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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.05.1991
Aktenzeichen: C-19/90
Rechtsgebiete: Zweite Richtlinie 77/91/EWG, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Zweite Richtlinie 77/91/EWG Art. 25 Abs. 1
Zweite Richtlinie 77/91/EWG Art. 41 Abs. 1
EWG-Vertrag Art. 54 Abs. 3 Buchst. g
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der einzelne kann sich vor den staatlichen Gerichten den öffentlichen Stellen gegenüber auf Artikel 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91), berufen.

Indem diese Vorschrift nämlich vorsieht, daß jede Kapitalerhöhung durch die Hauptversammlung beschlossen werden muß, legt sie Bestimmungen fest, die inhaltlich als so unbedingt und hinreichend genau erscheinen, daß ihr eine solche Wirkung zuzuerkennen ist.

Artikel 25 ist in Verbindung mit Artikel 41 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die zur Sicherung des Fortbestands und der Fortsetzung des Betriebs von Unternehmen, die wirtschaftlich und gesellschaftlich für das Gemeinwesen besonders wichtig sind und die sich wegen ihrer Überschuldung in einer aussergewöhnlichen Lage befinden, vorsieht, daß durch eine Handlung der Geschäftsführung die Erhöhung des Grundkapitals der Unternehmen beschlossen werden kann, dabei jedoch das Bezugsrecht der bisherigen Aktionäre bei der Ausgabe der neuen Aktien unberührt lässt. Insoweit kommt es nicht darauf an, daß nach dieser Regelung die in dieser Weise geschaffenen Aktien im Rahmen einer Politik der Beteiligung breiter Kreise der Bevölkerung am Aktienbesitz Arbeitnehmern der Gesellschaft oder anderen Kategorien von Privatpersonen übertragen werden können, solange diese Möglichkeit nicht realisiert worden ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 30. MAI 1991. - MARINA KARELLA UND ANDERE GEGEN YPOURGO VIOMICHANIAS, ENERGEIAS & TECHNOLOGIAS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SYMVOULIO EPIKRATEIAS - GRIECHENLAND. - GESELLSCHAFTSRECHT - RICHTLINIE - UNMITTELBARE WIRKUNG. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-19/90 UND C-20/90.

Entscheidungsgründe:

1 Das Symvoulio Epikrateias (Staatsrat) hat mit zwei Urteilen vom 25. Mai 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Januar 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 25, 41 und 42 der Zweiten Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. 1977 L 26, S. 1, im folgenden: Zweite Richtlinie), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Aktionären der Klostiria Velka Ä und dem Minister für Industrie, Energie und Technologie sowie dem Organismos Anasygkrotiseos Epicheiriseon (Anstalt für Unternehmensneuordnung, im folgenden: OÄ). In diesen Rechtsstreitigkeiten geht es um die vom OÄ beschlossene und vom Staatssekretär für Industrie, Energie und Technologie genehmigte Erhöhung des Gesellschaftskapitals dieser Firma.

3 Der OÄ ist eine durch das griechische Gesetz Nr. 1386/1983 vom 5. August 1983 (Amtsblatt der Griechischen Republik Nr. 107/A vom 8. August 1983, S. 14) geschaffene Einrichtung der Staatswirtschaft, die die Form einer Aktiengesellschaft hat und im öffentlichen Interesse unter staatlicher Aufsicht tätig wird. Nach Artikel 2 Absatz 2 dieses Gesetzes besteht der Zweck des OÄ darin, durch die finanzielle Sanierung von Unternehmen, die Einfuhr und die Anwendung von ausländischem Know-how, die Entwicklung von einheimischem Know-how sowie die Gründung und den Betrieb von verstaatlichten oder gemischtwirtschaftlichen Unternehmen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes beizutragen.

4 In Artikel 2 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 1386/1983 werden die Befugnisse aufgezählt, die dem OÄ zur Erreichung dieser Ziele eingeräumt werden. So kann er die Verwaltung und die laufende Geschäftsführung von Unternehmen übernehmen, die gerade saniert werden oder verstaatlicht sind, sich am Kapital von Unternehmen beteiligen, Darlehen gewähren und bestimmte Anleihen auflegen oder aufnehmen, Schuldverschreibungen erwerben sowie Aktien übertragen, insbesondere an Arbeitnehmer oder ihre Interessenvertretungen, an Gebietskörperschaften oder an andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, an gemeinnützige Einrichtungen, soziale Körperschaften oder an Privatpersonen.

5 Nach Artikel 5 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1386/1983 kann der Wirtschaftsminister beschließen, Unternehmen, die sich in ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden, der Regelung des Gesetzes zu unterstellen.

6 Nach Artikel 7 des Gesetzes Nr. 1386/1983 kann der zuständige Minister beschließen, dem OÄ die Geschäftsführung des der Regelung dieses Gesetzes unterstellten Unternehmens zu übertragen, dessen Schulden so zu regeln, daß seine Lebensfähigkeit gesichert ist, oder seine Abwicklung vorzunehmen.

7 Artikel 8 des Gesetzes Nr. 1386/1983 enthält die Bestimmungen über die Übertragung der Geschäftsführung des Unternehmens an den OÄ. Artikel 8 Absatz 1 in der Fassung des Gesetzes Nr. 1472/1984 (Amtsblatt der Griechischen Republik Nr. 112/A vom 6. August 1984, S. 1273) legt die Übertragungsmodalitäten fest und regelt die Beziehungen zwischen den mit der Geschäftsführung betrauten Personen, die vom OÄ und den Organen des Unternehmens benannt werden. So ist vorgesehen, daß mit der Veröffentlichung der ministeriellen Entscheidung, das Unternehmen der Regelung des Gesetzes zu unterstellen, die Befugnisse der Geschäftsführungsorgane des Unternehmens enden und daß die Hauptversammlung fortbesteht, daß sie aber die vom OÄ benannten Mitglieder der Geschäftsführung nicht abberufen kann.

8 Nach Artikel 8 Absatz 8 des Gesetzes Nr. 1386/1983 kann der OÄ während seiner zeitweiligen Geschäftsführung der der Regelung des Gesetzes unterstellten Gesellschaft abweichend von den geltenden Bestimmungen über Aktiengesellschaften beschließen, das Grundkapital dieser Gesellschaft zu erhöhen. Die Kapitalerhöhung, die der Genehmigung durch den Minister bedarf, kann durch Bareinlage oder durch Sacheinlage erfolgen. Die Einlage kann auch durch Aufrechnung erfolgen. Die bisherigen Aktionäre behalten jedoch ihr Bezugsrecht, das sie innerhalb einer in der ministeriellen Genehmigungsentscheidung festgesetzten Frist ausüben können.

9 Der Staatssekretär für Wirtschaft unterstellte die Klostiria Velka Ä mit Entscheidung vom 14. Dezember 1983 den Bestimmungen des Gesetzes Nr. 1386/1983 (Verfügung Nr. 2057, Amtsblatt der Griechischen Republik Nr. 725/B vom 14. Dezember 1983). Gemäß Artikel 8 des Gesetzes wurde die Geschäftsführung der Gesellschaft dem OÄ übertragen.

10 Während dieser zeitweiligen Geschäftsführung beschloß der OÄ gemäß Artikel 8 Absatz 8 des Gesetzes Nr. 1386/1983, das Grundkapital der der Regelung dieses Gesetzes unterstellten Gesellschaft um 400 Millionen DR zu erhöhen. Diese Entscheidung wurde vom Staatssekretär für Industrie, Energie und Technologie genehmigt (Verfügung Nr. 162 vom 6. Juni 1986, Amtsblatt der Griechischen Republik Nr. 374/B vom 10. Oktober 1986). Die Genehmigungsverfügung sah für die bisherigen Aktionäre ein unbegrenztes Bezugsrecht vor, das sie innerhalb eines Monats nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung auszuüben hatten.

11 Marina Karella und Nikolaos Karellas, zwei Aktionäre der Klostiria Velka Ä erhoben vor dem Symvoulio Epikrateias eine Klage auf Aufhebung dieser Genehmigungsverfügung mit der Begründung, sie verstosse gegen die griechische Verfassung und gegen die Zweite Richtlinie.

12 Das Symvoulio Epikrateias vertrat in seinen Urteilen vom 25. Mai 1989 die Auffassung, die von den bisherigen Aktionären auf eine Verfassungswidrigkeit der streitigen Verfügung gestützten Aufhebungsgründe seien nicht stichhaltig. Hinsichtlich der Auslegung der Zweiten Richtlinie hat es das Gericht jedoch für angebracht gehalten, dem Gerichtshof die folgenden in beiden Rechtssachen gleichlautenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1) Ist Artikel 25 in Verbindung mit Artikel 41 Absatz 1 und Artikel 42 der Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 frei von Voraussetzungen, die der Beurteilung durch die Mitgliedstaaten unterliegen, und hinreichend genau, so daß sich der einzelne mit dem Vorbringen, daß eine Regelung in einer Gesetzesbestimmung mit diesen Vorschriften unvereinbar sei, vor den nationalen Gerichten gegenüber der Verwaltung auf sie berufen kann?

2) Ist Artikel 25 der genannten Richtlinie dahin auszulegen, daß in seinen Anwendungsbereich eine Gesetzesbestimmung fällt, die zwar keine grundlegende rechtliche Regelung über die Erhöhung des Grundkapitals enthält, die aber, um der aussergewöhnlichen Lage zu begegnen, in die wirtschaftlich und gesellschaftlich für das Gemeinwesen besonders wichtige Unternehmen wegen ihrer Überschuldung geraten sind, zur Sicherung des Fortbestands und der Fortsetzung des Betriebs dieser Unternehmen vorsieht, daß durch eine Handlung der Geschäftsführung die Erhöhung des Grundkapitals beschlossen werden kann, wobei jedoch das Bezugsrecht der bisherigen Aktionäre bei der Unterbringung der neuen Aktien unberührt bleibt. Bejahendenfalls: Inwieweit ist eine solche Gesetzesbestimmung mit Artikel 25 in Verbindung mit Artikel 41 Absatz 1 der Richtlinie vereinbar?

3) Ist diese Regelung insofern mit Artikel 42 der Richtlinie 77/91 vereinbar, als sie nicht vorschreibt, daß der Ausgabekurs der neuen Aktien von der Verwaltung auf der Grundlage des objektiv ermittelten Nettovermögens des Unternehmens und des in Anbetracht dieses Vermögens gegebenen tatsächlichen Werts der alten Aktien festzusetzen ist, sondern die Festsetzung dieses Kurses der Sachentscheidung der Verwaltung überlässt, um die gebotene unverzuegliche Zufuhr von Kapital zu Gesellschaften zu ermöglichen, deren Kredit wegen ihrer problematischen Lage erschüttert ist, wobei diese Regelung jedoch das Bezugsrecht der bisherigen Aktionäre bei der Ausgabe der neuen Aktien unberührt lässt?

13 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts der Ausgangsverfahren, der anwendbaren Regelung sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

14 Mit seinen Vorlagefragen wirft das vorlegende Gericht im wesentlichen zwei Probleme auf. Das erste Problem betrifft Artikel 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie. Das Gericht möchte wissen, ob sich unter Berücksichtigung des Artikels 41 Absatz 1 dieser Richtlinie der einzelne gegenüber der Geschäftsführung vor den nationalen Gerichten auf den Artikel 25 Absatz 1 berufen kann. Des weiteren fragt das Gericht, ob diese Bestimmung in Verbindung mit Artikel 41 Absatz 1 auf eine staatliche Regelung wie die mit dem Gesetz Nr. 1386/1983 vorgesehene anwendbar ist, die für die besonderen Ausnahmefälle gilt, daß sich wirtschaftlich und gesellschaftlich für das Gemeinwesen besonders wichtige Unternehmen in ernsten finanziellen Schwierigkeiten befinden.

15 Das zweite Problem bezieht sich auf Artikel 42 der Zweiten Richtlinie. Das vorlegende Gericht fragt, ob der einzelne sich auf diese Bestimmung berufen kann und ob sie dahin auszulegen ist, daß sie einer nationalen Regelung wie der genannten entgegensteht.

16 Der Gerichtshof wird zunächst das erstgenannte Problem untersuchen, da im Ausgangsverfahren die Frage der Rechtmässigkeit der Kapitalerhöhung der Frage der Höhe des Ausgabekurses vorgeht.

Zur unmittelbaren Wirkung des Artikels 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie

17 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes kann sich der einzelne dem Staat gegenüber auf Bestimmungen einer Richtlinie berufen, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen (siehe insbesondere Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53).

18 Daher ist zu prüfen, ob Artikel 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie, wonach jede Kapitalerhöhung durch die Hauptversammlung beschlossen werden muß, diesen Voraussetzungen entspricht.

19 Hierzu ist festzustellen, daß diese Bestimmung klar und genau formuliert ist und daß sie den allgemeinen Grundsatz der Zuständigkeit der Hauptversammlung für Entscheidungen über Kapitalerhöhungen festlegt, ohne insoweit Bedingungen vorzusehen.

20 Die Unbedingtheit dieser Bestimmung wird durch die in Artikel 25 Absatz 2 der Zweiten Richtlinie vorgesehene Ausnahme nicht berührt, wonach der Akt zur Errichtung der Gesellschaft oder die Hauptversammlung zu einer Erhöhung des gezeichneten Kapitals bis zu einem Hoechstbetrag ermächtigen kann, den der Errichtungsakt oder die Hauptversammlung unter Beachtung des gegebenenfalls gesetzlich vorgeschriebenen Hoechstbetrags festlegt. Diese punktülle und eindeutig abgegrenzte Abweichungsbestimmung lässt den Mitgliedstaaten nämlich keine Möglichkeit, andere Ausnahmen vom Grundsatz der Zuständigkeit der Hauptversammlung als die ausdrücklich vorgesehene einzuführen.

21 Gleiches gilt für Artikel 41 Absatz 1 der Richtlinie, der den Mitgliedstaaten erlaubt, von Artikel 25 Absatz 1, Artikel 9 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe a Satz 1 und Buchstabe b abzuweichen, soweit dies zur Förderung der Beteiligung der Arbeitnehmer oder anderer durch einzelstaatliches Recht festgelegter Kategorien von Personen am Kapital der Unternehmen erforderlich ist. Auch diese Abweichungsbestimmung ist strikt auf den vorgesehenen Fall beschränkt.

22 Im übrigen bestätigt die Tatsache, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber genau bestimmte und konkrete Abweichungen vorgesehen hat, die Unbedingtheit des in Artikel 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie aufgestellten Grundsatzes.

23 Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß sich der einzelne vor den staatlichen Gerichten den öffentlichen Stellen gegenüber auf Artikel 25 Absatz 1 berufen kann.

Zur Bedeutung des Artikels 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie

24 Was die Bedeutung des Artikels 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie im Hinblick auf ein Gesetz wie das Gesetz Nr. 1386/1983 angeht, so ist zunächst zu prüfen, ob ein solches Gesetz in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, da es keine Grundvorschriften über Kapitalerhöhungen enthält und mit ihm nur aussergewöhnlichen Situationen begegnet werden soll. Fällt ein solches Gesetz in den Anwendungsbereich der Zweiten Richtlinie, so ist sonach zu prüfen, ob es von der Abweichungsbestimmung des Artikels 41 Absatz 1 dieser Richtlinie erfasst wird.

25 Zum Anwendungsbereich der Zweiten Richtlinie ist zunächst festzustellen, daß diese Richtlinie gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag bezweckt, die Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 EWG-Vertrag vorgeschrieben sind, zu koordinieren, um diese Schutzbestimmungen gleichwertig zu gestalten und die Interessen der Gesellschafter und Dritter zu wahren. Somit soll die Zweite Richtlinie in allen Mitgliedstaaten ein Mindestmaß des Schutzes für Aktionäre gewährleisten.

26 Dieses Ziel wäre ernstlich in Frage gestellt, wenn die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Richtlinie abweichen könnten, indem sie Regelungen - mögen sie auch als Sonder- oder Ausnahmeregelungen bezeichnet werden - beibehielten, aufgrund deren durch eine Maßnahme der Geschäftsführung ohne jeden Beschluß der Hauptversammlung eine Erhöhung des Grundkapitals beschlossen werden kann, die dazu führt, daß die bisherigen Aktionäre gezwungen sind, ihre Einlagen zu erhöhen, oder daß ihnen der Eintritt neuer Aktionäre in die Gesellschaft aufgezwungen wird, so daß sich ihr Anteil an der Entscheidungsgewalt der Gesellschaft verringert.

27 Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht, daß das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten unter allen Umständen daran hindert, von diesen Bestimmungen abzuweichen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat nämlich begrenzte Abweichungen oder Verfahren, die zu solchen Abweichungen führen können, ausdrücklich vorgesehen, um bestimmte lebenswichtige Belange der Mitgliedstaaten zu schützen, die in aussergewöhnlichen Situationen beeinträchtigt werden könnten. Zu nennen sind hier etwa die Artikel 19 Absätze 2 und 3, 40 Absatz 2, 41 Absatz 2 und 43 Absatz 2 der Richtlinie.

28 Insoweit ist festzustellen, daß weder im EWG-Vertrag noch in der Zweiten Richtlinie selbst Abweichungsbestimmungen vorgesehen sind, die es den Mitgliedstaaten erlauben, in Krisensituationen von Artikel 25 Absatz 1 dieser Richtlinie abzuweichen. Im Gegenteil sieht Artikel 17 Absatz 1 der Richtlinie ausdrücklich vor, daß bei schweren Verlusten des gezeichneten Kapitals die Hauptversammlung innerhalb einer durch die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu bestimmenden Frist einberufen werden muß, um zu prüfen, ob die Gesellschaft aufzulösen ist oder andere Maßnahmen zu ergreifen sind. Diese Bestimmung bestätigt somit den in Artikel 25 Absatz 1 aufgestellten Grundsatz und findet auch auf den Fall Anwendung, daß sich die betreffende Gesellschaft in ernstlichen finanziellen Schwierigkeiten befindet.

29 In der mündlichen Verhandlung hat der OÄ noch geltend gemacht, die Zweite Richtlinie sei nicht auf die besonderen Verfahren der Kollektivabwicklung oder der Sanierung von Gesellschaften anwendbar, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen könnten, da ihr Anwendungsbereich auf das normale Funktionieren der Gesellschaft beschränkt sei.

30 Dieser Einwand ist zurückzuweisen. Die Richtlinie soll nämlich sicherstellen, daß insbesondere bei den Vorgängen der Gründung einer Gesellschaft sowie der Erhöhung und der Herabsetzung ihres Kapitals die Rechte der Gesellschafter und Dritter gewahrt werden. Diese Sicherheit ist nur wirksam, wenn sie den Gesellschaftern so lange gewährt wird, wie die Gesellschaft mit ihren eigenen Strukturen fortbesteht. Die Richtlinie steht zwar nicht der Einführung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen und insbesondere von Abwicklungsregelungen entgegen, die die Gesellschaft zum Schutz der Rechte ihrer Gläubiger einer Zwangsverwaltungsregelung unterstellen, sie findet jedoch so lange weiter Anwendung, wie die Aktionäre und die satzungsmässigen Organe der Gesellschaft nicht ihrer Rechte enthoben werden. Das ist mit Sicherheit bei einer blossen Sanierungsregelung mit Beteiligung öffentlicher Einrichtungen oder privatrechtlicher Gesellschaften der Fall, wenn das Recht der Gesellschafter am Kapital und auf Teilhabe an der Entscheidungsgewalt in der Gesellschaft in Frage steht.

31 Daraus folgt, daß Artikel 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie in Ermangelung einer vom Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Abweichung dahin auszulegen ist, daß er es nicht zulässt, daß die Mitgliedstaaten eine mit dem in dieser Vorschrift aufgestellten Grundsatz unvereinbare Regelung beibehalten, selbst wenn diese Regelung nur für aussergewöhnliche Situationen gilt. Würde unabhängig von den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Bestimmungen des EWG-Vertrags und der Zweiten Richtlinie ein allgemeiner Vorbehalt für aussergewöhnliche Situationen anerkannt, so könnte dies zudem die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen (siehe in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Randnr. 26).

32 Zur Frage, ob eine Regelung wie die im Gesetz Nr. 1386/1983 enthaltene unter den Abweichungen zulassenden Artikel 41 Absatz 1 fallen kann, ist zu bemerken, daß diese Bestimmung den ganz bestimmten und begrenzten sozialpolitischen Zweck verfolgt, breite Kreise der Bevölkerung am Aktienbesitz zu beteiligen. Sie ist wie die in den Artikeln 19 Absatz 3 und 23 Absatz 2 der Zweiten Richtlinie vorgesehenen Abweichungen ausschließlich darauf gerichtet, die Beteiligung von Personen am Kapital von Unternehmen objektiv und konkret zu fördern, die, wie die Arbeitnehmer, im allgemeinen nicht über die Mittel verfügen, die notwendig sind, um unter den normalen Bedingungen des Gesellschaftsrechts der Mitgliedstaaten Anteile am Kapital von Unternehmen zu erwerben.

33 Daher kann eine nationale Regelung nur dann unter diese Abweichung fallen, wenn ihre konkrete Anwendung zur Verwirklichung des Ziels von Artikel 41 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie beiträgt.

34 Diese Voraussetzung ist nicht schon dann erfuellt, wenn eine Regelung wie die im Gesetz Nr. 1386/1983 enthaltene als eines der zur Verwirklichung ihres Hauptzwecks verfügbaren Mittel die Möglichkeit vorsieht, daß die mit der Umstrukturierung befasste öffentliche Einrichtung Arbeitnehmern oder Privatpersonen Aktien übertragen kann. Eine solche Möglichkeit ist nämlich nur theoretischer und sekundärer Natur.

35 Wie auch der Generalanwalt in Nummer 5 seiner Schlussanträge festgestellt hat, bezieht sich Artikel 41 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie mit der Erwähnung anderer Kategorien von Personen auf die Beteiligung breiter Kreise der Bevölkerung am Aktienbesitz und nicht auf die Übertragung von Aktien auf Kreditinstitute oder öffentlich-rechtliche Einrichtungen.

36 Daher ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, daß Artikel 25 in Verbindung mit Artikel 41 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die zur Sicherung des Fortbestands und der Fortsetzung des Betriebs von Unternehmen, die wirtschaftlich und gesellschaftlich für das Gemeinwesen besonders wichtig sind und die sich wegen ihrer Überschuldung in einer aussergewöhnlichen Lage befinden, vorsieht, daß durch eine Handlung der Geschäftsführung die Erhöhung des Grundkapitals der Unternehmen beschlossen werden kann, dabei jedoch das Bezugsrecht der bisherigen Aktionäre bei der Ausgabe der neuen Aktien unberührt lässt.

37 In Anbetracht der vorstehend gegebenen Antworten ist eine Beantwortung der dritten Frage und des Teils der ersten Frage, der sich auf die unmittelbare Wirkung des Artikels 42 der Zweiten Richtlinie bezieht, entbehrlich.

Kostenentscheidung:

Kosten

38 Die Kosten der griechischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Symvoulio Epikrateias mit zwei Urteilen vom 25. Mai 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Der einzelne kann sich vor den staatlichen Gerichten den öffentlichen Stellen gegenüber auf Artikel 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, berufen.

2) Artikel 25 ist in Verbindung mit Artikel 41 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die zur Sicherung des Fortbestands und der Fortsetzung des Betriebs von Unternehmen, die wirtschaftlich und gesellschaftlich für das Gemeinwesen besonders wichtig sind und die sich wegen ihrer Überschuldung in einer aussergewöhnlichen Lage befinden, vorsieht, daß durch eine Handlung der Geschäftsführung die Erhöhung des Grundkapitals der Unternehmen beschlossen werden kann, dabei jedoch das Bezugsrecht der bisherigen Aktionäre bei der Ausgabe der neuen Aktien unberührt lässt.

Ende der Entscheidung

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