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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 06.03.1997
Aktenzeichen: C-167/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, RiLi 77/388 EWG


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
RiLi 77/388 EWG Art. 9
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 9 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, der zum einen Kompetenzkonflikte, die zur Doppelbesteuerung führen können, und zum anderen die Nichtbesteuerung von Einnahmen verhindern soll, ist so auszulegen, daß als Ort der hauptsächlich und gewöhnlich von Tierärzten erbrachten Dienstleistungen der Ort gilt, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

Da die Hauptfunktion des Tierarztes in der wissenschaftlichen Beurteilung der Gesundheit von Tieren, der medizinischen Prävention sowie bei kranken Tieren in der Diagnose und der Heilbehandlung besteht, gehört nämlich die Leistung, die er erbringt, zu keiner der Leistungen, die Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie nennt, um bestimmte Dienstleistungen an den Ort ihrer tatsächlichen Erbringung oder an den Sitz oder die feste Niederlassung des Empfängers zu knüpfen.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 6. März 1997. - Maatschap M.J.M. Linthorst, K.G.P. Pouwels en J. Scheren c.s. gegen Inspecteur der Belastingdienst/Ondernemingen Roermond. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Gerechtshof 's-Hertogenbosch - Niederlande. - Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Artikel 9 - Dienstleistungen der Tierärzte. - Rechtssache C-167/95.

Entscheidungsgründe:

1 Der Gerechtshof 's-Hertogenbosch hat mit Beschluß vom 18. Mai 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Firma M. J. M. Linthorst, K. G. P. Pouwels und J. Scheres c. s. (Firma Linthorst) mit Sitz in Ell (Niederlande) und den niederländischen Steuerbehörden wegen der Zahlung der Mehrwertsteuer für Leistungen, die diese Firma ausserhalb der Niederlande erbracht hat.

3 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß die Firma Linthorst, deren Gesellschafter alle Tierärzte sind, eine Praxis für allgemeine Tierheilkunde betreibt. Im Februar 1994 stellte die Firma Linthorst in Belgien niedergelassenen Unternehmern (Viehmästern) für erbrachte tierärztliche Leistungen insgesamt 5 110 HFL in Rechnung. Diese Dienstleistungen, die keine Lieferung von Medikamenten umfassten, wurden an in Belgien befindlichen Tieren vorgenommen. Die belgischen Viehmäster, die Empfänger der fraglichen Dienstleistungen, haben keine feste Niederlassung ausserhalb Belgiens.

4 Die Firma Linthorst schloß in ihre bei den niederländischen Steuerbehörden abgegebene Mehrwertsteuererklärung über einen Gesamtbetrag von 32 027 HFL für den fraglichen Zeitraum den Betrag von 894 HFL für Dienstleistungen zugunsten der belgischen Zuechter ein. Sie legte sodann Einspruch mit dem Antrag auf Erstattung dieses Betrages ein. Dieser wurde von der zuständigen niederländischen Stelle zurückgewiesen. Die Firma Linthorst erhob daraufhin Klage gegen diese Entscheidung beim Gerechtshof 's-Hertogenbosch.

5 Die Firma Linthorst macht geltend, im vorliegenden Fall sei die Ausnahmebestimmung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c dritter oder vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie anzuwenden, so daß der Ort der fraglichen Dienstleistungen der Ort sei, an dem diese Dienstleistungen tatsächlich bewirkt worden seien, nämlich Belgien. Hilfsweise führt sie aus, Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie sei anwendbar, so daß der Ort der betreffenden Dienstleistungen der Ort sei, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit habe, d. h. ebenfalls Belgien. Die Firma Linthorst ist deshalb der Auffassung, daß sie für die in Belgien erbrachten Dienstleistungen keine niederländische Mehrwertsteuer schulde.

6 Die entscheidungserheblichen Bestimmungen des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie lauten wie folgt:

"(1) Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

(2) Es gilt jedoch

...

c) als Ort der folgenden Dienstleistungen der Ort, an dem diese Dienstleistungen tatsächlich bewirkt werden:

-...

-...

- Begutachtungen beweglicher körperlicher Gegenstände,

- Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen;

...

e) als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an ausserhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an innerhalb der Gemeinschaft, jedoch ausserhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden, der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort:

-...

-...

- Leistungen von Beratern, Ingenieuren, Studienbüros, Anwälten, Buchprüfern und sonstige ähnliche Leistungen sowie die Datenverarbeitung und die Überlassung von Informationen,

..."

7 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, daß die von Tierärzten erbrachten Dienstleistungen weder unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c dritter oder vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie noch unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dritter Gedankenstrich fielen. Deshalb gelte im vorliegenden Fall die Hauptregel des Artikels 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie, so daß der Ort dieser Dienstleistungen der Ort sei, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit habe.

8 Da der Gerechtshof 's-Hertogenbosch meint, daß die Auslegung dieser Vorschrift durch den Gerichtshof im Hinblick auf ihre einheitliche Anwendung unerläßlich sei, da die Steuerbehörden bestimmter Mitgliedstaaten hierüber verschiedener Meinung seien, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

Ist Artikel 9 der Sechsten Richtlinie so auszulegen, daß als Ort, an dem ein Tierarzt seine Dienstleistungen erbringt, der Ort gilt, an dem er den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus diese Dienstleistungen erbracht werden, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort, oder ist dieser Artikel so auszulegen, daß der Ort, an dem ein Tierarzt seine Dienstleistungen erbringt, ein anderer ist, nämlich der, an dem die Dienstleistungen tatsächlich bewirkt werden, oder der, an dem der Empfänger der Dienstleistungen den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für die die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort?

9 Somit sind die entscheidungserheblichen Vorschriften des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie zu prüfen, um festzustellen, unter welche von ihnen die von Tierärzten erbrachten Dienstleistungen fallen.

10 Zum Verhältnis zwischen den Absätzen 1 und 2 des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie hat der Gerichtshof bereits festgestellt, daß Artikel 9 Absatz 2 eine Reihe besonderer Anknüpfungspunkte enthält, während in Absatz 1 insoweit eine allgemeine Regel niedergelegt ist. Durch diese Bestimmungen sollen, wie sich aus Artikel 9 Absatz 3 - wenn auch nur für Sonderfälle - ergibt, Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten, sowie die Nichtbesteuerung von Einnahmen verhindert werden (Urteile vom 4. Juli 1985 in der Rechtssache 168/84, Berkholz, Slg. 1985, 2251, Randnr. 14, und vom 26. September 1996 in der Rechtssache C-327/94, Dudda, Randnr. 20, Slg. 2996, I-0000, Randnr. 20).

11 Daraus folgt, daß eine Auslegung des Artikels 9 keinen Vorrang des Absatzes 1 gegenüber Absatz 2 ergibt. In jedem Einzelfall stellt sich vielmehr die Frage, ob eine der Bestimmungen des Artikels 9 Absatz 2 einschlägig ist; andernfalls gilt Absatz 1 (Urteil Dudda, a. a. O., Randnr. 21).

12 Der erste Fall des Artikels 9 Absatz 2, der hier in Frage kommt, ist der der "Begutachtungen beweglicher körperlicher Gegenstände" (Buchstabe c dritter Gedankenstrich).

13 Der Begriff "Begutachtung" bedeutet, wie die deutsche Regierung und die Kommission zu Recht ausgeführt haben, die Prüfung des körperlichen Zustands oder die Untersuchung der Echtheit eines Gegenstands zur Schätzung seines Wertes oder zur Bewertung etwa vorzunehmender Arbeiten oder des Umfangs eines Schadens.

14 Die Hauptfunktion des Tierarztes besteht dagegen in der wissenschaftlichen Beurteilung der Gesundheit von Tieren, der medizinischen Prävention sowie bei kranken Tieren in der Diagnose und der Heilbehandlung. Zwar können die Dienstleistungen des Tierarztes bisweilen in der Schätzung des Wertes eines Tieres oder eines Viehbestands bestehen; dies kann jedoch nicht als die für die Funktion des Tierarztes kennzeichnende Aufgabe angesehen werden. Die hauptsächlich und gewöhnlich vom Tierarzt erbrachten Dienstleistungen werden somit nicht von dem Begriff "Begutachtungen" umfasst, so daß sie nicht unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie fallen.

15 Als zweiter Fall des Artikels 9 Absatz 2 ist der der "Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" (Buchstabe c vierter Gedankenstrich) zu prüfen.

16 Diese Wendung bezeichnet ebenso wie die in den anderen Sprachfassungen dieser Vorschrift mit Ausnahme der niederländischen Fassung benutzten Wendungen im allgemeinen einen lediglich körperlichen Eingriff in bewegliche körperliche Gegenstände, der grundsätzlich nicht wissenschaftlicher oder intellektueller Natur ist. Die niederländische Fassung muß, auch wenn sie etwas unklar ist, entsprechend den anderen Sprachfassungen ausgelegt werden.

17 Die Hauptfunktionen des Tierarztes bestehen dagegen grundsätzlich, wie in Randnummer 14 dieses Urteils festgestellt, in der Heilbehandlung von Tieren nach wissenschaftlichen Regeln. Der Umstand, daß eine solche Behandlung manchmal einen körperlichen Eingriff erfordert, genügt jedoch nicht, um sie als "Arbeit" zu bezeichnen. Auch würde, wie die deutsche Regierung zu Recht vorgetragen hat, eine so weite Auslegung des Begriffes "Arbeiten" den Buchstaben c dritter Gedankenstrich des Absatzes 2 überfluessig machen, da die Begutachtung dann von diesem Begriff umfasst würde.

18 Infolgedessen fallen die hauptsächlich und gewöhnlich vom Tierarzt erbrachten Dienstleistungen auch nicht unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie.

19 Als dritter Fall kommen hier in Betracht die "Leistungen von Beratern, Ingenieuren, Studienbüros, Anwälten, Buchprüfern und sonstige ähnliche Leistungen" (Buchstabe e dritter Gedankenstrich).

20 Gemeinsam ist den hier genannten heterogenen Tätigkeiten nur, daß sie alle im Rahmen freier Berufe ausgeuebt werden. Wie die deutsche Regierung jedoch zu Recht bemerkt hat, hätte der Gemeinschaftsgesetzgeber, wenn er gewollt hätte, daß alle freiberuflichen Tätigkeiten unter diese Vorschrift fallen, diese Tätigkeiten in allgemeinen Worten definiert.

21 Zudem hätte der Gesetzgeber den Arztberuf in der Aufzählung genannt, wenn er ihn allgemein als typische freiberufliche Tätigkeit mit dieser Vorschrift hätte erfassen wollen, da - wie sowohl das vorlegende Gericht als auch der Generalanwalt in Nummer 22 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt haben - die Sechste Richtlinie in anderen Vorschriften die Leistungen der Tierärzte ausdrücklich nennt, so z. B. bei der in Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F der Sechsten Richtlinie vorgesehenen vorläufigen Befreiung.

22 Auch reicht der Umstand, daß die Aufgaben des Tierarztes manchmal Beratungs- oder Studienaspekte enthalten, nicht aus, um die hauptsächlich und gewöhnlich mit dem Tierarztberuf verbundenen Tätigkeiten als Leistungen von "Beratern" oder "Studienbüros" oder als "ähnliche Leistungen" anzusehen.

23 Folglich ist festzustellen, daß die typischen Funktionen des Tierarztes nicht unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie fallen.

24 Da keiner der in Artikel 9 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie genannten besonderen Anknüpfungspunkte hier eingreift, ist entsprechend dem genannten Urteil Dudda im Ergebnis festzustellen, daß die hauptsächlichen und gewöhnlichen Leistungen der Tierärzte unter Artikel 9 Absatz 1 dieser Richtlinie fallen.

25 Auf die gestellte Frage ist somit zu antworten, daß Artikel 9 der Sechsten Richtlinie so auszulegen ist, daß als Ort der hauptsächlich und gewöhnlich von Tierärzten erbrachten Dienstleistungen der Ort gilt, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Die Auslagen der niederländischen, der deutschen und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

auf die ihm vom Gerechtshof 's-Hertogenbosch mit Beschluß vom 18. Mai 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 9 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist so auszulegen, daß als Ort der hauptsächlich und gewöhnlich von Tierärzten erbrachten Dienstleistungen der Ort gilt, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

Ende der Entscheidung

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