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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.07.1990
Aktenzeichen: C-188/89
Rechtsgebiete: Art. 5 Abs. 1 RL 76/207


Vorschriften:

Art. 5 Abs. 1 RL 76/207
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die einzelnen können sich auf inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber Organisationen oder Einrichtungen berufen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten. Jedenfalls können sie dies gegenüber einer Einrichtung tun, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt.

2. Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 betreffend die Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung und in bezug auf die Arbeitsbedingungen ist eine unbedingte und hinreichend genaue Bestimmung, so daß er von einem Rechtsbürger in Anspruch genommen und vom Gericht angewandt werden kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 12. JULI 1990. - A. FOSTER UND ANDERE GEGEN BRITISH GAS PLC. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HOUSE OF LORDS - VEREINIGTES KOENIGREICH. - SOZIALPOLITIK - GLEICHBEHANDLUNG VON MAENNLICHEN UND WEIBLICHEN ARBEITNEHMERN - UNMITTELBARE WIRKUNG EINER RICHTLINIE GEGENUEBER EINEM VERSTAATLICHEN UNTERNEHMEN. - RECHTSSACHE C-188/89.

Entscheidungsgründe:

1 Das House of Lords hat mit Beschluß vom 4. Mai 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen ( ABl. L 39, S. 40 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen A. Foster, G. A. H. M. Fulford-Brown, J. Morgan, M. Roby, E. M. Salloway und P. Sullivan ( im weiteren : Rechtsmittelklägerinnen des Ausgangsverfahrens ), ehemaligen Beschäftigten der British Gas Corporation ( im weiteren : BGC ), und der British Gas plc ( im weiteren : Rechtsmittelbeklagte des Ausgangsverfahrens ), die in die Rechte der BGC eingetreten ist, über die Zwangspensionierung der Rechtsmittelklägerinnen durch die BGC.

3 Gemäß dem Gas Act von 1972, dessen Regelungen im entscheidungserheblichen Zeitraum auf die BGC anwendbar waren, war diese eine durch Gesetz errichtete juristische Person mit der Aufgabe, in Form eines Monopols ein Gasversorgungssystem in Großbritannien zu errichten und zu unterhalten.

4 Die Mitglieder der BGC wurden vom zuständigen Minister ernannt. Dieser war auch befugt, der BGC im Hinblick auf Angelegenheiten, die das nationale Interesse betrafen, allgemeine Richtlinien vorzugeben sowie Weisungen in bezug auf ihre Geschäftsführung zu erteilen.

5 Die BGC war verpflichtet, dem Minister regelmässig Berichte über die Durchführung ihrer Aufgaben, über ihre Geschäftsführung und über ihre Programme vorzulegen. Diese Berichte wurden dann beiden Häusern des Parlaments zugeleitet. Im übrigen hatte die BGC gemäß dem Gas Act von 1972 die Befugnis, mit Zustimmung des Ministers Gesetzesvorschläge im Parlament einzubringen.

6 Die BGC hatte ihren Haushalt während zwei aufeinanderfolgenden Haushaltsjahren auszugleichen. Der Minister konnte sie anweisen, bestimmte Beträge für besondere Zwecke zu verwenden oder an die Staatskasse zu überweisen.

7 Die BGC wurde gemäß dem Gas Act von 1986 privatisiert. Diese Privatisierung führte zur Errichtung der British Gas plc, der Rechtsmittelbeklagten des Ausgangsverfahrens, auf die die Rechte und Pflichten der BGC mit Wirkung vom 24. August 1986 übergingen.

8 Die Rechtsmittelklägerinnen des Ausgangsverfahrens wurden von der BGC zwischen dem 27. Dezember 1985 und dem 22. Juli 1986 zu verschiedenen Zeitpunkten jeweils mit Vollendung des 60. Lebensjahres in den Ruhestand versetzt. Dies entsprach einer allgemeinen Praxis der BGC, ihre Beschäftigten zu pensionieren, wenn sie das Alter erreichten, in dem sie nach britischem Recht Anspruch auf eine staatliche Rente hatten, was bei Frauen mit 60 Jahren und bei Männern mit 65 Jahren der Fall war.

9 Die Rechtsmittelklägerinnen, die weiterarbeiten wollten, erhoben bei den britischen Gerichten eine Schadensersatzklage mit der Begründung, ihre Pensionierung durch die BGC verstosse gegen Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207. Gemäß dieser Bestimmung beinhaltet "die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen..., daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährt werden ".

10 Dem Vorlagebeschluß zufolge stimmen die Parteien des Ausgangsverfahrens darin überein, daß die Pensionierungen nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84 ( Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723 ) gegen Artikel 5 Absatz 1 dieser Richtlinie verstossen. Zwischen den Parteien ist ebenfalls unstreitig, daß diese Pensionierungen nach den im entscheidungserheblichen Zeitraum anwendbaren britischen Rechtsvorschriften nicht rechtswidrig waren und daß nach der Rechtsprechung des House of Lords diese Vorschriften nicht in einer der Richtlinie 76/207 entsprechenden Weise ausgelegt werden können. Hingegen streiten die Parteien darüber, ob sich die einzelnen gegenüber der BGC auf Artikel 5 Absatz 1 dieser Richtlinie berufen können.

11 Das House of Lords hat demgemäß das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"War die British Gas Corporation ( im entscheidungserheblichen Zeitraum ) eine Einrichtung von solcher Art, daß die Rechtsmittelklägerinnen berechtigt sind, sich vor englischen Gerichten unmittelbar auf die Richtlinie 76/207 des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen für einen Schadensersatzanspruch zu berufen, der mit einem Verstoß der Ruhestandspraxis der British Gas Corporation gegen die Richtlinie begründet wird?"

12 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, der anwendbaren Gemeinschaftsbestimmungen, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

13 Vor einer Prüfung der Vorlagefrage des House of Lords ist zunächst festzustellen, daß das Vereinigte Königreich geltend gemacht hat, es sei nicht Sache des Gerichtshofes, sondern der nationalen Gerichte, im Rahmen der nationalen Rechtsordnung darüber zu befinden, ob die Bestimmungen einer Richtlinie einer Einrichtung wie der BGC entgegengehalten werden könnten.

14 Hierzu ist zu bemerken, daß die Frage, welche Wirkungen die Handlungen der Gemeinschaftsorgane entfalten, insbesondere die Frage, ob diese Handlungen bestimmten Personengruppen entgegengehalten werden können, notwendigerweise die Auslegung der Vertragsartikel über die Handlungen der Organe sowie der in Rede stehenden gemeinschaftsrechtlichen Handlung erfordern.

15 Hieraus folgt, daß der Gerichtshof befugt ist, im Wege der Vorabentscheidung festzustellen, gegenüber welchen Gruppen von Rechtssubjekten die Bestimmungen einer Richtlinie geltend gemacht werden können. Hingegen ist es Sache der nationalen Gerichte, darüber zu entscheiden, ob eine Partei in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit zu einer dieser so definierten Gruppen gehört.

Zur Frage, ob die Bestimmungen der Richtlinie gegenüber einer Einrichtung wie der BGC geltend gemacht werden können

16 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ( Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53, Randnrn. 23 bis 25 ) würde in den Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme beeinträchtigt, wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. Daher kann der Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, den einzelnen nicht entgegenhalten, daß er die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfuellt hat. Demnach können sich die einzelnen in Ermangelung von fristgemäß erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen; einzelne können sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit diese Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können.

17 Wie der Gerichtshof weiter in seinem Urteil vom 26. Februar 1986 ( Marshall, a. a. O., Randnr. 49 ) entschieden hat, können die Rechtsbürger, wenn sie imstande sind, sich gegenüber dem Staat auf eine Richtlinie zu berufen, dies unabhängig davon tun, in welcher Eigenschaft - als Arbeitgeber oder als Hoheitsträger - der Staat handelt. In dem einen wie dem anderen Fall muß nämlich verhindert werden, daß der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann.

18 Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Gerichtshof in einer Reihe von Rechtssachen anerkannt, daß sich die einzelnen auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber Organisationen oder Einrichtungen berufen können, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.

19 So hat der Gerichtshof entschieden, daß die Bestimmungen einer Richtlinie Finanzbehörden ( Urteile vom 19. Januar 1982, Becker, a. a. O., und vom 22. Februar 1990 in der Rechtssache C-221/88, EGKS/Konkursmasse Acciaierie e Ferriere Busseni, Slg. 1990, 0000 ), Gebietskörperschaften ( Urteil vom 22. Juni 1989 in der Rechtssache 103/88, Fratelli Costanzo/Stadt Mailand, Slg. 1989, 1839 ), verfassungsmässig unabhängigen Hoheitsträgern, die mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit betraut sind ( Urteil vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84, Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651 ), sowie mit der Verwaltung des öffentlichen Gesundheitsdienstes beauftragten Behörden ( Urteil vom 26. Februar 1986, Marshall, a. a. O.) entgegengehalten werden können.

20 Demgemäß gehört jedenfalls eine Einrichtung, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt, zu den Rechtssubjekten, denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können.

21 Was Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 betrifft, so hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 26. Februar 1986 ( Marshall, a. a. O., Randnr. 52 ) für Recht erkannt, daß diese Bestimmung unbedingt und hinreichend genau ist, so daß sie von einem Rechtsbürger in Anspruch genommen und vom Gericht angewandt werden kann.

22 Die Frage des House of Lords ist demgemäß dahin zu beantworten, daß Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 des Rates vom 9. Februar 1976 zur Erlangung von Schadensersatz gegenüber einer Einrichtung, die kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt, unabhängig von der Rechtsform dieser Einrichtung in Anspruch genommen werden kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom House of Lords mit Beschluß vom 4. Mai 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen kann zur Erlangung von Schadensersatz gegenüber einer Einrichtung, die kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt, unabhängig von der Rechtsform dieser Einrichtung in Anspruch genommen werden.

Ende der Entscheidung

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