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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.06.1996
Aktenzeichen: C-170/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung betrifft nicht den Erwerb, sondern das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs eines Arbeitslosen, der nach Ablauf der in Absatz 1 Buchstabe c dieses Artikels festgelegten Dreimonatsfrist nach Belgien zurückkehrt. Diese Bestimmung lässt es nicht zu, daß einem Arbeitslosen, der zum Zeitpunkt seines Antrags die nach den belgischen Rechtsvorschriften für den Erwerb des Leistungsanspruchs erforderlichen Voraussetzungen erfuellt, ein solcher Anspruch versagt wird. Ließe man den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit durch einen Arbeitnehmer, der von der ihm durch Artikel 69 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat Arbeit zu suchen und weiterhin Arbeitslosenunterstützung zu beziehen, nur unter Voraussetzungen zu, die für das Wiederaufleben des Anspruchs auf diese Leistungen nach einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten ausserhalb des Gebietes des zuständigen Staates gelten und die die Arbeitnehmer, die dieses Gebiet nicht verlassen haben, nicht erfuellen müssen, um diesen Anspruch zu erwerben, würde dies zu einer Diskriminierung der Wanderarbeitnehmer führen und bewirken, daß die Mobilität der Arbeitsuchenden, die Artikel 69 gerade fördern will, erschwert würde.


Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 13. Juni 1996. - Office national de l'emploi gegen Calogero Spataro. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour de cassation - Belgien. - Soziale Sicherheit - Leistungen bei Arbeitslosigkeit - Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71. - Rechtssache C-170/95.

Entscheidungsgründe:

1 Die belgische Cour de cassation hat mit Urteil vom 15. Mai 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juni 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung (im folgenden: Verordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Office national de l' emploi (im folgenden: ONEM) und Herrn Spataro über die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit.

3 Während Herr Spataro in Belgien als Arbeitsloser Unterstützung erhielt, verließ er im Juli 1985 dieses Land, um in Italien eine Beschäftigung zu suchen. Gemäß Artikel 69 Absatz 1 der Verordnung behielt er den Anspruch auf die belgische Arbeitslosenunterstützung während drei Monaten.

4 Da er in Italien keine Beschäftigung gefunden hatte, ließ sich Herr Spataro nach Ablauf dieser Dreimonatsfrist wieder in Belgien nieder, wo er Anfang 1986 wieder Arbeit fand. Einige Wochen später wurde er jedoch erneut arbeitslos und beantragte Arbeitslosenunterstützung. Das ONEM verweigerte ihm diese Unterstützung mit der Begründung, daß er in Belgien noch nicht wieder während drei Monaten gearbeitet habe, wie es Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung verlange. Das Amt war ausserdem der Ansicht, Herr Spataro erfuelle nicht die in den belgischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Wartezeitbedingungen (Artikel 118 ff. der Königlichen Verordnung vom 20. Dezember 1963 über Beschäftigung und Arbeitslosigkeit; im folgenden: Königliche Verordnung).

5 Der Betroffene erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunal du travail Lüttich, das seinem Antrag stattgab. Die Cour du travail Lüttich bestätigte im Berufungsverfahren das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts und führte insbesondere aus, daß Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung zwar verlange, daß der Arbeitslose, der nach Belgien zurückkehre, dort erneut während drei Monaten eine Beschäftigung ausübe, damit der Anspruch auf die Leistungen in diesem Staat wiederauflebe, daß er den Neuerwerb des Leistungsanspruchs aber nicht von dieser Bedingung abhängig mache. Die Cour du travail stellte jedoch fest, daß Herr Spataro für die 27 Monate vor Einreichung seines Unterstützungsantrags mehr als 450 Arbeitstage oder gleichgestellte Tage habe nachweisen können, wie es die in der Königlichen Verordnung für den Erwerb des Unterstützungsanspruchs festgelegten Wartezeitbedingungen verlangten.

6 Die mit der Kassationsbeschwerde des ONEM befasste Cour de cassation hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 dahin auszulegen, daß das Erfordernis, daß der Arbeitslose seit seiner Rückkehr nach Belgien während mindestens drei Monaten eine Beschäftigung ausgeuebt hat, Anwendung findet, wenn der Arbeitslose nicht unter Berufung auf Artikel 123 der Königlichen Verordnung vom 20. Dezember 1963 geltend macht, daß er seinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung behalten habe, sondern nachweist, daß er zum Zeitpunkt seines Antrags die Wartezeitbedingungen für den Erwerb des Anspruchs auf diese Unterstützung erfuellt hat?

7 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 69 der Verordnung dem arbeitslosen Arbeitnehmer die Möglichkeit eröffnet, sich für einen bestimmten Zeitraum der nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats bestehenden Verpflichtung, der Arbeitsverwaltung dieses Staates zur Verfügung zu stehen, zu entziehen, ohne daß er deshalb den Anspruch auf die Leistungen bei Arbeitslosigkeit verliert, um ihm so die Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat zu ermöglichen. Gemäß Artikel 69 Absatz 1 Buchstabe c ist diese dem Arbeitnehmer eingeräumte Vergünstigung auf einen Zeitraum von drei Monaten von dem Zeitpunkt an beschränkt, ab dem er der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates nicht mehr zur Verfügung steht.

8 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 19. Juni 1980 in den Rechtssachen 41/79, 121/79 und 796/79 (Testa, Slg. 1980, 1979) entschieden, daß der Arbeitnehmer, der nach Ablauf der Dreimonatsfrist in den zuständigen Staat zurückkehrt, nicht mehr gemäß Artikel 69 Absatz 2 einen Anspruch auf Leistungen gegen den zuständigen Staat erheben kann, sofern nicht die genannte Frist nach dieser Bestimmung verlängert worden ist.

9 Artikel 69 Absatz 4, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, ist eine Sondervorschrift, die das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs des Arbeitslosen regelt, der nach Ablauf der Dreimonatsfrist nach Belgien zurückkehrt. Nach dieser Bestimmung muß der Arbeitnehmer nach seiner Rückkehr in dieses Land dort während mindestens drei Monaten eine Beschäftigung ausgeuebt haben, damit dieser Anspruch wiederauflebt.

10 Im Urteil vom 10. Mai 1990 in der Rechtssache C-163/89 (Di Conti, Slg. 1990, I-1829) hat der Gerichtshof ausgeführt, daß diese Bestimmung nicht ungeachtet der Besonderheiten der belgischen Rechtsvorschriften, insbesondere des Artikels 123 der Königlichen Verordnung, ausgelegt werden kann, wonach der arbeitslos gewordene Arbeitnehmer den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung behält, wenn seine Unterstützung nur für einen Zeitraum von weniger als drei Jahren unterbrochen wurde. Der Gerichtshof hat daher für Recht erkannt, daß ein Arbeitsloser, der nach Ablauf der in Artikel 69 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung festgelegten Dreimonatsfrist nach Belgien zurückkehrt, den Anspruch auf Leistungen nach dem belgischen System der Leistungen bei Arbeitslosigkeit unter der alleinigen Bedingung wiedererlangt, daß er nach den belgischen Rechtsvorschriften weiterhin leistungsberechtigt geblieben ist und seit seiner Rückkehr nach Belgien mindestens drei Monate eine Beschäftigung ausgeuebt hat.

11 Die Vorlagefrage geht dahin, ob die letztgenannte, in Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung vorgesehene Bedingung auch dann Anwendung findet, wenn der Arbeitslose nicht geltend macht, daß er seinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung nach den belgischen Rechtsvorschriften (Artikel 123 der Königlichen Verordnung) behalten habe, sondern zum Zeitpunkt seines Antrags die in diesen Rechtsvorschriften (Artikel 118 der Königlichen Verordnung) genannten Voraussetzungen für den Erwerb eines solchen Anspruchs erfuellt.

12 Das ONEM und die belgische Regierung schlagen vor, die Frage zu bejahen. Sie führen im wesentlichen aus, daß Artikel 69 Absatz 4 seinen Sinn verlieren würde, wenn die darin ausdrücklich verankerte Verpflichtung zur Wiederaufnahme einer Arbeit während mindestens drei Monaten nach der Rückkehr nach Belgien in einer Situation, wie sie das vorlegende Gericht beschreibe, nicht bestuende.

13 Die französische Regierung und die Kommission schlagen demgegenüber vor, die Frage zu verneinen. Sie machen insbesondere geltend, daß die streitige Bestimmung, die lediglich das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs des Arbeitslosen, der nach Belgien zurückkehre, regele, nicht bewirken könne, daß der Erwerb dieses Anspruchs für einen Wanderarbeitnehmer schwieriger werde als für einen Arbeitnehmer, für den lediglich die belgischen Rechtsvorschriften gälten.

14 Diesem Vorbringen ist zu folgen.

15 Erstens ist daran zu erinnern, daß ° wie der Gerichtshof in Randnummer 12 des erwähnten Urteils Di Conti ausgeführt hat ° Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung nur verlangt, daß der Arbeitslose, der nach Belgien zurückkehrt, dort während drei Monaten erneut eine Beschäftigung ausübt, damit der Leistungsanspruch wiederauflebt; er betrifft daher das Wiederaufleben und nicht den Erwerb des Leistungsanspruchs. Diese Vorschrift ist im übrigen nicht im Hinblick auf die Voraussetzungen für den Erwerb des Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung nach den belgischen Rechtsvorschriften erlassen worden, sondern als Ausgleich für die durch diese Rechtsvorschriften gebotene Möglichkeit, den Leistungsanspruch während eines recht langen Zeitraums aufrechtzuerhalten, ohne daß die Arbeitslosen aber der belgischen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stehen (vgl. Urteil Di Conti, a. a. O., Randnr. 16).

16 Zweitens verliert der Wanderarbeitnehmer zwar ° wie in Randnummer 7 des vorliegenden Urteils ausgeführt ° seinen Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates, wenn er nicht vor Ablauf der Dreimonatsfrist dorthin zurückkehrt; das bedeutet aber nicht, daß er diesen Anspruch nicht unter den in den Rechtsvorschriften dieses Staates vorgesehenen normalen Bedingungen neu erwerben kann. Ein Ausschluß dieser Möglichkeit würde ihn nämlich in eine weniger günstige Lage versetzen, als wenn er nicht die Anwendung von Artikel 69 der Verordnung beantragt hätte. Die vom ONEM und von der belgischen Regierung vertretene Auslegung hätte daher zur Folge, daß die Mobilität der Arbeitsuchenden, die diese Bestimmungen gerade fördern wollen, dadurch erschwert würde, daß die Inanspruchnahme der Leistungen bei Arbeitslosigkeit für den Arbeitnehmer, der von der ihm durch Artikel 69 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, schwieriger würde als für Arbeitnehmer in Belgien generell (vgl. Urteil Di Conti, a. a. o., Randnr. 13).

17 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung nicht den Erwerb, sondern das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs eines Arbeitslosen betrifft, der nach Ablauf der in Absatz 1 Buchstabe c dieses Artikels festgelegten Dreimonatsfrist nach Belgien zurückkehrt. Diese Bestimmung lässt es nicht zu, daß einem Arbeitslosen, der zum Zeitpunkt seines Antrags die nach den belgischen Rechtsvorschriften für den Erwerb des Leistungsanspruchs erforderlichen Voraussetzungen erfuellt, ein solcher Anspruch versagt wird.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der belgischen und der französischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm von der belgischen Cour de cassation mit Urteil vom 15. Mai 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 69 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung betrifft nicht den Erwerb, sondern das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs eines Arbeitslosen, der nach Ablauf der in Absatz 1 Buchstabe c dieses Artikels festgelegten Dreimonatsfrist nach Belgien zurückkehrt. Diese Bestimmung lässt es nicht zu, daß einem Arbeitslosen, der zum Zeitpunkt seines Antrags die nach den belgischen Rechtsvorschriften für den Erwerb des Leistungsanspruchs erforderlichen Voraussetzungen erfuellt, ein solcher Anspruch versagt wird.

Ende der Entscheidung

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