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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.11.1998
Aktenzeichen: C-134/97
Rechtsgebiete: Richtlinie 77/388/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 77/388/EWG Art. 28 Abs. 3 Buchst. b
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die nationalen Gerichte können den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt. Der "Skatterättsnämnde" (Steuerrechtsausschuß), der im wesentlichen eine Verwaltungstätigkeit ausübt, kann den Gerichtshof somit nicht anrufen. Der "Skatterättsnämnde", dessen Aufgabe es nicht ist, die Rechtmässigkeit der Entscheidungen der Steuerbehörden zu überprüfen, sondern vielmehr, erstmals zur Frage der Besteuerung eines bestimmten Umsatzes Stellung zu nehmen, hat nicht die Aufgabe, einen Streit zu entscheiden.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 12. November 1998. - Victoria Film A/S. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Skatterättsnämnden - Schweden. - Akte betreffend den Beitritt des Königreichs Schweden - Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Übergangsvorschriften - Befreiungen - Dienstleistungen der Autoren, Künstler und Interpreten von Kunstwerken - Unzuständigkeit des Gerichtshofes. - Rechtssache C-134/97.

Entscheidungsgründe:

1 Der Skatterättsnämnde (Ausschuß für Steuerrecht) hat mit Entscheidung vom 20. Februar 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABL. 1994, C 241, S. 21; im folgenden: Beitrittsakte) in Verbindung mit Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b und Nummer 2 des Anhangs F der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Verfahren über einen Antrag der Victoria Film A/S (im folgenden: Victoria Film) beim Skatterättsnämnde auf Erlaß eines vorläufigen Bescheides.

3 Die Victoria Film, die ihren Sitz in Dänemark hat, übt durch ihre schwedische Tochtergesellschaft die Tätigkeit der Produktion von kommerziellen Filmen in Schweden aus. Am 1. August 1996 begann sie in diesem Land mit der Produktion bestimmter Filme, für die die Rechte der Verbreitung im Fernsehen und der Vorführung im Kino auf andere Gesellschaften übertragen werden sollten.

4 In Schweden war jedoch gemäß Kapitel 3, Artikel 11 Absatz 1 des Mervärdeßkattelag (1994:200; Mehrwertsteuergesetz) in der bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Fassung in Verbindung mit dem Lag om upphovsrätt till litterära och konstnärliga verk (1960:729; Gesetz über das Urheberrecht an literarischen und künstlerischen Werken) die Übertragung der Urheberrechte an Filmwerken von der Mehrwertsteuer befreit. Aufgrund einer Gesetzesänderung ist dies seit dem 1. Januar 1997 nicht mehr der Fall.

5 Am 6. März 1996 beantragte die Victoria Film beim Skatterättsnämnde den Erlaß eines vorläufigen Bescheides dahin gehend, daß die Übertragung der Rechte an den Filmen auch vor dem 1. Januar 1997 mehrwertsteuerpflichtig war, so daß sie den Vorsteuerabzug geltend machen konnte.

6 Die Victoria Film trägt vor, das Königreich Schweden sei nach Anhang XV, Abschnitt IX. Steuern, Nummer 2 Buchstabe aa der Beitrittsakte in Verbindung mit Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b und Anhang F Nummer 2 der Sechsten Richtlinie nicht befugt, eine derartige Befreiung aufrechtzuerhalten.

7 Der Skatterättsnämnde kann auf Antrag eines Steuerpflichtigen vorläufige Bescheide in Steuersachen erlassen. Die Arbeitsweise dieses Ausschusses und die Voraussetzungen für den Erlaß seiner Bescheide sind im Lag om förhandsbesked i taxeringsfraagor (1951:442; Gesetz über die vorläufigen Bescheide in Steuersachen) und, was die Bescheide in Mehrwertsteuersachen betrifft, in Kapitel 21 des Mervärdeßkattelag geregelt.

8 Nach diesen Vorschriften tagt der Skatterättsnämnde in zwei verschiedenen Abteilungen, von denen die eine für die direkten Steuern und die andere für die indirekten Steuern zuständig ist. Die Regierung benennt die achtzehn Mitglieder und Stellvertreter für einen Zeitraum von höchstens vier Jahren. Die Vorsitzenden der beiden Abteilungen besitzen die Befähigung zum Richteramt und sind als solche vollzeitbeschäftigt. Die anderen Mitglieder haben eine Vollzeitbeschäftigung bei Gerichten, Behörden, privaten Unternehmen oder Berufsorganisationen.

9 Gelangt der Skatterättsnämnde zu der Auffassung, daß der Antrag unter Berücksichtigung seines Inhalts nicht von vornherein zurückzuweisen ist, so ist die Stellungnahme des Rikßkatteverk (Zentralamt für Finanzen) den Akten beizufügen. Nimmt der Skatterättsnämnde den Antrag zur Entscheidung an, so erlässt er in dem von ihm für erforderlich gehaltenen Umfang einen Bescheid darüber, wie die ihm vorgelegte Frage bei der Besteuerung des Antragstellers zu beurteilen ist.

10 Der vorläufige Bescheid kann vom Antragsteller oder von der Steuerverwaltung beim Regeringsrätt (höchstes Verwaltungsgericht) angefochten werden. Ein vorläufiger Bescheid, der bestandskräftig geworden ist, dient als Grundlage für die Besteuerung, wenn und soweit der Antragsteller dies beantragt. Folglich ist der Bescheid für den Staat bindend, wenn der Antragsteller ausdrücklich einen derartigen Antrag gestellt hat, ausser im Fall einer nachträglichen Änderung gesetzlicher oder anderer Bestimmungen.

11 Der Skatterättsnämnde hat dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1. Ergibt sich aus Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Nummer 2 des Anhangs F dieser Richtlinie unter Berücksichtigung des Inhalts des Anhangs XV, Abschnitt IX. Steuern, Nummer 2 Buchstabe aa des Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Schweden über den Beitritt Schwedens zur Europäischen Union, daß Schweden in seinem innerstaatlichen Recht Vorschriften beibehalten kann, deren Inhalt der Regelung des Kapitels 3 § 11 Absatz 1 des Mehrwertsteuergesetzes in der bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Fassung entspricht?

Für den Fall, daß diese Frage verneint wird, wird zusätzlich um Beantwortung der folgenden Frage gebeten:

2. Bedeutet der Umstand, daß es nach Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b unzulässig ist, wenn eine nationale Rechtsordnung eine Befreiung von der Steuerpflicht für einen Umsatz der in der ersten Frage genannten Art vorsieht, daß diese Bestimmung, die Bestimmungen des Artikels 6 Absatz 1 oder eventuell irgendeine andere Bestimmung der Sechsten Richtlinie insoweit unmittelbare Wirkung haben, so daß sich diejenigen, die die bezeichneten Rechte verwerten, vor einer nationalen Behörde zur Begründung dafür, daß die Verwertung als steuerbarer Umsatz zu behandeln ist, auf diese Bestimmungen berufen können?

Für den Fall, daß auch diese Frage verneint wird, wird zusätzlich um Beantwortung der folgenden Frage ersucht:

3. Können diejenigen, die die Rechte verwerten, dennoch ein Abzugsrecht gemäß Artikel 17 Absatz 2 oder gemäß einer anderen Bestimmung der Richtlinie geltend machen, hat also die Bestimmung unmittelbare Wirkung, obwohl die Verwertung nicht zur Zahlung von Mehrwertsteuer führt?

12 Die Kommission trägt vor, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der vom Skatterättsnämnde gestellten Fragen nicht zuständig. Der Skatterättsnämnde übe keine rechtsprechende Tätigkeit im Sinne des Artikels 177 des Vertrages aus, sondern seine Tätigkeit habe eher Verwaltungscharakter. Selbst wenn ein Antrag auf Erlaß eines vorläufigen Bescheides wahrscheinlich oft in Fällen gestellt werde, in denen Steuerpflichtiger und Steuerverwaltung unterschiedlicher Auffassungen seien, scheine es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem vom Skatterättsnämnde erlassenen Bescheid und einem von der Steuerverwaltung erlassenen Steuerbescheid zu geben.

13 Die schwedische Regierung führt dagegen aus, der Skatterättsnämnde sei ein Gericht im Sinne des Artikels 177 des Vertrages. Die Verfahren vor dem Skatterättsnämnde würden im Fall von Streitigkeiten eingeleitet, da der Steuerpflichtige keinen vorläufigen Bescheid benötige, wenn er und die Steuerverwaltung über die betreffende steuerliche Frage einer Meinung seien.

14 Nach ständiger Rechtsprechung können die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (vgl. Beschluß vom 5. März 1986 in der Rechtssache 318/85, Greis Unterweger, Slg. 1986, 955, Randnr. 4, und Urteil vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-111/94, Job Centre, Slg. 1995, I-3361, Randnr. 9).

15 Im vorliegenden Fall gibt es zwar Anhaltspunkte dafür, daß der Skatterättsnämnde eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt, insbesondere die ihm vom Gesetz zuerkannte Unabhängigkeit und die Befugnis, aufgrund der Anwendung rechtlicher Vorschriften Entscheidungen mit bindendem Charakter zu erlassen, doch führen andere Gesichtspunkte zu der Schlußfolgerung, daß er im wesentlichen eine Verwaltungstätigkeit ausübt.

16 Zu beachten ist insbesondere, daß der Stellung des Antrags auf Erlaß eines vorläufigen Bescheides beim Skatterättsnämnde keine Entscheidung der Steuerbehörden über den fraglichen steuerlichen Sachverhalt vorausgeht. Aufgabe des Skatterättsnämnde ist es somit nicht, die Rechtmässigkeit der Entscheidungen dieser Behörden zu überprüfen, sondern vielmehr, erstmals zur Frage der Besteuerung eines bestimmten Umsatzes Stellung zu nehmen.

17 Erlässt der Skatterättsnämnde auf Antrag eines Steuerpflichtigen einen vorläufigen Bescheid in Steuer- oder Abgabensachen, so übt er eine Tätigkeit aus, die keinen Rechtsprechungscharakter hat und die im übrigen in anderen Mitgliedstaaten ausdrücklich der Finanzverwaltung übertragen ist. Insoweit kann die Natur des vorläufigen Bescheides des Skatterättsnämnde mit der Lage im Zollrecht verglichen werden, wo die nationalen Zollbehörden gemäß Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1) einzelnen auf deren Antrag verbindliche Zolltarifauskünfte erteilen.

18 Der Skatterättsnämnde wird somit als Verwaltungsbehörde tätig, die einen verbindlichen vorläufigen Bescheid erteilt, an dem der Steuerpflichtige ein Interesse hat, da er dann seine Tätigkeiten besser planen kann; der Skatterättsnämnde hat jedoch nicht die Aufgabe, einen Streit zu entscheiden. Nur dann, wenn der Steuerpflichtige oder das Rikßkatteverk eine Klage gegen einen vorläufigen Bescheid erhebt, kann angenommen werden, daß das angerufene Gericht im Sinne des Artikels 177 des Vertrages eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt, deren Gegenstand die Nachprüfung der Rechtmässigkeit eines Rechtsakts ist, der die Besteuerung eines Steuerpflichtigen regelt.

19 Daraus folgt, daß der Gerichtshof für die Entscheidung über die vom Skatterättsnämnde gestellten Fragen nicht zuständig ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Die Auslagen der schwedischen und der finnischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim Skatterättsnämnde anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache des Skatterättsnämnde.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der vom Skatterättsnämnde in seinem Vorlagebeschluß vom 20. Februar 1997 gestellten Fragen nicht zuständig.

Ende der Entscheidung

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