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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.10.1995
Aktenzeichen: C-143/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Artikel 177 des Vertrages ist es allein Sache der nationalen Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu treffende Entscheidung tragen, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihnen vorgelegten Fragen zu beurteilen. Das Ersuchen eines nationalen Gerichts kann nur zurückgewiesen werden, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits besteht.

2. Artikel 29 Absatz 5 Unterabsatz 4 der Richtlinie 71/305 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge in der durch Artikel 1 Nr. 20 der Richtlinie 89/440 geänderten Fassung, der eine zeitlich begrenzte Ausnahme von dem durch die Gemeinschaftsregelung vorgesehenen Regelverfahren zulässt, ist dahin auszulegen, daß diese die Ablehnung ungewöhnlich niedriger Angebote betreffende Ausnahme nur für Verfahren in Anspruch genommen werden darf, in denen die endgültige Vergabe spätestens am 31. Dezember 1992 erfolgt ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (VIERTE KAMMER) VOM 26. OKTOBER 1995. - FURLANIS COSTRUZIONI GENERALI SPA GEGEN AZIENDA NAZIONALE AUTONOMA STRADE (ANAS). - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNALE AMMINISTRATIVO REGIONALE DEL LAZIO - ITALIEN. - RICHTLINIEN 71/305/EWG UND 89/440/EWG DES RATES - OEFFENTLICHE AUFTRAEGE - ANGEBOTE, DIE IM VERHAELTNIS ZUR LEISTUNG UNGEWOEHNLICH NIEDRIG SIND. - RECHTSSACHE C-143/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunale amministrativo regionale Lazio hat mit Beschluß vom 31. März 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Mai 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 185, S. 5) in der Fassung der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 (ABl. L 210, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit einer Klage der Furlanis Costruzioni generali SpA (im folgenden: Klägerin) gegen eine Entscheidung, die die Azienda Nazionale Autonoma Strade (im folgenden: Beklagte), ein öffentlicher Auftraggeber, in einem nichtoffenen Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags getroffen hat.

3 Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 in der durch Artikel 1 Nr. 20 der Richtlinie 89/440 geänderten Fassung regelt, wie bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge Angebote zu behandeln sind, die im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein scheinen. Unterabsatz 1 dieser Bestimmung lautet: "Scheinen im Falle eines bestimmten Auftrags Angebote im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein, so muß der öffentliche Auftraggeber vor der Ablehnung dieser Angebote schriftlich Aufklärung über die Einzelposten des Angebots verlangen, wo er dies für angezeigt hält; die anschließende Prüfung erfolgt unter Berücksichtigung der eingegangenen Erläuterungen."

4 Unterabsatz 4 sieht eine zeitlich begrenzte Ausnahme von dieser Regel vor:

"Bis Ende 1992 kann der öffentliche Auftraggeber jedoch unter der Voraussetzung, daß die geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften dies gestatten, ausnahmsweise und unter Vermeidung von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit Angebote, die im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig sind, ablehnen, ohne das Verfahren nach Unterabsatz 1 einhalten zu müssen, sofern die Zahl dieser Angebote für einen bestimmten Auftrag so hoch ist, daß die Anwendung dieses Verfahrens eine erhebliche Verzögerung bewirken und das öffentliche Interesse an der Ausführung des betreffenden Antrags beeinträchtigen würde. Die Anwendung dieses Ausnahmeverfahrens ist in der Bekanntmachung nach Artikel 12 Absatz 5 zu erwähnen."

5 Die Richtlinie 89/440 wurde durch das Dekret Nr. 406/91 des Präsidenten vom 19. Dezember 1991 in die italienische Rechtsordnung umgesetzt. Nach der in Artikel 29 Absatz 6 dieses Dekrets enthaltenen Bestimmung, die der Umsetzung der genannten Ausnahmeregelung dient, kann der öffentliche Auftraggeber bis zum 31. Dezember 1992 "ungewöhnlich niedrig erscheinende Angebote automatisch ausschließen..., wenn mehr als 30 Angebote abgegeben wurden. In der Bekanntmachung der Ausschreibung ist auf die Möglichkeit des Ausschlusses hinzuweisen; ausserdem ist anzugeben, welcher Prozentsatz dem Durchschnittswert hinzugerechnet wird."

6 Aus den Akten geht hervor, daß die Beklagte mit Bekanntmachung vom 28. September 1992, die am 2. Oktober 1992 im Amtsblatt der Italienischen Republik veröffentlicht wurde, ein nichtoffenes Verfahren nach Artikel 29 des Dekrets Nr. 406/91 des Präsidenten zur Vergabe von Bauarbeiten an der Strasse Piceno -Aprutina, Abschnitt Ascoli Piceno-Comunanza, zweites Los, zweite Tranche, zu einem Hoechstbetrag von 36 900 000 000 LIT einleitete.

7 In der Bekanntmachung hieß es, als im Sinne der genannten Vorschrift ungewöhnlich niedrig im Verhältnis zur Leistung würden Angebote angesehen, die einen prozentualen Preisnachlaß (gemessen an dem für die Vergabe festgesetzten Basispreis) enthielten, der den um 7 % erhöhten durchschnittlichen prozentualen Preisnachlaß aller zugelassenen Angebote übersteige.

8 Die Klägerin stellte einen mit den erforderlichen Unterlagen versehenen Antrag auf Teilnahme und erhielt mit Schreiben vom 12. September 1992 die Aufforderung, sich an dem für den 4. Februar 1993 vorgesehenen Vergabeverfahren zu beteiligen. Das Unternehmen entsprach der Aufforderung durch die Einreichung eines Angebots. Die Beklagte vergab den Auftrag am 4. Februar 1993 an die Edilvie SRL, deren Rechtsnachfolgerin später die Itinera CO. GE. SpA (im folgenden: Itinera) wurde. Die Klägerin wurde mit der Begründung ausgeschlossen, nach dem in der Bekanntmachung festgelegten Kriterium sei ihr Angebot als ungewöhnlich niedrig anzusehen.

9 Die Klägerin erhob gegen die Entscheidung, mit der die Arbeiten an Edilvie vergeben worden waren, Klage beim Tribunale amministrativo regionale Lazio. Zur Begründung führte das Unternehmen im wesentlichen aus, sowohl nach der Gemeinschaftsregelung als auch nach dem ihrer Umsetzung dienenden italienischen Dekret gelte die ungewöhnlich niedrige Angebote betreffende Ausnahmebestimmung nur für Vergabeverfahren, die bis zum 31. Dezember 1992 abgeschlossen worden seien; die blosse Veröffentlichung der Bekanntmachung bis zu diesem Datum genüge hingegen nicht.

10 Da nach Ansicht des nationalen Gerichts fraglich ist, wie die Befristung der Anwendbarkeit der fraglichen Ausnahmebestimmung bis zum 31. Dezember 1992 zu verstehen ist, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist das bis Ende 1992 vorgesehene abweichende Verfahren für die Behandlung von Angeboten, die im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig sind, gemäß Artikel 1 Nr. 20 der Richtlinie 89/440/EWG zur Änderung der Richtlinie 71/305/EWG über die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge a) im Rahmen von Ausschreibungsverfahren zulässig, die innerhalb dieses Zeitraums tatsächlich durchgeführt wurden, oder b) im Rahmen von Ausschreibungsverfahren, die innerhalb dieses Zeitraums eingeleitet wurden?

Zulässigkeit

11 Itinera vertritt die Auffassung, die Vorabentscheidungsfrage sei unerheblich und daher unzulässig, da über die richtige Auslegung der fraglichen Gemeinschaftsbestimmung keinerlei Zweifel bestehen könne. Denn im Einklang mit dem allgemeinen Grundsatz, daß sich das Recht, das auf ein Verfahren wie das zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags anwendbar sei, nach der verfahrenseinleitenden Handlung richte, sei davon auszugehen, daß sich das Datum des 31. Dezember 1992 lediglich auf die Bekanntmachung beziehe.

12 Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache der nationalen Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu treffende gerichtliche Entscheidung tragen, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihnen vorgelegten Fragen zu beurteilen. Das Ersuchen eines nationalen Gerichts kann nur zurückgewiesen werden, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht (vgl. zuletzt Urteil vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C-62/93, Soupergaz, Randnr. 10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht). Das ist im Ausgangsverfahren jedoch nicht der Fall.

13 Die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu prüfen.

Zur Vorabentscheidungsfrage

14 Mit seiner Frage möchte das nationale Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 29 Absatz 5 Unterabsatz 4 der Richtlinie 71/305 in der geänderten Fassung dahin auszulegen ist, daß die dort vorgesehene Ausnahme nur für Verfahren in Anspruch genommen werden darf, in denen die endgültige Vergabe spätestens am 31. Dezember 1992 erfolgt ist, oder ob sie für alle Verfahren gilt, für die die Bekanntmachung bis zu diesem Datum veröffentlicht wurde.

15 Nach Ansicht von Itinera und der italienischen Regierung werden von der fraglichen Ausnahmebestimmung auch die Verfahren erfasst, für die die Bekanntmachung bis zum 31. Dezember 1992 erfolgt sei, ohne daß bereits die endgültige Vergabe stattgefunden habe. Die inhaltliche Ausgestaltung eines Vergabeverfahrens richte sich nämlich nach den Regeln, die in der Bekanntmachung angegeben seien, durch die eine Selbstbindung des öffentlichen Auftraggebers bewirkt werde.

16 Nach Auffassung der Klägerin und der Kommission hingegen ist die fragliche Bestimmung wegen ihres Ausnahmecharakters eng dahin auszulegen, daß sie nur die bis zum 31. Dezember 1992 abgeschlossenen Vergabeverfahren erfasst.

17 Nach dem Wortlaut der Vorschrift kann der öffentliche Auftraggeber die im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrigen Angebote bis Ende 1992 "ablehnen". Der Wortlaut bezieht sich damit auf die endgültige Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers über die bei ihm eingegangenen Angebote und nicht lediglich auf die das Vergabeverfahren einleitende Handlung.

18 Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, daß die fragliche Richtlinienbestimmung in dem Kapitel "Zuschlagskriterien" steht, das die letzte Phase des Vergabeverfahrens betrifft.

19 Für eine enge Auslegung dieser Vorschrift sprechen noch weitere Gründe.

20 So hat der Gerichtshof in dem Urteil vom 10. März 1987 in der Rechtssache 199/85 (Kommission/Italien, Slg. 1987, 1039, Randnr. 14) entschieden, daß Bestimmungen, die Ausnahmen von den Vorschriften zulassen, die die Wirksamkeit der durch den Vertrag im Bereich der öffentlichen Bauaufträge eingeräumten Rechte gewährleisten sollen, eng auszulegen sind. Dies gilt auch für die hier fragliche Bestimmung, die eine zeitlich begrenzte Ausnahme von dem durch die Gemeinschaftsregelung vorgesehenen Regelverfahren zulässt.

21 Für eine enge Auslegung der Vorschrift spricht überdies, daß die in ihr enthaltene zeitlich begrenzte Ausnahmeregelung, wie von der Kommission vorgetragen, auf Wunsch eines einzigen Mitgliedstaats wegen besonderer Schwierigkeiten, die sich in seiner internen Rechtsordnung stellten, geschaffen wurde.

22 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß Artikel 29 Absatz 5 Unterabsatz 4 der Richtlinie 71/305 in der durch Artikel 1 Nr. 20 der Richtlinie 89/440 geänderten Fassung dahin auszulegen ist, daß die dort vorgesehene Ausnahme nur für Verfahren in Anspruch genommen werden darf, in denen die endgültige Vergabe spätestens am 31. Dezember 1992 erfolgt ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

auf die ihm vom Tribunale amministrativo regionale Lazio mit Beschluß vom 31. März 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 29 Absatz 5 Unterabsatz 4 der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge in der durch Artikel 1 Nr. 20 der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, daß die dort vorgesehene Ausnahme nur für Verfahren in Anspruch genommen werden darf, in denen die endgültige Vergabe spätestens am 31. Dezember 1992 erfolgt ist.

Ende der Entscheidung

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