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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.06.1996
Aktenzeichen: C-144/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Richtlinie 79/112


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
Richtlinie 79/112 Art. 9
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Gerichtshof ist im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Artikel 177 des Vertrages zur Entscheidung über eine mögliche Verletzung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs durch Verfahrensvorschriften nicht zuständig, die auf Verstösse gegen eine nicht in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallende nationale Regelung anwendbar sind.


Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 13. Juni 1996. - Strafverfahren gegen Jean-Louis Maurin. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de police de Toulouse - Frankreich. - Vorabentscheidungsverfahren - Auslegung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs - Nationale Rechtsvorschriften auf dem Gebiete der Bekämpfung betrügerischer Handlungen - Lebensmittel - Unzuständigkeit. - Rechtssache C-144/95.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de police Toulouse hat mit Urteil vom 4. April 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen J.-L. Maurin (Angeklagter), der angeklagt ist, unter Verstoß gegen Artikel 18 des Dekrets Nr. 84-1147 vom 7. Dezember 1984 zur Durchführung des Gesetzes vom 1. August 1905 über betrügerische Handlungen und Fälschungen im Bereich der Waren oder Dienstleistungen in bezug auf die Etikettierung und die Aufmachung von Lebensmitteln (JORF vom 21. Dezember 1984, S. 3925), Lebensmittel zum Verkauf angeboten zu haben, deren Verbrauchsdatum überschritten war. Artikel 18 Absatz 1 des Dekrets Nr. 84-1147 lautet:

"Unbeschadet der in den Artikeln 1 bis 4 des Gesetzes vom 1. August 1905 und in Artikel 26 des Dekrets Nr. 71-636 vom 21. Juli 1971 vorgesehenen Strafen sind der Besitz zum Zwecke des Verkaufs, das Feilbieten, der Verkauf oder der kostenlose Vertrieb von Lebensmitteln, für die ein Verbrauchsdatum festgesetzt worden ist, verboten, wenn dieses Datum überschritten ist."

3 Vor dem vorlegenden Gericht rügte der Angeklagte die Nichtigkeit des am 15. Juni 1993 aufgenommenen Protokolls mit der Begründung, es sei nicht von der von den Ermittlungen betroffenen Person unterzeichnet, was gegen das Dekret Nr. 86-1309 vom 29. Dezember 1986 zur Festlegung der Bedingungen für die Anwendung der Ordonnance Nr. 86-1243 vom 1. Dezember 1986 über die freie Preisgestaltung und den freien Wettbewerb (JORF vom 30. Dezember 1986, S. 15775) und die Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über das rechtliche Gehör verstosse.

4 Hierzu führt das nationale Gericht aus, daß der Angeklagte aufgrund des Dekrets Nr. 84-1147 verfolgt werde und daß das Verfahren nach dem Gesetz vom 1. August 1905 über betrügerische Handlungen und Fälschungen auf dem Gebiet der Waren oder Dienstleistungen (JORF vom 5. August 1905) nicht vorsehe, daß die Protokolle vom Beschuldigten unterzeichnet würden.

5 Das Tribunal de police Toulouse hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist das Verfahren zur Feststellung von Verstössen, wie es sich aus dem Gesetz vom 1. August 1905 über betrügerische Handlungen und Fälschungen bei Waren oder Dienstleistungen in bezug auf die Etikettierung und die Aufmachung von Lebensmitteln ergibt, und insbesondere der Umstand, daß das Protokoll nicht von der von den Ermittlungen betroffenen Person zu unterzeichnen ist, mit den vom Gerichtshof entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen über das rechtliche Gehör vereinbar?

6 Die französische und die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission vertreten die Ansicht, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der gestellten Frage nicht zuständig, da die nationale Regelung nicht in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle. Im übrigen nenne das nationale Gericht keine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts und werfe somit keine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit im Zusammenhang mit diesem Recht auf.

7 Aus dem Vorlageurteil geht hervor, daß der Angeklagte gemäß Artikel 18 des Dekrets Nr. 84-1147 verfolgt wird, der insbesondere den Verkauf von Lebensmitteln untersagt, deren Verbrauchsdatum abgelaufen ist.

8 Die im Zeitpunkt der dem Angeklagten zur Last gelegten Tatsachen geltenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts finden sich in der Richtlinie 79/112/EWG des Rates vom 18. Dezember 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. L 33, S. 1) in der Fassung der Richtlinie 89/395/EWG des Rates vom 14. Juni 1989 (ABl. L 186, S. 17; im folgenden: die Richtlinie).

9 Wie der Gerichtshof entschieden hat, stellt die Richtlinie 79/112, wie insbesondere aus ihrer ersten und ihrer achten Begründungserwägung hervorgeht, nur die erste Stufe eines Harmonisierungsprozesses dar, der auf die schrittweise Abschaffung aller Hindernisse für den freien Verkehr mit Lebensmitteln abzielt, die sich aus den Unterschieden zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung dieser Erzeugnisse ergeben (Urteil vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-17/93, Van der Veldt, Slg. 1994, I-3537, Randnr. 26).

10 Im Rahmen dieser ersten Harmonisierungsstufe sehen insbesondere die Artikel 9 und 9a der Richtlinie vor, daß das Mindesthaltbarkeitsdatum bzw. bei in mikrobiologischer Hinsicht sehr leicht verderblichen Lebensmitteln das Verbrauchsdatum auf der Etikettierung von Lebensmitteln angegeben sein muß. Ferner sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 22 Absatz 1 verpflichtet, das Inverkehrbringen der nicht der Richtlinie entsprechenden Erzeugnisse zu untersagen.

11 Hingegen regelt die Richtlinie nicht den Verkauf von Lebensmitteln, die ihren Bestimmungen in bezug auf die Etikettierung entsprechen, und schafft daher für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtungen, wenn es, wie im Ausgangsverfahren, um den Verkauf von der Richtlinie entsprechenden Erzeugnissen geht, deren Verbrauchsdatum überschritten ist.

12 Somit betrifft der dem Angeklagten zur Last gelegte Verstoß eine nationale Regelung, die nicht in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so daß der Gerichtshof zur Entscheidung über eine mögliche Verletzung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs durch die auf eine solche Rechtsverletzung anwendbaren Verfahrensvorschriften nicht zuständig ist (vgl. insbesondere Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnr. 28).

13 Daher ist dem nationalen Gericht zu antworten, daß der Gerichtshof zur Entscheidung über eine mögliche Verletzung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs durch Verfahrensvorschriften nicht zuständig ist, die auf eine nicht in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallende nationale Regelung anwendbar sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

14 Die Auslagen der französischen und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal de police Toulouse mit Urteil vom 4. April 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Der Gerichtshof ist zur Entscheidung über eine mögliche Verletzung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs durch Verfahrensvorschriften nicht zuständig, die auf Verstösse gegen eine nicht in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallende nationale Regelung anwendbar sind.

Ende der Entscheidung

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