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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 29.06.1995
Aktenzeichen: C-135/94
Rechtsgebiete: EAG-Vertrag


Vorschriften:

EAG-Vertrag Art. 141
EAG-Vertrag Art. 161 Abs. 3
EAG-Vertrag Art. 192 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Nach dem aus Artikel 169 EWG-Vertrag, dessen Wortlaut mit dem des Artikels 141 EGKS-Vertrag übereinstimmt, folgenden Zweck der vorprozessualen Phase des Vertragsverletzungsverfahrens, zu der die schriftliche Aufforderung zur Äusserung gehört, soll diese den Gegenstand des Rechtsstreits eingrenzen und den Mitgliedstaat, der zur Äusserung aufgefordert wird, die notwendigen Angaben zur Vorbereitung seiner Verteidigung an die Hand geben. Die Gelegenheit für den betroffenen Mitgliedstaat, sich zu äussern, ist ° selbst wenn er glaubt, von ihr keinen Gebrauch machen zu sollen ° eine vom Vertrag gewollte wesentliche Garantie, und die Beachtung dieser Garantie ist eine Vorraussetzung für die Ordnungsgemäßheit des Vertragsverletzungsverfahrens.

Daraus folgt, daß die mit Gründen versehene Stellungnahme im Sinne von Artikel 169 des Vertrages eine detaillierte und zusammenhängende Darlegung der Gründe enthalten muß, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, daß der betreffende Mitgliedstaat gegen eine ihm nach dem Vertrag obliegende Verpflichtung verstossen hat, doch können an die Genauigkeit des Aufforderungsschreibens, das zwangsläufig nur in einer ersten knappen Zusammenfassung der Beanstandungen bestehen kann, keine so strengen Anforderungen gestellt werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 29. JUNI 1995. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG - RICHTLINIE 89/618/EURATOM - ZULAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-135/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 11. Mai 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 141 EAG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 89/618/Euratom des Rates vom 27. November 1989 über die Unterrichtung der Bevölkerung über die bei einer radiologischen Notstandssituation geltenden Verhaltensmaßregeln und zu ergreifenden Gesundheitsschutzmaßnahmen (ABl. L 357, S. 31, nachstehend: Richtlinie) sowie aus Artikel 161 Absatz 3 und Artikel 192 Absatz 1 EAG-Vertrag verstossen hat, indem sie nicht die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um der genannten Richtlinie nachzukommen.

2 Nach Artikel 12 der Richtlinie treffen die "Mitgliedstaaten... die erforderlichen Maßnahmen, um dieser Richtlinie spätestens vierundzwanzig Monate nach ihrer Genehmigung nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzueglich davon sowie von etwaigen späteren Änderungen in Kenntnis."

Zulässigkeit

3 Nach Ansicht der italienischen Regierung stellt die schriftliche Aufforderung zur Äusserung vom 20. Mai 1992 keine wirksame verfahrenseinleitende Handlung im Sinne des Artikels 141 des Vertrages dar. Die Kommission habe ein Einheitsschreiben übersandt, in dessen Anhang mehrere Richtlinien aufgezählt seien, darunter die streitgegenständliche, und habe erklärt, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag vorzugehen (statt nach Artikel 141 EAG-Vertrag). Aufgrund dessen sei die vorliegende Klage unzulässig.

4 Der Wortlaut des Artikels 141 EAG-Vertrag stimmt mit dem des Artikels 169 EWG-Vertrag überein.

5 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Artikel 169 EWG-Vertrag soll nach der Zielsetzung der vorprozessualen Phase des Vertragsverletzungsverfahrens das Aufforderungsschreiben den Gegenstand des Rechtsstreits eingrenzen und dem Mitgliedstaat, der zur Äusserung aufgefordert wird, die notwendigen Angaben zur Vorbereitung seiner Verteidigung an die Hand geben (Urteil vom 28. März 1985 in der Rechtssache 274/83, Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077, Randnr. 19).

6 Die Gelegenheit für den Mitgliedstaat, sich zu äussern, ist ° selbst wenn er glaubt, von ihr keinen Gebrauch machen zu sollen ° eine vom Vertrag gewollte wesentliche Garantie, und die Beachtung dieser Garantie ist eine Voraussetzung für die Ordnungsgemäßheit des Vertragsverletzungsverfahrens (vgl. das genannte Urteil, Randnr. 20).

7 Daraus folgt zwar, daß die mit Gründen versehene Stellungnahme im Sinne von Artikel 169 EWG-Vertrag eine detaillierte und zusammenhängende Darlegung der Gründe enthalten muß, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, daß der betreffende Mitgliedstaat gegen eine ihm nach dem EWG-Vertrag obliegende Verpflichtung verstossen hat. Der Gerichtshof kann jedoch an die Genauigkeit des Aufforderungsschreibens, das zwangsläufig nur in einer ersten knappen Zusammenfassung der Beanstandungen bestehen kann, keine so strengen Anforderungen stellen (vgl. genanntes Urteil, Randnr. 21).

8 Aus den zu den Akten gereichten Schriftstücken ergibt sich, daß die Kommission der italienischen Regierung mit dem Schreiben vom 20. Mai 1992 mitgeteilt hat, daß sie aufgrund der ihr vorliegenden Informationen davon ausgehen müsse, daß die in dem Verzeichnis im Anhang ihres Schreibens genannten Richtlinien nicht in italienisches Recht umgesetzt worden seien. Das Verzeichnis enthielt unter anderem die streitgegenständliche Richtlinie, die ausdrücklich als eine Euratom-Richtlinie bezeichnet worden war. Die Kommission hat die fehlende Angabe der einschlägigen Bestimmungen des EAG-Vertrags in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 25. Mai 1993 nachgeholt, in der sie sich nur auf das Vertragsverletzungsverfahren des Artikels 141 EAG-Vertrag sowie im Hauptteil dieser Stellungnahme auf die Artikel 161 Absatz 3 und 192 Absatz 1 dieses Vertrages bezieht. In ihrer Klageschrift hat sich die Kommission ebenfalls auf diese Vorschriften bezogen.

9 Somit hat sich der eigentliche Vorwurf der Kommission, nämlich die Nichtumsetzung der Richtlinie, während des Vorverfahrens nicht geändert.

10 Die italienische Regierung kann daher keine Zweifel gehabt haben, daß die Kommission ihr wegen der Nichtumsetzung der Richtlinie eine Verletzung des EAG-Vertrags vorwirft.

11 Somit hat die in dem Schreiben der Kommission fehlende Bezugnahme auf die einschlägigen Bestimmungen des EAG-Vertrags die Verteidigungsrechte der Italienischen Republik nicht beeinträchtigt.

12 Infolgedessen ist die Klage für zulässig zu erklären.

Begründetheit

13 Die Kommission macht geltend, daß die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus der genannten Richtlinie verstossen hat, indem sie nicht die erforderlichen Vorschriften erlassen hat, um der Richtlinie spätestens bis zum 27. November 1991 nachzukommen. In ihrer Erwiderung hat die Kommission darauf verzichtet, im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen die Artikel 161 Absatz 3 und 192 Absatz 1 EAG-Vertrag zu rügen, die in dem Entscheidungsteil der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht genannt waren.

14 Die Italienische Republik bestreitet nicht, die Richtlinie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist umgesetzt zu haben.

15 Somit ist die von der Kommission insoweit gerügte Vertragsverletzung als bewiesen anzusehen.

16 Infolgedessen ist festzustellen, daß die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus der genannten Richtlinie verstossen hat, indem sie nicht die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um dieser Richtlinie nachzukommen.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Italienische Republik hat gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 89/618/Euratom des Rates vom 27. November 1989 über die Unterrichtung der Bevölkerung über die bei einer radiologischen Notstandssituation geltenden Verhaltensmaßregeln und zu ergreifenden Gesundheitsschutzmaßnahmen verstossen, indem sie nicht die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um der Richtlinie nachzukommen.

2) Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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