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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.11.1997
Aktenzeichen: C-188/96 P
Rechtsgebiete: EGKS, EAG-Satzung


Vorschriften:

EGKS
EAG-Satzung
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

3 Die Frage des Umfangs der Begründungspflicht bei einer Entscheidung, durch die eine Disziplinarstrafe gegen einen Beamten verhängt wird, ist eine Rechtsfrage, die der Nachprüfung durch den Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels unterliegt. Der Gerichtshof muß bei der Überprüfung der Rechtmässigkeit in diesem Rahmen notwendigerweise die Tatsachen berücksichtigen, aufgrund deren das Gericht zu dem Schluß gelangt ist, daß eine Begründung ausreichend oder nicht ausreichend ist.

4 Die Begründung einer beschwerenden Entscheidung muß es dem Gemeinschaftsrichter ermöglichen, deren Rechtmässigkeit zu überprüfen, und dem Betroffenen die erforderlichen Hinweise für die Feststellung geben, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist.

Ein Urteil des Gerichts, in dem festgestellt wird, daß die Begründung einer Entscheidung, durch die eine Disziplinarstrafe gegen einen Beamten verhängt wird, unzureichend ist, obwohl die Entscheidung die zu Lasten des Betroffenen festgestellten Tatsachen hinreichend genau angibt und die Gründe enthält, aus denen die Anstellungsbehörde von der Stellungnahme des Disziplinarrats abgewichen ist und eine strengere als die von diesem empfohlene Strafe verhängt, ist rechtlich fehlerhaft.


Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 20. November 1997. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen V. - Beamte - Entfernung aus dem Dienst - Begründung. - Rechtssache C-188/96 P.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Rechtsmittelschrift, die am 31. Mai 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung und den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 28. März 1996 in der Rechtssache T-40/95 (V/Kommission, Slg. ÖD 1996, II-461, im folgenden: angefochtenes Urteil) eingelegt, mit dem dieses die Entscheidung der Kommission vom 18. Januar 1995 (im folgenden: streitige Entscheidung) aufgehoben hat, durch die gegen Herrn V die in Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe f des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Statut) aufgeführte Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst ohne Kürzung oder Aberkennung seines Anspruchs auf das nach dem Dienstalter bemessene Ruhegehalt verhängt worden war.

2 Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich, daß die Kommission im Februar 1992 gegen Herrn V, einen Beamten der Besoldungsgruppe C 3 bei der Generaldirektion Kredit und Investitionen (GD XVIII), ein Disziplinarverfahren einleitete (Randnrn. 1 bis 3).

3 Ihm wurde zunächst vorgeworfen, sich bei der Prüfung in Rechnungsführung und Rechnungsprüfung im Rahmen eines Auswahlverfahrens, das von der Kommission und vom Rechnungshof gemeinsam durchgeführt wurde, mit zwei anderen Bewerbern, nämlich seiner Ehefrau, Frau G.-G., und seinem Kollegen K., verständigt und die Fragen und/oder Musterlösungen im voraus gekannt zu haben (Randnrn. 3 bis 7).

4 Der Disziplinarrat gab im Juni 1993 eine erste Stellungnahme ab, in der er der Anstellungsbehörde empfahl, gegen Herrn V die in Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe b des Statuts vorgesehene Disziplinarstrafe des Verweises zu verhängen (Randnr. 8).

5 Bei einer späteren Anhörung erklärte Herr K., Herr V habe ihm mitgeteilt, daß er über die Prüfungsfragen verfüge; diese seien ihm durch ein innerhalb des Sicherheitsbüros in Luxemburg bestehendes Netz übermittelt worden (Randnr. 9).

6 Aufgrund dieser neuen Tatsachen wurde das Verfahren vor dem Disziplinarrat gegen Herrn V von der Anstellungsbehörde wiedereröffnet. In seiner zweiten Stellungnahme vom 11. Oktober 1994 empfahl der Disziplinarrat, gegen Herrn V die in Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe e des Statuts vorgesehene Disziplinarstrafe der Rückstufung in die Besoldungsgruppe C 4 unter Beibehaltung der Dienstaltersstufe zu verhängen (Randnrn. 11 bis 15). Aus den Akten ergibt sich, daß der Disziplinarrat bei seiner Stellungnahme insbesondere die sechsjährige untadelige Dienstausübung durch Herrn V und seine früheren Beurteilungen als mildernde Umstände berücksichtigt hat.

7 Nach einer erneuten Anhörung von Herrn V erließ die Anstellungsbehörde am 18. Januar 1995 eine Entscheidung, mit der gegen diesen mit Wirkung vom 1. März 1995 die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst gemäß Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe f des Statuts verhängt wurde.

8 Die Begründung dieser Entscheidung lautet wie folgt:

"Herrn V wird vorgeworfen,

- sich bei den schriftlichen Prüfungen in Rechnungsführung und Rechnungsprüfung des allgemeinen Auswahlverfahrens EUR/B/21 in Luxemburg mit zwei anderen Bewerbern, nämlich seiner Ehefrau, Frau G.-G., und Herrn K., einem zeitweilig dem Amt für amtliche Veröffentlichungen zugewiesenen Beamten des Sicherheitsbüros in Luxemburg, über den Unterabschnitt I der Aufgabe A1 in Rechnungsführung und mit einem dieser beiden Bewerber über die meisten übrigen Fragen verständigt zu haben sowie

- im voraus Kenntnis von den Musterlösungen der Fragen in Rechnungsführung und vielleicht in Rechnungsprüfung, vom Wortlaut aller oder einiger dieser Fragen oder sowohl von den Musterlösungen als auch von diesen Fragen gehabt zu haben.

Einer der Korrektoren der schriftlichen Prüfung des allgemeinen Auswahlverfahrens EUR/B/21 teilte dem Prüfungsausschuß mit Schreiben vom 10. Juli 1991 mit, daß zwei Bewerber sich wahrscheinlich während der Prüfungen miteinander verständigt hätten; bestimmte Antworten dieser Bewerber seien völlig gleich oder in anderen Teilen sehr ähnlich. Offensichtlich habe sich ein dritter Bewerber, wenn auch in geringerem Masse, mit den ersten beiden verständigt.

Aus den Nummern der anonymen Tests ergibt sich, daß die ersten beiden Bewerber Herr V und Herr K. waren. Die dritte Person war Frau G.-G.

Sowohl aus den Protokollen der Anhörung von Herrn V als auch aus den Stellungnahmen des Disziplinarrats geht hervor, daß Herr V zugegeben hat, während der schriftlichen Prüfungen Konzepte an Herrn K. weitergegeben zu haben, nachdem dieser ihm Zeichen gegeben hatte. Herr V hat nämlich erklärt, daß ihm Herr K. "während der Prüfungen gesagt habe, er könne einige der Rechnungsführungsaufgaben nicht lösen".

Das Verhalten von Herrn V wird durch folgende Umstände erschwert:

Aus der Prüfungsarbeit von Herrn K. geht hervor, daß seine Antwort auf die Frage A1 in den Teilen, in denen es um reine Rechnungsführung geht, der Antwort von Herrn V stark ähnelt.

Wie sich aus der Tabelle auf Seite 4 der vorliegenden Entscheidung ergibt, weist die Antwort von Herrn K. auf den Unterabschnitt 2 Punkt 2 der Frage A1 - Analyse und Kommentar der in Punkt 1 erzielten Ergebnisse - gewisse Ähnlichkeiten mit der Antwort von Herrn V auf (vgl. Anhang 2 für die Antwort von Herrn K. zu diesem Punkt und Anhang 3 für die Antwort von Herrn V). Dagegen gibt die Antwort von Herrn K. (Anhang 2) fast wörtlich den entsprechenden Teil der zuvor vom Prüfungsausschuß ausgearbeiteten Musterlösung für die Frage A1 Unterabschnitt 2 Punkt 2 wieder (vgl. Anhang 4).

Aus den Akten ergibt sich, daß die Antworten nicht dem Handbuch der Rechnungsprüfung des Rechnungshofs entnommen sein können, dessen insoweit erheblicher Teil der vorliegenden Entscheidung beigefügt ist (Anhang 5).

Herr V hat in seinen Erklärungen ausgeführt, daß ihm Herr K. während der Prüfungen gesagt habe, er könne einige der Rechnungsführungsaufgaben nicht lösen; daraufhin habe er ihm, wie er es formuliert, Konzeptzettel seiner Antworten gegeben. Damit ist klar, daß Herr K., bevor er Hilfe von Herrn V erhielt, die von ihm verwendeten Antwortteile nicht kannte. Diese ähneln in dem bereits genannten Punkt sowohl der Antwort von Herrn V als auch den Musterlösungen. Somit ist festzustellen, daß Herr V über die Musterlösung für den fraglichen Punkt verfügte, und zwar zwangsläufig vor Betreten des Prüfungsraumes. Er hat sich also eine undichte Stelle zunutze gemacht.

Herr V hat somit bewusst versucht, die Ergebnisse des allgemeinen Auswahlverfahrens zu verfälschen, und damit gegen den Grundsatz der Gleichheit aller Bewerber um die Dienstposten des europäischen öffentlichen Dienstes im Hinblick auf die Prüfungsaufgaben der genannten allgemeinen Auswahlverfahren verstossen.

Dieses Verhalten hat die ernste Gefahr mit sich gebracht, daß Bewerber, die nicht die erforderlichen Fachkenntnisse besassen, die Prüfungen dieses allgemeinen Auswahlverfahrens bestehen, was zu einer Beeinträchtigung der Interessen sowohl der anderen Bewerber als auch der Kommission geführt hätte.

Ferner hat er durch die Weigerung, Angaben über die Herkunft der fraglichen Musterlösung zu machen, gegen seine Pflicht verstossen, im Interesse der Kommission bei der Wahrheitsfindung mitzuwirken.

Herr V, ein ehemaliger Inspektor der belgischen Polizei und ehemaliger Beamter des Sicherheitsbüros - zunächst in Luxemburg und später in Ispra - nahm wichtige, mit Verantwortung verbundene Aufgaben in einer Vertrauensstellung wahr.

Das Gemeinschaftsorgan kann von seinen Beamten und insbesondere von einem ehemaligen Beamten des Sicherheitsbüros aufgrund der Art der wahrgenommenen Aufgaben tadellose Ehrenhaftigkeit erwarten.

Herr V hat das Vertrauen, das zwischen dem Beamten und dem Gemeinschaftsorgan, dem er angehört, herrschen muß, in äusserst schwerwiegender Weise mißbraucht.

Aus diesen Gründen und unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falles ist es notwendig und gerechtfertigt, gegen Herrn V eine strengere als die vom Disziplinarrat empfohlene Disziplinarstrafe zu verhängen."

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Randnummern 1 bis 16 des angefochtenen Urteils verwiesen.

10 Herr V erhob mit Klageschrift, die am 17. Februar 1995 bei der Kanzlei des Gerichts einging, Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung.

11 Er stützte seine Klage auf fünf Gründe: erstens Verletzung des Artikels 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und des Artikels 7 des Anhangs IX des Statuts, zweitens Verletzung der Verteidigungsrechte, drittens Ermessensmißbrauch der Anstellungsbehörde, viertens offensichtlicher Beurteilungsfehler und fünftens Verletzung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes und unzureichende Begründung der streitigen Entscheidung.

Das angefochtene Urteil

12 Das Gericht hat zunächst den zweiten Teil des letzten Klagegrundes geprüft.

13 In Randnummer 36 des angefochtenen Urteils hat das Gericht zunächst ausgeführt, daß sich aus der Begründung einer Entscheidung der Anstellungsbehörde in eindeutiger Weise die dem Beamten zur Last gelegten Handlungen sowie die Erwägungen ergeben müssen, die die Anstellungsbehörde zur Verhängung der gewählten Disziplinarstrafe veranlasst hätten. Wenn wie im vorliegenden Fall die von der Anstellungsbehörde verhängte Disziplinarstrafe schwerer sei als die vom Disziplinarrat vorgeschlagene, so müsse die Entscheidung eine eingehende Darlegung der Gründe enthalten, aus denen die Anstellungsbehörde von der Stellungnahme des Disziplinarrats abgewichen sei.

14 In den Randnummern 37 bis 41 des angefochtenen Urteils hat das Gericht geprüft, ob die Anstellungsbehörde in eindeutiger Weise die Tatsachen und Umstände dargelegt hat, die sie dazu veranlasst haben, mit ihrer Entscheidung eine schwerere Disziplinarstrafe zu verhängen, als sie der Disziplinarrat in seiner Stellungnahme vorgeschlagen hatte. Es hat festgestellt, daß die Anstellungsbehörde das Verhalten von Herrn V für schwerwiegender hielt als der Disziplinarrat, und zwar insbesondere aufgrund der Annahme, daß Herr V vor den Prüfungen über die Musterlösung verfügt habe; die Anstellungsbehörde habe jedoch ihre Entscheidung, von der Stellungnahme des Disziplinarrats abzuweichen, nicht eingehend begründet.

15 In Randnummer 42 des angefochtenen Urteils hat das Gericht hinzugefügt, die Ähnlichkeit der von Herrn K. gegebenen Antworten mit denen der Musterlösung könne kein ausreichender Beweis dafür sein, daß Herr V vor den Prüfungen über die Musterlösung verfügt habe.

16 In den Randnummern 43 bis 50 hat das Gericht sodann untersucht, ob die drei von der Anstellungsbehörde angenommenen erschwerenden Umstände geeignet waren, die Strafe der Entfernung aus dem Dienst anstelle der vom Disziplinarrat empfohlenen Zurückstufung zu rechtfertigen.

17 In Randnummer 51 des angefochtenen Urteils hat das Gericht beanstandet, daß die Anstellungsbehörde ihre Entscheidung nicht eingehend begründet habe und nicht die Gründe angegeben habe, die ihre Weigerung hätten rechtfertigen können, die mildernden Umstände, von denen sich der Disziplinarrat bei der Wahl der von ihm vorgeschlagenen Strafe habe leiten lassen, zu berücksichtigen, nämlich die sechsjährige untadelige Dienstausübung durch Herrn V und seine Beurteilungen.

18 Das Gericht hat demgemäß in Randnummer 52 entschieden, daß die streitige Entscheidung keine Begründung enthalte, aus der hinreichend deutlich hervorgehe, weshalb die Anstellungsbehörde gegen Herrn V eine wesentlich schwerere als die vom Disziplinarrat vorgeschlagene Strafe verhängt habe, und es hat deshalb die streitige Entscheidung wegen unzureichender Begründung aufgehoben.

Das Rechtsmittel

19 Die Kommission macht mit ihrem Rechtsmittel geltend, das Gericht habe dadurch, daß es die streitige Entscheidung wegen unzureichender Begründung aufgehoben habe, das Gemeinschaftsrecht verletzt. Sie führt hierfür drei Rechtsmittelgründe an: Zunächst habe das Gericht den Umfang der Begründungspflicht nicht zutreffend beurteilt; weiter habe es zum einen die von der Anstellungsbehörde festgestellten Tatsachen rechtlich falsch eingeordnet, indem es diese nicht für geeignet gehalten habe, die Verhängung einer schwereren als der vom Disziplinarrat vorgeschlagenen Strafe zu rechtfertigen, und es habe zum anderen zu Unrecht entschieden, daß die streitige Entscheidung nur dann ausreichend begründet gewesen wäre, wenn sie die vom Disziplinarrat festgestellten mildernden Umstände erwähnt hätte; schließlich habe das Gericht die Beweisanforderungen für die Feststellung eines Disziplinarvergehens unrichtig beurteilt.

Zum ersten Rechtsmittelgrund und zum zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes

20 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund und dem zweiten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes, die zusammen zu prüfen sind, macht die Kommission geltend, das Gericht habe dadurch, daß es den Umfang der Begründungspflicht nicht zutreffend beurteilt habe, das Gemeinschaftsrecht verletzt. Denn die streitige Entscheidung erwähne entgegen den Feststellungen des Gerichts in Randnummer 52 des angefochtenen Urteils ausdrücklich die Gründe, aus denen die Anstellungsbehörde beschlossen habe, gegen Herrn V eine schwerere als die vom Disziplinarrat empfohlene Strafe zu verhängen. Damit habe der Betroffene der streitigen Entscheidung entnehmen können, ob sie begründet sei und ob er sie gerichtlich überprüfen lassen könne.

21 Das Gericht habe einerseits das Fehlen einer Begründung der streitigen Entscheidung beanstandet, andererseits aber selbst festgestellt, es sei "zu prüfen, ob die drei von der Anstellungsbehörde festgestellten erschwerenden Umstände geeignet sind, die Verhängung einer schwereren Strafe zu rechtfertigen...". Damit habe das Gericht in Wirklichkeit die Rüge der mangelnden oder unzureichenden Begründung mit der Rüge der sachlichen Unrichtigkeit der tatsächlich zur Rechtfertigung der verhängten Strafe angeführten Gründe verwechselt. Dadurch habe das Gericht, was die Wahl der angemessenen Disziplinarstrafe angehe, seine Beurteilung an die Stelle derjenigen der Anstellungsbehörde gesetzt.

22 Zu den mildernden Umständen trägt die Kommission vor, die Anstellungsbehörde habe diese gebührend berücksichtigt, sie jedoch deshalb nicht erwähnt, weil der äusserst schwerwiegende Charakter der zu Lasten von Herrn V festgestellten Handlungen diese mildernden Umstände zunichte gemacht habe; zudem sei ihre Nichterwähnung in der streitigen Entscheidung dadurch gerechtfertigt, daß es sich dabei um eine Selbstverständlichkeit handele, denn die Kommission könne von jedem Beamten ein untadeliges dienstliches Verhalten erwarten.

23 Herr V hält diese Rechtsmittelgründe für unzulässig. Die Kommission versuche, durch ihre Argumente eine neue Tatsachenwürdigung durch den Gerichtshof zu erlangen, was durch Artikel 51 der EG-Satzung des Gerichtshofes untersagt sei. Zur Begründetheit vertritt er die Auffassung, daß das Gericht die Verletzung der Begründungspflicht durch die Anstellungsbehörde zutreffend festgestellt habe.

Zur Zulässigkeit

24 Die Frage des Umfangs der Begründungspflicht ist eine Rechtsfrage, die der Nachprüfung durch den Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels unterliegt (Urteil vom 20. Februar 1997 in der Rechtssache C-166/95 P, Kommission/Daffix, Slg. 1997, I-983). Denn wie der Generalanwalt in Nummer 12 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt hat, muß der Gerichtshof bei der Überprüfung der Rechtmässigkeit einer Entscheidung in diesem Rahmen notwendigerweise die Tatsachen berücksichtigen, aufgrund deren das Gericht zu dem Schluß gelangt ist, daß eine Begründung ausreichend oder nicht ausreichend ist.

25 Die von Herrn V erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist deshalb zurückzuweisen.

Zur Begründetheit

26 Zur Begründungspflicht heisst es in ständiger Rechtsprechung, daß die Begründung einer beschwerenden Entscheidung es dem Gemeinschaftsrichter ermöglichen muß, ihre Rechtmässigkeit zu überprüfen, und dem Betroffenen die erforderlichen Hinweise für die Feststellung geben muß, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist (vgl. insbesondere Urteile des Gerichtshofes vom 26. November 1981 in der Rechtssache 195/80, Michel/Parlament, Slg. 1981, 2861, Randnr. 22, und Kommission/Daffix, a. a. O., Randnr. 23).

27 Insoweit ist, wie der Generalanwalt dies in Nummer 22 seiner Schlussanträge getan hat, festzustellen, daß die Anstellungsbehörde sich ausdrücklich auf folgende sechs Gründe gestützt hat, die ihrer Meinung nach die Verhängung einer schwereren als der vom Disziplinarrat empfohlenen Strafe rechtfertigen:

- Herr V habe als ehemaliger Inspektor der belgischen Polizei und als ehemaliger Beamter des Sicherheitsbüros wichtige, mit Verantwortung verbundene Aufgaben in einer Vertrauensstellung erfuellt;

- das Gemeinschaftsorgan könne von seinen Beamten und insbesondere von einem ehemaligen Beamten des Sicherheitsbüros tadellose Ehrenhaftigkeit erwarten;

- Herr V habe unter Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit der Bewerber in einem allgemeinen Auswahlverfahren versucht, die Ergebnisse eines solchen Auswahlverfahrens zu verfälschen;

- das Verhalten von Herrn V habe die ernste Gefahr mit sich gebracht, daß Bewerber, die nicht die erforderlichen Fachkenntnisse besässen, die Prüfungen bestuenden, was zu einer Beeinträchtigung der Interessen sowohl der anderen Bewerber als auch der Kommission geführt hätte;

- Herr V habe dadurch, daß er sich geweigert habe, Angaben über die Herkunft der fraglichen Musterlösung zu machen, gegen seine Mitwirkungspflicht verstossen;

- Herr V habe damit das Vertrauen mißbraucht, das zwischen dem Beamten und dem Gemeinschaftsorgan, dem er angehöre, bestehen müsse.

28 Die sechs von der Anstellungsbehörde angeführten Gründe bildeten, wenn man sie unter Berücksichtigung aller von der Anstellungsbehörde zu prüfenden Umstände des vorliegenden Falles untersucht - einschließlich der vom Disziplinarrat genannten Umstände, nämlich sechsjähriger untadeliger Dienstausübung und der früheren Beurteilungen - eine ausreichende Begründung, die es dem Gericht ermöglichte, die sachliche Richtigkeit der Begründung der Entscheidung einer gerichtlichen Nachprüfung zu unterziehen.

29 Somit waren in der streitigen Entscheidung entgegen den Ausführungen des Gerichts in den Randnummern 41 und 52 des angefochtenen Urteils hinreichend genau die Gründe angegeben, aus denen die Anstellungsbehörde beschlossen hatte, gegen Herrn V eine strengere als die vom Disziplinarrat empfohlene Strafe zu verhängen. Dem Gericht ist somit ein Rechtsirrtum unterlaufen.

30 Der erste Rechtsmittelgrund sowie der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes der Kommission sind demnach begründet.

31 Deshalb ist das angefochtene Urteil, ohne daß die übrigen Rechtsmittelgründe zu prüfen wären, insoweit aufzuheben, als damit die streitige Entscheidung wegen unzureichender Begründung aufgehoben worden ist und der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten der vorangegangenen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auferlegt worden sind.

Zur Rückverweisung der Rechtssache an das Gericht

32 Artikel 54 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes bestimmt: "Ist das Rechtsmittel begründet, so hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen."

33 Im vorliegenden Fall sieht sich der Gerichtshof nicht in der Lage, den Rechtsstreit zu entscheiden, da nicht ausgeschlossen ist, daß tatsächliche Feststellungen getroffen werden müssen, um über die anderen in der ersten Instanz geltend gemachten Klagegründe zu entscheiden. Die Rechtssache ist deshalb an das Gericht zur Entscheidung darüber zurückzuverweisen, ob die übrigen von Herrn V in der ersten Instanz geltend gemachten Klagegründe begründet sind.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Erste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 28. März 1996 in der Rechtssache T-40/95 (V/Kommission) wird insoweit aufgehoben, als damit die Entscheidung der Kommission vom 18. Januar 1995 über die Entfernung von Herrn V aus dem Dienst wegen unzureichender Begründung aufgehoben worden ist und der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten der vorangegangenen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auferlegt worden sind.

2. Die Rechtssache wird zur Entscheidung über die anderen von Herrn V in der ersten Instanz geltend gemachten Klagegründe an das Gericht zurückverwiesen.

3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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