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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.02.2006
Aktenzeichen: C-137/04
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 48
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)

16. Februar 2006

"Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Beamte und sonstige Bedienstete der Europäischen Gemeinschaften - Elterngeld - Berücksichtigung der bei dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften zurückgelegten Versicherungszeit"

Parteien:

In der Rechtssache C-137/04

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Regeringsrätt (Schweden) mit Entscheidung vom 8. März 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 15. März 2004, in dem Verfahren

Amy Rockler

gegen

Försäkringskassan, früher Riksförsäkringsverk,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, des Richters R. Schintgen, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter G. Arestis und J. Klucka,

Generalanwalt: A. Tizzano,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2005,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der Försäkringskassa, früher Riksförsäkringsverk, vertreten durch H. Almström als Bevollmächtigte,

- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Kruse als Bevollmächtigten,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin und K. Simonsson, als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Artikels 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Amy Rockler und der schwedischen Försäkringskassa (Sozialversicherungsanstalt, früher Riksförsäkringsverk) über die Berücksichtigung der Beschäftigungszeit, während deren Frau Rockler dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war, für die Berechnung der Höhe des Elterngeldes.

Rechtlicher Rahmen

3. Kapitel 4 des schwedischen Sozialversicherungsgesetzes (lag [1962:381] om allmän försäkring, im Folgenden: AFL) enthält Bestimmungen über das Elterngeld.

4. Nach Kapitel 4 § 3 AFL wird den Eltern anlässlich der Geburt eines Kindes höchstens für 450 Tage Elterngeld gezahlt, und dies höchstens bis zur Vollendung des achten Lebensjahrs des Kindes oder bis zum Abschluss des ersten Schuljahrs, wenn dies der spätere Zeitpunkt ist.

5. Gemäß Kapitel 4 § 6 AFL beläuft sich das Elterngeld für die ersten 180 Tage auf mindestens 60 SEK pro Tag (im Folgenden: Garantieniveau). Darüber hinaus ist vorgesehen, dass das Elterngeld während der ersten 180 Tage dem Betrag des Krankengeldes entspricht, wenn der Elternteil vor der Geburt des Kindes oder dem vorgesehenen Geburtstermin mindestens 240 Tage in Folge über dem Garantieniveau krankenversichert war.

6. Nach Kapitel 3 § 2 AFL wird das Krankengeld in Abhängigkeit vom Jahreseinkommen berechnet, das der Versicherte bis auf weiteres aus eigener Arbeit in Schweden erzielen kann, wenn sich die Verhältnisse nicht ändern.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7. Nachdem sie bis zum 15. Oktober 1996 als Chefstewardess für eine Fluggesellschaft gearbeitet hatte, war Frau Rockler, eine schwedische Staatsangehörige, vom 16. Oktober 1996 bis 31. Dezember 1997 als Sekretärin bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel beschäftigt. Am 1. Januar 1998 nahm sie ihre Tätigkeit als Flugbegleiterin wieder auf. Am 2. Juli desselben Jahres wurde ihre Tochter geboren.

8. Mit Entscheidungen vom 16. Januar und 20. März 1998 lehnte die Försäkringskassa die Zuerkennung von Elterngeld in Höhe des Krankengeldes für die ersten 180 Tage des Elternurlaubs an Frau Rockler ab, weil sie nicht mindestens 240 Tage in Folge vor dem vorgesehenen Geburtstermin über dem Garantieniveau nach der nationalen Regelung krankenversichert gewesen sei, sie dies nicht hätte sein müssen und sie auch keine Versicherungszeiten nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats nachweisen könne.

9. Frau Rockler erhob gegen diese Entscheidungen Klage beim Länsrätt Skåne, das diese mit Urteil vom 24. März 1999 aufhob.

10. Die Försäkringskassa legte ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil beim Kammarrätt Göteborg ein, das dieses mit Urteil vom 27. Dezember 2000 abänderte.

11. Frau Rockler legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

12. In diesem Zusammenhang setzte das Regeringsrätt das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

Ist Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen, dass bei der Anwendung einer Vorschrift des nationalen Rechts, nach der ein Arbeitnehmer während einer gewissen Anwartschaftszeit versichert gewesen sein muss, um während des Elternurlaubs eine Leistung in Höhe des Krankengeldes zu erhalten, die Zeit hinzuzurechnen ist, während deren der Arbeitnehmer gemäß den Vorschriften des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem angeschlossen war?

Zur Vorlagefrage

13. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel 48 des Vertrages bei der Anwendung einer nationalen Regelung wie der vorliegenden dahin auszulegen ist, dass die Beschäftigungszeit berücksichtigt werden muss, während deren ein Arbeitnehmer dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war.

14. Nach ständiger Rechtsprechung fällt jeder Gemeinschaftsangehörige, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit unter Artikel 48 EG-Vertrag (Urteile vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C-385/00, De Groot, Slg. 2002, I-11819, Randnr. 76, vom 2. Oktober 2003 in der Rechtssache C-232/01, Van Lent, Slg. 2003, I-11525, Randnr. 14, und vom 13. November 2003 in der Rechtssache C-209/01, Schilling und Fleck-Schilling, Slg. 2003, I-13389, Randnr. 23).

15. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein Beamter der Europäischen Gemeinschaften ein Wanderarbeitnehmer ist. Ein Gemeinschaftsangehöriger, der in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat arbeitet, verliert nämlich nach ständiger Rechtsprechung nicht deshalb die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Artikel 48 Absatz 1 EG-Vertrag, weil er bei einer internationalen Organisation beschäftigt ist, selbst wenn die Bedingungen seiner Einreise in das Beschäftigungsland und seines Aufenthalts in diesem Land Gegenstand einer speziellen Regelung durch ein internationales Übereinkommen sind (Urteil vom 15. März 1989 in den verbundenen Rechtssachen 389/87 und 390/87, Echternach und Moritz, Slg. 1989, 723, Randnr. 11, Urteil Schilling und Fleck-Schilling, Randnr. 28, und Urteil vom 16. Dezember 2004 in der Rechtssache C-293/03, My, Slg. 2004, I-12013, Randnr. 37).

16. Einem Arbeitnehmer, der wie Frau Rockler Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, dürfen deshalb nicht die Rechte und sozialen Vergünstigungen versagt werden, die ihm Artikel 48 des Vertrages gewährt (Urteile Echternach und Moritz, Randnr. 12, und My, Randnr. 38).

17. Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass sämtliche Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im gesamten Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnr. 16, sowie Urteile De Groot, Randnr. 77, und Van Lent, Randnr. 15).

18. Insoweit stellen Vorschriften, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats davon abhalten können oder daran hindern, seinen Herkunftsstaat zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, eine Beschränkung dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden (Urteile De Groot, Randnr. 78, Van Lent, Randnr. 16, sowie Schilling und Fleck-Schilling, Randnr. 25).

19. Nun ist aber eine nationale Regelung, die im Rahmen des Gemeinsamen Krankenfürsorgesystems der Europäischen Gemeinschaften zurückgelegte Beschäftigungszeiten für die Berechnung der Höhe des Elterngeldes nicht berücksichtigt, geeignet, Staatsangehörige eines Mitgliedstaats davon abzuhalten, diesen Staat zu verlassen, um eine berufliche Tätigkeit bei einem Organ der Europäischen Union mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, weil sie mit der Annahme einer Stelle bei dem betreffenden Organ die Möglichkeit verlören, nach der nationalen Regelung über die Krankenversicherung in den Genuss einer Familienleistung zu kommen, auf die sie Anspruch hätten, wenn sie diese Stelle nicht annähmen (vgl. in diesem Sinne vorgenanntes Urteil My, Randnr. 47).

20. Daraus folgt, dass eine nationale Regelung wie im Ausgangsverfahren eine nach Artikel 48 des Vertrages grundsätzlich verbotene Behinderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt.

21. Gleichwohl ist zu prüfen, ob diese Beschränkung nach den Bestimmungen des Vertrages gerechtfertigt werden kann.

22. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes kann eine Maßnahme, mit der eine der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten eingeschränkt wird, nur gerechtfertigt sein, wenn mit ihr ein legitimes Ziel verfolgt wird, das mit dem EG-Vertrag vereinbar ist, und sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Zu diesem Zweck muss eine solche Maßnahme geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (u. a. Urteile vom 31. März 1993 in der Rechtssache C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32, und vom 26. November 2002 in der Rechtssache C-100/01, Oteiza Olazabal, Slg. 2002, I-10981, Randnr. 43).

23. Die schwedische Regierung macht geltend, dass dem AFL objektive Überlegungen zugrunde lägen, die von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig seien und in angemessenem Verhältnis zu dem legitimerweise verfolgten Ziel stünden, Missbräuche bei der Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten zu bekämpfen. Nach Ansicht der schwedischen Regierung würde die Zuerkennung von Elterngeld an Wanderarbeitnehmer, die eine berufliche Tätigkeit bei einem Organ der Europäischen Union ausgeübt haben, über das Garantieniveau hinaus eine schwere finanzielle Belastung für die staatlichen Systeme der sozialen Unterstützung bedeuten, so dass die Mitgliedstaaten, die wie das Königreich Schweden ein hohes Elterngeld auszahlen, gezwungen sein könnten, die entsprechenden Beträge zu verringern.

24. Insofern können rein wirtschaftliche Überlegungen keine Rechtfertigung dafür darstellen, dass die Rechte Einzelner aus den Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschränkt werden.

25. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtfertigungsgründe, die von einem Mitgliedstaat geltend gemacht werden können, von einer Untersuchung der Geeignetheit und der Verhältnismäßigkeit der von diesem Staat erlassenen beschränkenden Maßnahme begleitet werden müssen (Urteil vom 18. März 2004 in der Rechtssache C-8/02, Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Randnr. 45).

26. Es ist jedoch festzustellen, dass es an einer solchen Untersuchung im vorliegenden Fall fehlt. Die schwedische Regierung beschränkt sich nämlich darauf, ohne genaue Informationen zur Begründung ihrer Argumentation auf eine hypothetische finanzielle Belastung für das staatliche System der sozialen Unterstützung für den Fall hinzuweisen, dass die Zeit, in der ein Wanderarbeitnehmer angeschlossen an das Gemeinsame Krankenfürsorgesystem bei den Europäischen Gemeinschaften beschäftigt war, bei der Anwendung des Kapitels 4 § 6 AFL berücksichtigt würde.

27. Daraus folgt, dass die Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die sich aus der Nichtberücksichtigung der von Wanderarbeitnehmern im Rahmen des Gemeinsamen Krankenfürsorgesystems der Europäischen Gemeinschaften zurückgelegten Beschäftigungszeiten für die Berechnung der Höhe des Elterngeldes ergibt, nicht gerechtfertigt ist.

28. Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen ist, dass bei der Anwendung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Zeit berücksichtigt werden muss, während deren ein Arbeitnehmer dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war.

Kostenentscheidung:

Kosten

29. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) ist dahin auszulegen, dass bei der Anwendung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Zeit berücksichtigt werden muss, während deren ein Arbeitnehmer dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war.

Ende der Entscheidung

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