehreren Klassen des Anhangs II die Möglichkeit einer Prüfung vollständig und endgültig auszuschließen.

44 In Anbetracht dieser Feststellung ist das oben wiedergegebene Vorbringen der belgischen und der deutschen Regierung, daß Artikel 4 Absatz 2 den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit nehme, durch Kriterien und/oder Schwellenwerte abstrakt die Projekte zu bestimmen, die einer Prüfung zu unterziehen seien, und daß er daher nicht für jedes konkrete Projekt eine Entscheidung vorschreibe, unabhängig von der Frage, ob es sich auf eine zutreffende Auslegung des Artikels 4 Absatz 2 stützt, für die vorliegende Rechtssache unerheblich.

45 Nach alledem ist festzustellen, daß die Artikel 2 Absatz 1 und 4 Absatz 2 der Richtlinie durch die beanstandete flämische Regelung nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sind, da diese Regelung bei allen Klassen von Projekten des Anhangs II, die nicht in sie aufgenommen wurden, implizit von vornherein die Möglichkeit einer Prüfung ausschließt, selbst wenn sich erweisen sollte, daß die Merkmale der Projekte dieser Klassen deren Prüfung erfordern.

46 Folglich greift diese Rüge durch.

Zu der Rüge, daß die Regionen Flandern und Brüssel-Hauptstadt die Artikel 7 und 9 der Richtlinie nicht umgesetzt hätten

47 In Artikel 7 der Richtlinie heisst es:

"Stellt ein Mitgliedstaat fest, daß ein Projekt erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt eines anderen Mitgliedstaats haben könnte, oder stellt ein Mitgliedstaat, der möglicherweise davon erheblich berührt wird, einen entsprechenden Antrag, so teilt der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Durchführung des Projekts vorgeschlagen wird, dem anderen Mitgliedstaat die nach Artikel 5 eingeholten Informationen zum gleichen Zeitpunkt mit, zu dem er sie seinen eigenen Staatsangehörigen zur Verfügung stellt."

48 Artikel 9 sieht vor, daß der betroffenen Öffentlichkeit der Inhalt der abschließenden Entscheidung zugänglich gemacht wird. Der letzte Absatz dieses Artikels bestimmt:

"Ist ein anderer Mitgliedstaat nach Artikel 7 unterrichtet worden, so wird er von der betreffenden Entscheidung ebenfalls unterrichtet."

49 Die Kommission macht geltend, daß die Regionen Flandern und Brüssel-Hauptstadt die Artikel 7 und 9 der Richtlinie nicht umgesetzt hätten.

50 Die belgische Regierung erkennt die Rüge der Kommission in bezug auf die Region Flandern an. Sie weist jedoch darauf hin, daß ein Vorentwurf für ein Dekret vorliege, durch dessen Erlaß diese Vertragsverletzung abgestellt werde.

51 Dagegen vertritt die belgische Regierung hinsichtlich der Region Brüssel-Hauptstadt die Auffassung, daß die Artikel 7 und 9 nicht umgesetzt werden müssten, da die geographische Lage und der städtische Charakter dieser Region die Errichtung industrieller Anlagen ausschlössen, die Umweltauswirkungen mit Folgen in anderen Mitgliedstaaten haben könnten.

52 Diese Auffassung ist zurückzuweisen.

53 Das aus der geographischen Lage der Region Brüssel-Hauptstadt hergeleitete Argument beruht nämlich auf der Annahme, daß nur Projekte in den Grenzgebieten die Umwelt eines anderen Mitgliedstaats beeinträchtigen könnten. Eine solche Annahme ist aber, wie die Kommission zu Recht vorgetragen hat, unzutreffend, weil sie die Möglichkeit einer Umweltverschmutzung, die sich durch die Luft oder das Wasser ausbreitet, ausser acht lässt.

54 Zu dem auf den städtischen Charakter der Region Brüssel-Hauptstadt gestützten Argument hat die Kommission, ohne daß ihr von der belgischen Regierung widersprochen worden ist, in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, daß es in dieser Region grosse chemische und petrochemische Anlagen gebe.

55 Unter diesen Umständen ist der Rüge der Kommission stattzugeben.

56 Da das Königreich Belgien gegen seine besonderen Verpflichtungen aus der Richtlinie verstossen hat, braucht nicht geprüft zu werden, ob es dadurch zugleich seine Verpflichtungen aus Artikel 5 des Vertrages verletzt hat (Urteil vom 19. Februar 1991 in der Rechtssache C-374/89, Kommission/Belgien, Slg. 1991, I-367, Randnr. 13).

57 Nach alledem ist festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 85/337 und aus Artikel 189 EG-Vertrag verstossen hat, daß es diese Richtlinie nicht vollständig und ordnungsgemäß in belgisches Recht umgesetzt hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

58 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69 § 4 Absatz 1 trägt die Bundesrepublik Deutschland, die dem Rechtsstreit als Streithelferin beigetreten ist, ihre eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten sowie aus Artikel 189 EG-Vertrag verstossen, daß es diese Richtlinie nicht vollständig und ordnungsgemäß in belgisches Recht umgesetzt hat.

2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten.

3. Die Bundesrepublik Deutschland trägt ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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