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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.11.2002
Aktenzeichen: C-188/00
Rechtsgebiete: Assoziierungsabkommen EWG-Türkei, Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrat


Vorschriften:

Assoziierungsabkommen EWG-Türkei
Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrat Art. 6 Abs. 1
Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrat Art. 7 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei ist dahin auszulegen, dass ein türkischer Staatsangehöriger,

- dem die Einreise in einen Mitgliedstaat mit einem Sichtvermerk nur gültig zur Ausbildung" gestattet worden ist,

- dem danach eine auf die Tätigkeit im Rahmen seiner Berufsausbildung bei einem bestimmten Arbeitgeber beschränkte Aufenthaltsbewilligung erteilt worden ist und

- der in diesem Zusammenhang eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit für diesen Arbeitgeber rechtmäßig ausgeübt hat, für die er als Gegenleistung eine der geleisteten Arbeit entsprechende Vergütung erhalten hat,

ein Arbeitnehmer ist, der dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats angehört und dort eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne der genannten Bestimmung ausübt.

Hat ein solcher türkischer Staatsangehöriger bei dem genannten Arbeitgeber während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens vier Jahren gearbeitet, so hat er im Aufnahmemitgliedstaat gemäß Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sowie ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht.

Wird ein solcher Arbeitnehmer nach Beendigung seines Ausbildungsvertrags arbeitslos, verliert er die Rechte, die ihm unmittelbar aus dem genannten Artikel erwachsen, nicht deshalb, weil er während eines bestimmten Zeitraums keine Beschäftigung ausgeübt hat. Denn ein solcher türkischer Arbeitnehmer hat den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nicht endgültig verlassen und hat dort Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung, um weiterhin sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gemäß der genannten Bestimmung auszuüben.

( vgl. Randnrn. 58-59, 61, Tenor 1 )

2. Ist ein türkischer Staatsangehöriger, der die Voraussetzungen einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei erfuellt und dem deshalb daraus Rechte erwachsen, abgeschoben worden, so steht das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen ausländerrechtlichen Regelung entgegen, nach der die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung so lange versagt werden muss, bis die Wirkungen der Abschiebung befristet worden sind. Die Mitgliedstaaten können nämlich weder eine Regelung erlassen noch eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme gegenüber einem türkischen Staatsangehörigen ergreifen, die die Ausübung der Rechte beeinträchtigen können, die einem solchen Staatsangehörigen durch das Gemeinschaftsrecht ausdrücklich verliehen sind.

( vgl. Randnrn. 67, 70, Tenor 2 )


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 19. November 2002. - Bülent Kurz, geb. Yüce gegen Land Baden-Württemberg. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Verwaltungsgericht Karlsruhe - Deutschland. - Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates - Anwendungsbereich - Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats - Türkischer Staatsangehöriger, der im Rahmen einer Berufsausbildung entgeltlich beschäftigt ist - Wirkungen einer Ausweisung. - Rechtssache C-188/00.

Parteien:

In der Rechtssache C-188/00

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Verwaltungsgericht Karlsruhe (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Bülent Kurz, geb. Yüce,

gegen

Land Baden-Württemberg

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 6 Absatz 1 und 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer R. Schintgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter C. Gulmann und V. Skouris und der Richterinnen F. Macken und N. Colneric,

Generalanwalt: P. Léger

Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Herrn Kurz, geb. Yüce, vertreten durch Rechtsanwältin I. Krebs,

- des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch I. Behler als Bevollmächtigte,

- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und B. Muttelsee-Schön als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Sack als Bevollmächtigten,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Kurz, geb. Yüce, des Landes Baden-Württemberg und der Kommission in der Sitzung vom 21. Februar 2002,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. April 2002,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat mit Beschluss vom 22. März 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Mai 2000, gemäß Artikel 234 EG fünf Fragen nach der Auslegung der Artikel 6 Absatz 1 und 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (nachfolgend: Beschluss Nr. 1/80) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Kurz, geb. Yüce, einem türkischen Staatsangehörigen, und dem Land Baden-Württemberg wegen Entscheidungen des Letztgenannten, mit denen der Antrag von Herrn Kurz auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Deutschland abgelehnt, die Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung verweigert und seine Ausweisung aus Deutschland verfügt wurde.

Der Beschluss Nr. 1/80

3 Die Artikel 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 stehen in dessen Kapitel II (Soziale Bestimmungen") Abschnitt 1 (Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer").

4 Artikel 6 Absatz 1 lautet:

Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis."

5 Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:

Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war."

Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen

6 Nach den Akten des Ausgangsverfahrens ist Herr Kurz, der 1977 in Deutschland geboren wurde, das nichteheliche Kind eines türkischen Wanderarbeitnehmers, Herrn Yüce, der von 1969 bis 1983 in diesem Mitgliedstaat als Arbeitnehmer rechtmäßig beschäftigt war.

7 Von 1978 bis 1984 lebte er in Deutschland als Pflegekind bei den Ehegatten Kurz, die deutsche Staatsangehörige sind.

8 1984 kehrte er mit seinen Eltern im Rahmen eines Rückkehrhilfeprogramms in die Türkei zurück.

9 Im September 1992 wurde ihm die Rückkehr nach Deutschland zwecks einer Berufsausbildung bewilligt. In seinem Einreisesichtvermerk und den ihm sukzessive bis zum 15. Juli 1997 erteilten Aufenthaltsbewilligungen war vermerkt, dass sie nur für die Ausbildung gültig waren.

10 Herr Kurz absolvierte im Aufnahmemitgliedstaat eine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur, deren Bedingungen in einem am 16. November 1992 zwischen ihm und dem Sanitär- und Heizungsinstallationsunternehmen Herbert Schulz GmbH (nachfolgend: Unternehmen Schulz) mit Sitz in Altlußheim (Deutschland) geschlossenen Ausbildungsvertrag vereinbart waren.

11 Während dieser vom 1. Oktober 1992 bis zum 5. Mai 1997 dauernden Ausbildung besuchte Herr Kurz ein bis zwei Mal wöchentlich den theoretischen Unterricht in einer Gewerbeschule und übte in der übrigen Zeit eine bezahlte Tätigkeit als Auszubildender im Unternehmen Schulz aus, für die er von diesem im ersten Jahr eine monatliche Vergütung von 780 DM und in den folgenden Jahren von 840, 940 und 1 030 DM erhielt.

12 Am 22. Februar 1997 bestand Herr Kurz den praktischen Teil der Ausbildungsabschlussprüfung und beendete, wie vereinbart, seine Ausbildung am 6. Mai 1997, ohne jedoch den theoretischen Teil dieser Prüfung bestanden zu haben.

13 Seit 1992 wohnte er wieder beim Ehepaar Kurz, das ihn im Mai 1998 adoptierte. Gemäß dem geltenden nationalen Recht erhielt er aufgrund dieser Adoption den Familiennamen seiner Adoptiveltern. Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts erlosch jedoch durch die Adoption von Herrn Kurz sein Verwandtschaftsverhältnis zu seiner leiblichen Familie, ohne dass ihm allerdings dadurch ein Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit oder auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Deutschland entstanden sei.

14 Am 7. Juli 1997 beantragte Herr Kurz die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den dauernden Aufenthalt in Deutschland sowie hilfsweise die Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung oder die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis.

15 Mit Bescheid vom 18. August 1998 lehnte das Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis diesen Antrag ab und forderte Herrn Kurz unter Androhung seiner Abschiebung bei Nichtbefolgung auf, Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieser Ablehnung zu verlassen.

16 Herr Kurz legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und beantragte darüber hinaus, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs anzuordnen.

17 Dieser Antrag wurde am 19. November 1998 abgelehnt, und Herr Kurz wurde am 20. Januar 1999 in die Türkei abgeschoben.

18 Am 16. Juni 1999 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Widerspruch mit der Begründung zurück, dass Herr Kurz nicht die Voraussetzungen der Artikel 6 und 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 erfuelle. Zum einen habe er während seiner Berufsausbildung, für die er nur eine Aufenthaltsbewilligung erhalten habe, nicht dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 angehört. Zum anderen habe er aufgrund der Adoption durch deutsche Staatsangehörige seinen Status als Kind eines türkischen Arbeitnehmers verloren, er habe seine Berufsausbildung im Aufnahmemitgliedstaat nicht abgeschlossen, da er nicht alle Teile der Abschlussprüfung bestanden habe, und sein leiblicher Vater habe Deutschland zu dem Zeitpunkt, als Herr Kurz seine Ausbildung aufgenommen habe, bereits endgültig verlassen gehabt.

19 Zur Begründung seiner beim vorlegenden Gericht gegen diesen Bescheid erhobenen Klage machte Herr Kurz geltend, er habe aufgrund der Artikel 6 Absatz 1 und 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland. Am 20. November 1998 sei ihm auch ein Stellenangebot von einem Unternehmen in Mannheim (Deutschland) gemacht worden, das er aber mangels der erforderlichen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis nicht habe annehmen können.

20 Am 20. November 1999 erhielt Herr Kurz das Gesellenprüfungszeugnis der Handwerkskammer Mannheim, nachdem der Prüfungsausschuss nach Istanbul gereist war, um ihm dort die Ablegung des theoretischen Teils seiner Ausbildungsabschlussprüfung zu ermöglichen.

21 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts steht der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 16. Juni 1999 im Einklang mit den Vorschriften des Ausländergesetzes; es müsse jedoch geprüft werden, ob Herr Kurz einen Aufenthaltsanspruch auf die Artikel 6 Absatz 1 und 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 stützen könne.

22 Insoweit fragt sich das vorlegende Gericht, ob Herr Kurz die Voraussetzungen nach Artikel 6 Absatz 1, hilfsweise, nach Artikel 7 Absatz 2 dieses Beschlusses erfuellt.

23 Für den Fall, dass Herr Kurz Ansprüche aus dem Beschluss Nr. 1/80 ableiten könne, stelle sich ein weiteres Problem im Hinblick auf § 8 Absatz 2 Ausländergesetz, der wie folgt lautet:

Ein Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, darf nicht erneut ins Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Die in den Sätzen 1 und 2 bezeichneten Wirkungen werden auf Antrag in der Regel befristet. Die Frist beginnt mit der Ausreise."

24 Fraglich sei nämlich, ob es mit den Artikel 6 und 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 zu vereinbaren sei, dass die Sperrwirkung der in der vorstehenden Randnummer zitierten nationalen Bestimmung der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung entgegenstehe, solange die Abschiebung nicht befristet worden sei.

25 Da das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass es unter diesen Umständen für die Entscheidung des Rechtsstreits einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts bedürfe, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Erfuellt ein türkischer Staatsangehöriger die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 zweiter oder dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, der mit einem Sichtvermerk des Generalkonsulats nur gültig zur Ausbildung" mit Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde eingereist ist und in der Folgezeit eine auf die Tätigkeit im Rahmen der Ausbildung bei einem bestimmten Arbeitgeber beschränkte Aufenthaltsbewilligung innehatte, wenn er in der Zeit vom 1. Oktober 1992 bis 5. Mai 1997 in dem entsprechenden Ausbildungsverhältnis stand und hierfür eine monatliche Ausbildungsvergütung erhalten hat?

2. Erfuellt ein türkischer Staatsangehöriger die Voraussetzungen des Artikels 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80, der das leibliche Kind früherer türkischer Arbeitnehmer im Aufnahmeland ist, wenn er als Volljähriger von deutschen Staatsangehörigen mit den Wirkungen der Annahme eines Minderjährigen adoptiert wurde und hierdurch sein Verwandtschaftsverhältnis zu seinen leiblichen Eltern erloschen ist? Genügt es insoweit, dass er zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Beschäftigung seiner Eltern und zu Beginn der Ausbildung Kind türkischer Arbeitnehmer war?

3. Erfuellt ein türkischer Staatsangehöriger die Voraussetzungen des Artikels 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80, wenn er acht Jahre nach der gemeinsamen Ausreise mit seinen Eltern, die das Aufnahmeland damals endgültig verließen, erneut (ohne seine Eltern) zum Zweck der Ausbildung eingereist ist?

4. Erfuellt ein türkischer Staatsangehöriger die Voraussetzungen des Artikels 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80, wenn er die letzte Abschlussprüfung nicht im Aufnahmeland, sondern vor dessen dorthin gereisten Prüfungsgremium im Heimatland abgelegt hat?

5. Ist es mit Artikel 6 oder Artikel 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 vereinbar, dass die Aufenthaltsgenehmigung im Falle einer erfolgten Abschiebung aufgrund der Sperrwirkung des § 8 Absatz 2 Ausländergesetz so lange versagt werden muss, bis die Wirkungen der Abschiebung auf Antrag befristet worden sind?

Zur ersten Frage

26 Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof seit dem Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89 (Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnr. 26) in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, dass Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung hat, so dass türkische Staatsangehörige, die seine Voraussetzungen erfuellen, sich unmittelbar auf die Rechte berufen können, die ihnen in den drei Gedankenstrichen dieser Bestimmung je nach der Dauer der Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat in abgestufter Weise verliehen werden (siehe u. a. Urteil des Gerichtshofes vom 26. November 1998 in der Rechtssache C-1/97, Birden, Slg. 1998, I-7747, Randnr. 19).

27 Zweitens geht ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung mit den Rechten, die diese Bestimmung dem türkischen Arbeitnehmer im Bereich der Beschäftigung verleiht, zwangsläufig ein entsprechendes Aufenthaltsrecht des Betroffenen einher, weil sonst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf Ausübung einer Beschäftigung völlig wirkungslos wäre (siehe u. a. Urteil Birden, Randnr. 20).

28 Drittens setzt Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 bereits seinem Wortlaut nach voraus, dass der Betroffene ein türkischer Arbeitnehmer ist, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört und dort eine Zeit lang ordnungsgemäß beschäftigt war (Urteil Birden, Randnr. 21).

29 Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, sind diese drei Begriffe nacheinander zu prüfen.

Zum Begriff des Arbeitnehmers

30 Zum ersten dieser Begriffe ist vorab darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei vom 12. September 1963 und des Artikels 36 des am 23. November 1970 unterzeichneten, dem Abkommen als Anhang beigefügten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) abgeschlossenen Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80 hergeleitet hat, dass die im Rahmen der Artikel 48 und 49 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und Artikel 40 EG) sowie Artikel 50 EG-Vertrag (jetzt Artikel 41 EG) anerkannten Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte genießen (siehe in diesem Sinn u. a. Urteile vom 6. Juni 1995 in der Rechtssache C-434/93, Bozkurt, Slg. 1995, I-1475, Randnrn. 14, 19 und 20, vom 23. Januar 1997 in der Rechtssache C-171/95, Tetik, Slg. 1997, I-329, Randnrn. 20 und 28, Birden, Randnr. 23, und vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C-340/97, Nazli u. a., Slg. 2000, I-957, Randnrn. 50 bis 55).

31 Folglich ist für die Bestimmung der Bedeutung des Arbeitnehmerbegriffs in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die Auslegung dieses Begriffes im Gemeinschaftsrecht heranzuziehen.

32 Nach ständiger Rechtsprechung hat der Begriff des Arbeitnehmers eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung und darf nicht eng ausgelegt werden. Er ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Um als Arbeitnehmer zu gelten, muss eine Person eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausüben, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die wegen ihres geringen Umfangs völlig untergeordnet und unwesentlich sind. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere Person nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dagegen ist es für die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Gemeinschaftsrechts ohne Bedeutung, dass das Beschäftigungsverhältnis nach nationalem Recht ein Rechtsverhältnis sui generis ist, wie hoch die Produktivität des Betreffenden ist, woher die Mittel für die Vergütung stammen oder dass sich die Höhe der Vergütung in Grenzen hält (siehe zu Artikel 48 EG-Vertrag u. a. Urteile vom 3. Juli 1986 in der Rechtssache 66/85, Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121, Randnrn. 16 und 17, vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205, Randnr. 21, vom 31. Mai 1989 in der Rechtssache 344/87, Bettray, Slg. 1989, 1621, Randnrn. 15 und 16, vom 26. Februar 1992 in den Rechtssachen C-357/89, Raulin, Slg. 1992, I-1027, Randnr. 10, und C-3/90, Bernini, Slg. 1992, I-1071, Randnrn. 14 bis 17, sowie zu Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 Urteile vom 30. September 1997 in den Rechtssachen C-36/96, Günaydin, Slg. 1997, I-5143, Randnr. 31, und C-98/96, Ertanir, Slg. 1997, I-5179, Randnr. 43, und Urteil Birden, Randnrn. 25 und 28).

33 Im Hinblick auf Tätigkeiten, die wie im Fall des Ausgangsverfahrens im Rahmen einer Berufsausbildung ausgeübt wurden, hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Person, die in einem Beruf Ausbildungszeiten absolviert, die als eine mit der eigentlichen Ausübung des betreffenden Berufes verbundene praktische Vorbereitung betrachtet werden können, als Arbeitnehmer anzusehen ist, wenn diese Zeiten unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis absolviert werden. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass daran auch der Umstand nichts ändert, dass die Produktivität des Betreffenden gering ist, er keiner Vollzeitbeschäftigung nachgeht und deshalb nur eine verringerte Anzahl von Wochenarbeitsstunden leistet und er infolgedessen nur eine beschränkte Vergütung erhält (siehe in diesem Sinn u. a. Urteile Lawrie-Blum, Randnrn. 19 bis 21, und Bernini, Randnrn. 15 und 16).

34 Folglich ist jede Person als Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen, die - auch im Rahmen einer Berufsausbildung und ungeachtet dessen, wie diese rechtlich einzuordnen ist - eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit für einen Arbeitgeber nach dessen Weisung gegen eine Vergütung ausübt, in der die Gegenleistung für diese Tätigkeit gesehen werden kann.

35 Aus den Akten geht hervor, dass Herr Kurz vom 1. Oktober 1992 bis zum 5. Mai 1997 zugunsten und nach Weisung des Unternehmens Schulz eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit ausübte, für die er als Gegenleistung eine monatliche Vergütung erhielt, die von 780 DM im ersten Jahr auf 1 030 DM im vierten Jahr anstieg. Diese stufenweise Erhöhung der Vergütung spricht im Übrigen dafür, dass die von Herrn Kurz geleistete Arbeit für seinen Arbeitgeber wirtschaftlich immer wertvoller wurde.

36 Da bei einer Person wie Herrn Kurz somit die wesentlichen Kriterien für ein Arbeitsverhältnis vorliegen, ist sie als Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 anzusehen.

Zum Begriff der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt

37 Für die Zugehörigkeit eines solchen Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats im Sinne der genannten Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80 kommt es sodann nach ständiger Rechtsprechung (Urteile Bozkurt, Randnrn. 22 und 23, Günaydin, Randnr. 29, Ertanir, Randnr. 39, und Birden, Randnr. 33) zum einen darauf an, ob das Arbeitsverhältnis des Betreffenden im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats lokalisiert werden kann oder eine hinreichend enge Verknüpfung mit diesem Gebiet aufweist, wobei insbesondere der Ort der Einstellung des türkischen Staatsangehörigen, das Gebiet, in dem oder von dem aus die Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt wird, und die nationalen Vorschriften im Bereich des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen sind.

38 In einem Fall wie dem des Klägers des Ausgangsverfahrens ist diese Voraussetzung unzweifelhaft erfuellt, da der Betreffende im Rahmen seiner Berufsausbildung eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgenommen und ausgeübt hat und diese Beschäftigung den Rechtsvorschriften dieses Staates, insbesondere im Bereich des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherheit, unterlag.

39 Zum anderen bezeichnet der Begriff regulärer Arbeitsmarkt" in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise in sein Hoheitsgebiet und über die Beschäftigung nachkommen und somit das Recht haben, eine Berufstätigkeit in diesem Staat auszuüben (Urteile Birden, Randnr. 51, und Nazli, Randnr. 31).

40 Zur Begründung der Auslegung des Begriffes regulär" als synonym mit legal" hat sich der Gerichtshof nicht nur auf eine Untersuchung der verschiedenen Sprachfassungen des Beschlusses Nr. 1/80 gestützt (siehe Urteil Birden, Randnrn. 47 bis 50), sondern auch auf den Zweck dieses Beschlusses, dessen soziale Bestimmungen einen weiteren, durch die Artikel 48, 49 und 50 EG-Vertrag geleiteten Schritt zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer bilden (siehe Urteil Birden, Randnr. 52). Wie der Generalanwalt in den Nummern 60 und 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, fördert nämlich die Ausübung einer Beschäftigung unter legalen Umständen die Integration türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat.

41 Die Verleihung der in Artikel 6 Absatz 1 erster bis dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verankerten Rechte setzt daher nur voraus, dass der türkische Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise in das Hoheitsgebiet und die Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beachtet hat (Urteil Nazli, Randnr. 32).

42 Zweifellos erfuellt ein türkischer Arbeitnehmer wie Herr Kurz diese Voraussetzung, da feststeht, dass er rechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist ist, dass ihm bewilligt worden war, dort eine Berufsausbildung zu absolvieren, und dass er im Rahmen dieser Ausbildung länger als vier aufeinander folgende Jahre rechtmäßig beschäftigt war.

43 In Randnummer 51 des Urteils Birden hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff regulärer Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats" nicht dahin auszulegen ist, dass er den allgemeinen Arbeitsmarkt im Gegensatz zu einem begrenzten Markt mit besonderer Zwecksetzung bezeichnet.

44 Daher kann der vom Land Baden-Württemberg, von der deutschen Regierung und von der Kommission vertretenen Auslegung nicht gefolgt werden, dass ein Auszubildender deswegen nicht zum regulären Arbeitsmarkt gehöre, weil er nur eine vorübergehende und spezifische Tätigkeit im Rahmen seiner Berufsausbildung ausübe, die sich von einem normalen Arbeitsverhältnis unterscheide und die Eingliederung des Betroffenen in den allgemeinen Arbeitsmarkt nur für die Zukunft sicherstellen solle.

45 Eine solche Auslegung widerspricht Zweck und Systematik des Beschlusses Nr. 1/80, die auf die Förderung der Integration türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat gerichtet sind (siehe Randnr. 40 des vorliegenden Urteils). Ein Auszubildender, der wie im Fall des Ausgangsverfahrens länger als vier Jahre eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit bei einem Arbeitgeber ausgeübt hat, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhalten hat, die der geleisteten Arbeit entspricht, ist nämlich im Aufnahmemitgliedstaat ebenso integriert wie ein Arbeitnehmer, der eine vergleichbare Arbeit von entsprechender Dauer ausgeübt hat.

46 Außerdem muss die Auslegung, die der Gerichtshof in den Randnummern 40 bis 45 des Urteils Birden vorgenommen hat und nach der ein türkischer Staatsangehöriger, der ausgestattet mit einer Arbeitserlaubnis in einem Mitgliedstaat während eines ununterbrochenen Zeitraums von mehr als einem Jahr für denselben Arbeitgeber rechtmäßig eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hat, für die er als Gegenleistung eine übliche Vergütung erhalten hat, dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats auch dann angehört, wenn die betreffende Tätigkeit nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde und einer beschränkten Personengruppe vorbehalten war, um die Integration der Begünstigten in das Berufsleben zu erleichtern, genauso - wenn nicht gar erst recht - gelten, wenn es um eine entgeltliche Tätigkeit im Rahmen einer Berufsausbildung geht.

47 Folglich ist ein türkischer Arbeitnehmer wie Herr Kurz als dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 angehörend anzusehen.

Zum Begriff der ordnungsgemäßen Beschäftigung

48 Bezüglich der Frage, ob ein solcher Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ausgeübt hat, ist auf die ständige Rechtsprechung (Urteile Sevince, Randnr. 30, und vom 16. Dezember 1992 in der Rechtssache C-237/91, Kus, Slg. 1992, I-6781, Randnrn. 12 und 22, sowie Urteile Bozkurt, Randnr. 26, und Birden, Randnr. 55) hinzuweisen, nach der die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats und damit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraussetzt.

49 Im Unterschied zu den tatsächlichen und rechtlichen Fallgestaltungen, die den Urteilen Sevince, Randnummer 31, und Kus, Randnummern 13 und 16, sowie dem Urteil vom 5. Juni 1997 in der Rechtssache C-285/95 (Kol, Slg. 1997, I-3069, Randnr. 27) zugrunde lagen und bei denen die betroffenen türkischen Staatsangehörigen kein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat besaßen, ist festzustellen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens das Aufenthaltsrecht des türkischen Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat völlig unbestritten ist und der Betroffene sich nicht in einer nur vorläufigen Situation befand, die jederzeit in Frage gestellt werden konnte.

50 Aus den Akten ergibt sich nämlich, dass es Herrn Kurz gestattet wurde, nach Deutschland einzureisen und sich dort zur Absolvierung einer Berufsausbildung mit Aufenthaltsbewilligungen, die bis zum 15. Juli 1997 verlängert wurden, aufzuhalten. Im Rahmen dieser Ausbildung war er, nachdem er die entsprechende nationale Arbeitserlaubnis erhalten hatte, vom 1. Oktober 1992 bis zum 5. Mai 1997, also länger als vier aufeinander folgende Jahre, ununterbrochen rechtmäßig in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt, das die Ausübung einer tatsächlichen und echten wirtschaftlichen Tätigkeit für denselben Arbeitgeber gegen eine Vergütung umfasste, die die Gegenleistung für die erbrachten Leistungen darstellte. Somit war seine Rechtsstellung während dieses gesamten Zeitraums ordnungsgemäß.

51 Eine solche Person ist folglich als ein Arbeitnehmer anzusehen, der in dem betreffenden Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ausgeübt hat.

52 Dieser Arbeitnehmer, der damit alle Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des genannten Beschlusses erfuellt, weil er in einem Mitgliedstaat während mindestens vier Jahren eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ununterbrochen rechtmäßig ausgeübt hat, kann sich unmittelbar auf die durch diese Bestimmung verliehenen Rechte berufen, insbesondere auf das unbedingte Recht, jede von ihm frei gewählte Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachzufragen und aufzunehmen, ohne dass ihm ein Vorrang der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten entgegengehalten werden könnte, sowie auf ein damit einhergehendes, ebenfalls auf das Gemeinschaftsrecht gestütztes Aufenthaltsrecht.

53 An dieser Auslegung kann auch der Umstand nichts ändern, dass die Arbeits- und Aufenthaltstitel für Herrn Kurz auf die vorübergehende Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis bei einem bestimmten Arbeitgeber beschränkt waren.

54 Denn zunächst stehen den türkischen Arbeitnehmern die ihnen durch Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte nach ständiger Rechtsprechung unabhängig davon zu, ob die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ein spezielles Verwaltungsdokument wie eine Arbeits- oder eine Aufenthaltserlaubnis ausstellen (vgl. in diesem Sinn Urteile Bozkurt, Randnrn. 29 und 30, Günaydin, Randnr. 49, Ertanir, Randnr. 55, und Birden, Randnr. 65).

55 Sodann hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Mitgliedstaaten, wenn eine zeitliche Befristung des Arbeitsverhältnisses genügen würde, um die Ordnungsmäßigkeit der vom Betroffenen rechtmäßig ausgeübten Beschäftigung in Frage zu stellen, türkischen Wanderarbeitnehmern, denen sie die Einreise in ihr Hoheitsgebiet gestattet haben und die dort eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben, die den Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 entspricht, zu Unrecht die graduell umfangreicher werdenden Rechte vorenthalten könnten, die die Betroffenen unmittelbar aus dieser Bestimmung herleiten können. Jede andere Auslegung würde den Beschluss Nr. 1/80 aushöhlen und jeder praktischen Wirksamkeit berauben (siehe Urteile Günaydin, Randnrn. 36 bis 40, und Birden, Randnrn. 37 bis 39 und 64).

56 Schließlich macht Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nach gleichfalls ständiger Rechtsprechung die in ihm vorgesehenen Rechte der türkischen Arbeitnehmer nicht von dem Grund abhängig, aus dem diesen Arbeitnehmern die Einreise, eine Arbeitstätigkeit und der Aufenthalt ursprünglich gestattet wurden (siehe u. a. Urteile Kus, Randnrn. 21 bis 23, Günaydin, Randnr. 52, und Birden, Randnr. 67).

57 Das Land Baden-Württemberg macht allerdings geltend, Herr Kurz, der nach Beendigung seines Ausbildungsvertrags keine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis mehr ausgeübt habe, habe dadurch die gegebenenfalls während seiner Ausbildung erworbenen Rechte wieder verloren.

58 Dazu genügt der Hinweis, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der wie Herr Kurz während eines ununterbrochenen Zeitraums von mehr als vier Jahren eine ordnungsgemäße Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ausgeübt hat, danach aber arbeitslos war, die Rechte, die ihm unmittelbar aus Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erwachsen, nicht deshalb verliert, weil er während eines bestimmten Zeitraums keine Beschäftigung ausgeübt hat.

59 Denn ein solcher türkischer Arbeitnehmer hat den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nicht endgültig verlassen und hat dort Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung, um weiterhin sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gemäß der genannten Bestimmung auszuüben, indem er sich nicht nur um tatsächlich angebotene Arbeitsstellen bewirbt, sondern auch eine neue Beschäftigung innerhalb eines angemessenen Zeitraums sucht (siehe in diesem Sinn Urteile Bozkurt, Randnrn. 38 und 39, Tetik, Randnr. 46, und Nazli, Randnrn. 40 und 41).

60 Im Übrigen lag Herrn Kurz nach den Akten ein Arbeitsangebot der Firma Messebau Thome in Mannheim vor, das allerdings daran geknüpft war, dass er über eine Arbeitserlaubnis verfügte. In seinen schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung hat Herr Kurz unwidersprochen vorgebracht, dass er die ihm angebotene Stelle nicht habe annehmen können, da ihm keine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland und folglich auch keine Arbeitserlaubnis bewilligt worden sei.

61 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger,

- dem die Einreise in einen Mitgliedstaat mit einem Sichtvermerk nur gültig zur Ausbildung" gestattet worden ist,

- dem danach eine auf die Tätigkeit im Rahmen seiner Berufsausbildung bei einem bestimmten Arbeitgeber beschränkte Aufenthaltsbewilligung erteilt worden ist und

- der in diesem Zusammenhang eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit für diesen Arbeitgeber rechtmäßig ausgeübt hat, für die er als Gegenleistung eine der geleisteten Arbeit entsprechende Vergütung erhalten hat,

ein Arbeitnehmer ist, der dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats angehört und dort eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne der genannten Bestimmung ausübt.

Hat ein solcher türkischer Staatsangehöriger bei dem genannten Arbeitgeber während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens vier Jahren gearbeitet, so hat er im Aufnahmemitgliedstaat gemäß Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sowie ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht.

Zur zweiten, dritten und vierten Frage

62 Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, dass die zweite, die dritte und die vierte Frage nur für den Fall einer Verneinung der ersten Frage gestellt sind.

63 Angesichts der Bejahung der ersten Frage ist es nicht erforderlich die zweite, die dritte und die vierte Frage zu beantworten.

Zur fünften Frage

64 Das Land Baden-Württemberg hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, die Beantwortung der fünften Frage sei nicht mehr erforderlich, da die zuständigen nationalen Behörden die Sperrwirkung des § 8 Absatz 2 Ausländergesetz mit Entscheidung vom 13. November 2000 bis zum 21. Januar 2002 begrenzt hätten, so dass einer Rückkehr von Herrn Kurz nach Deutschland nach dem letztgenannten Zeitpunkt nichts mehr entgegenstehe.

65 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem es sich erweist, dass die Abschiebung unter Verletzung der die Beschäftigung und den Aufenthalt betreffenden Rechte erfolgt ist, die dem Betroffenen aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erwachsen, behält der betroffene türkische Staatsangehörige jedoch ein offensichtliches Interesse daran, diesen Rechtsverstoß durch die zuständigen nationalen Gerichte ab dem Zeitpunkt feststellen und ahnden zu lassen, zu dem er begangen wurde, und zu diesem Zweck vom Gerichtshof die Auslegung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts zu erhalten.

66 Für die Beantwortung dieser Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Beschluss Nr. 1/80 und dem nationalen Ausländerrecht ist darauf hinzuweisen, dass sowohl aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten als auch aus der unmittelbaren Wirkung einer Bestimmung wie Artikel 6 dieses Beschlusses folgt, dass es einem Mitgliedstaat nicht gestattet ist, den Inhalt des Systems zur schrittweisen Integration türkischer Staatsangehöriger in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats einseitig zu verändern (siehe u. a. Urteile Birden, Randnr. 37, und Nazli, Randnr. 30).

67 Somit können die Mitgliedstaaten weder eine ausländerrechtliche Regelung erlassen noch eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme gegenüber einem türkischen Staatsangehörigen ergreifen, die die Ausübung der Rechte beeinträchtigen können, die einem solchen Staatsangehörigen durch das Gemeinschaftsrecht ausdrücklich verliehen sind.

68 Erfuellt nämlich der türkische Staatsangehörige wie im Fall des Ausgangsverfahrens die Voraussetzungen einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80 und ist daher bereits ordnungsgemäß in einem Mitgliedstaat integriert, so ist Letzterer nicht mehr befugt, die Ausübung dieser Rechte zu beschränken, da sonst dem genannten Beschluss seine praktische Wirksamkeit genommen würde (siehe u. a. Urteile Birden, Randnr. 37, und Nazli, Randnr. 30, sowie vom 22. Juni 2000 in der Rechtssache C-65/98, Eyüp, Slg. 2000, I-4747, Randnr. 41).

69 Außerdem ist jedes Gericht eines Mitgliedstaats verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die dieses den Einzelnen unmittelbar verleiht, zu schützen, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts außer Anwendung lässt (siehe Urteil Eyüp, Randnr. 42, und entsprechend Urteil vom 9. März 1978 in der Rechtssache 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Randnr. 21).

70 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass, wenn ein türkischer Staatsangehöriger, der die Voraussetzungen einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80 erfuellt und dem deshalb daraus Rechte erwachsen, abgeschoben worden ist, das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung so lange versagt werden muss, bis die Wirkungen der Abschiebung befristet worden sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

71 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 22. März 2000 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass ein türkischer Staatsangehöriger,

- dem die Einreise in einen Mitgliedstaat mit einem Sichtvermerk nur gültig zur Ausbildung" gestattet worden ist,

- dem danach eine auf die Tätigkeit im Rahmen seiner Berufsausbildung bei einem bestimmten Arbeitgeber beschränkte Aufenthaltsbewilligung erteilt worden ist und

- der in diesem Zusammenhang eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit für diesen Arbeitgeber rechtmäßig ausgeübt hat, für die er als Gegenleistung eine der geleisteten Arbeit entsprechende Vergütung erhalten hat,

ein Arbeitnehmer ist, der dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats angehört und dort eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne der genannten Bestimmung ausübt.

Hat ein solcher türkischer Staatsangehöriger bei dem genannten Arbeitgeber während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens vier Jahren gearbeitet, so hat er im Aufnahmemitgliedstaat gemäß Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sowie ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht.

2. Ist ein türkischer Staatsangehöriger, der die Voraussetzungen einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80 erfuellt und dem deshalb daraus Rechte erwachsen, abgeschoben worden, so steht das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen Regelung entgegen, nach der die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung so lange versagt werden muss, bis die Wirkungen der Abschiebung befristet worden sind.

Ende der Entscheidung

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