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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 12.07.1990
Aktenzeichen: C-195/90 R
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 76
EWG-Vertrag Art. 95
EWG-Vertrag Art. 5
EWG-Vertrag Art. 185
EWG-Vertrag Art. 186
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die in Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung geforderte Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung ist danach zu beurteilen, ob eine einstweilige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, daß durch den sofortigen Vollzug der mit der Klage angefochtenen Maßnahme ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

Grundsätzlich ist zwar ein finanzieller Schaden nicht als irreparabel anzusehen, doch kann dies in aussergewöhnlichen Situationen anders sein, in denen ein Ersatz in Geld den Geschädigten nicht wieder in die Lage versetzen kann, in der er sich vor Eintritt des Schadens befand.

2. Die Leistung einer Sicherheit nach Artikel 86 § 2 der Verfahrensordnung im Falle des Erlasses der beantragten einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn die Partei, die die Sicherheit zu leisten hat, Schuldner der Beträge ist, deren Zahlung auf diese Weise gesichert werden soll, und wenn die Gefahr ihrer Zahlungsunfähigkeit besteht. Diese Gefahr besteht nicht, wenn die Gemeinschaft Schuldner dieser Beträge ist.


BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 12. JULI 1990. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. - VORLAEUFIGER RECHTSSCHUTZ - VERKEHR - STRASSENBENUTZUNGSGEBUEHREN FUER SCHWERE LASTFAHRZEUGE. - RECHTSSACHE C-195/90 R.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 23. Juni 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland durch die Verabschiedung des Gesetzes über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 ( im folgenden : Gesetz vom 30. April 1990 ) gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 76, 95 und 5 EWG-Vertrag verstossen hat.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gemäß Artikel 186 EWG-Vertrag beantragt, die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Vollzug des Gesetzes vom 30. April 1990 auszusetzen, bis der Gerichtshof in der Hauptsache entschieden hat.

3 Mit Beschluß vom 28. Juni 1990 hat der Präsident auf den Antrag der Kommission, noch vor Eingang der Stellungnahme der Beklagten eine einstweilige Anordnung zu erlassen, gemäß Artikel 84 § 2 der Verfahrensordnung folgendes angeordnet :

"1 ) Die Bundesrepublik Deutschland setzt die Erhebung der im Strassenbenutzungsgebührengesetz vom 30. April 1990 vorgesehenen Strassenbenutzungsgebühr für die in den anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeuge vorsorglich bis zur Verkündung des Beschlusses aus, durch den das vorliegende Verfahren der einstweiligen Anordnung abgeschlossen wird.

2 ) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten."

4 Mit Entscheidung vom 27. Juni 1990, die am 29. Juni 1990 wirksam geworden ist, hat der Präsident des Gerichtshofes gemäß Artikel 85 Absatz 1 der Verfahrensordnung die das Verfahren der einstweiligen Anordnung abschließende Entscheidung dem Gerichtshof übertragen.

5 Mit Beschlüssen vom 4. Juli 1990 sind das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg und das Königreich der Niederlande im Verfahren der einstweiligen Anordnung als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

6 Das Königreich Belgien, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande haben zur Stützung ihres Antrags auf Zulassung als Streithelfer schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Bundesrepublik Deutschland hat am 29. Juni 1990 eine schriftliche Stellungnahme vorgelegt. Die Kommission, Antragstellerin, das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande, Streithelfer, sowie die Bundesrepublik Deutschland, Antragsgegnerin, haben in der Sitzung des Gerichtshofes vom 6. Juli 1990 mündliche Stellungnahmen abgegeben.

7 Mit Artikel 1 des Gesetzes vom 30. April 1990 wird, vorbehaltlich bestimmter Befreiungen, eine Gebühr für die Benutzung von Bundesautobahnen und Bundesstrassen ausserhalb geschlossener Ortschaften mit Lastfahrzeugen eingeführt, deren zulässiges oder tatsächliches Gesamtgewicht 18 t übersteigt.

8 Die Gebühr für ein Jahr beträgt je nach zulässigem Gesamtgewicht des Fahrzeugs 1 000 bis 9 000 DM. Die Gebühr kann, nach bestimmten Modalitäten, für einen nach Tagen ( 24 Stunden ), Wochen oder Monaten bestimmbaren Zeitraum entrichtet werden.

9 Über die Entrichtung der Gebühr wird eine Bescheinigung ausgegeben, die im Fahrzeug mitzuführen ist. Die erforderlichen Kontrollen werden unter anderem von der Polizei und den Zolldienststellen durchgeführt; Kontrollen an den Grenzen zu Mitgliedstaaten dürfen jedoch nur stichprobenweise aus Anlaß anderer Kontrollen durchgeführt werden.

10 Mit Artikel 2 des Gesetzes vom 30. April 1990 wird ferner das Kraftfahrzeugsteuergesetz geändert, und es werden mit Wirkung bis Ende 1993 ermässigte Kraftfahrzeugsteuersätze nach Maßgabe des Gesamtgewichts des Fahrzeugs, insgesamt jedoch nicht mehr als 3 500 DM jährlich, eingeführt.

11 Artikel 5 des Gesetzes vom 30. April 1990 sieht vor, daß das Gesetz am 1. Juli 1990 in Kraft und mit Ablauf des Jahres 1993 ausser Kraft tritt.

12 Wie sich weiter aus den Akten ergibt, war der Entwurf des Gesetzes vom 30. April 1990 der Kommission am 21. März 1989 gemäß der Entscheidung des Rates vom 21. März 1962 über die Einführung eines Verfahrens zur vorherigen Prüfung und Beratung künftiger Rechts - und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Verkehrs ( ABl. Nr. 23, S. 720 ) zur Konsultation übermittelt worden.

13 Die Kommission führte in ihrer gemäß dieser Entscheidung abgegebenen Stellungnahme vom 15. Juni 1989 aus, daß die geplante Senkung der Kraftfahrzeugsteuer nur den deutschen Verkehrsunternehmen zugute komme, da die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten aufgrund zweiseitiger Abkommen von dieser Steuer befreit seien, und daß diese Senkung praktisch dem Betrag der geplanten Strassenbenutzungsgebühr entspreche. Die Einführung dieser Gebühr belaste somit nicht die deutschen Verkehrsunternehmen, sondern ausschließlich die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten, die diese Gebühr entrichten müssten, ohne in den Genuß der Senkung der Kraftfahrzeugsteuer kommen zu können.

14 Die Kommission vertrat in dieser Stellungnahme die Auffassung, daß die von der Bundesrepublik Deutschland geplanten Bestimmungen gegen die Stillhalteverpflichtung aus Artikel 76 EWG-Vertrag verstießen, wonach ein Mitgliedstaat bis zur Einführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik gemäß Artikel 75 Absatz 1 EWG-Vertrag die verschiedenen, bei Inkrafttreten des EWG-Vertrages auf diesem Gebiet geltenden Vorschriften in ihren unmittelbaren oder mittelbaren Auswirkungen auf die Verkehrsunternehmer anderer Mitgliedstaaten im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmern nicht ungünstiger gestalten darf, es sei denn, daß der Rat einstimmig etwas anderes billigt. Nach dieser Stellungnahme verstossen die geplanten Bestimmungen unter anderem auch gegen Artikel 95 EWG-Vertrag.

15 Das Gesetz kam am 6. April 1990 zustande. Am 11. April 1990 richtete die Kommission eine Aufforderung zur Äusserung an die deutschen Stellen, der sie am 1. Juni 1990 die mit Gründen versehene Stellungnahme gemäß Artikel 169 Absatz 1 EWG-Vertrag folgen ließ.

16 In ihren Antwortschreiben vom 30. April und 22. Juni 1990 auf die Aufforderung zur Äusserung und auf die mit Gründen versehene Stellungnahme führten die deutschen Stellen aus, Ziel des Gesetzes sei es, zum einen die Wettbewerbsbedingungen zwischen den deutschen Verkehrsunternehmern und denen der anderen Mitgliedstaaten anzugleichen und zum anderen einen angemessenen Beitrag zu den Wegekosten einzuführen. Artikel 76 EWG-Vertrag enthalte für eine derartige Situation keine Stillhalteverpflichtung, sondern sei eine Spezialbestimmung zum Diskriminierungsverbot. Weder die neue Strassenbenutzungsgebühr noch die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer seien als solche diskriminierend.

17 Die Bundesrepublik Deutschland betonte in diesen Antwortschreiben, daß die Strassenbenutzungsgebühr im Einklang mit den Orientierungen stehe, die die Kommission selbst in ihrem Vorschlag vom 8. Januar 1988 für eine Richtlinie des Rates zur Anlastung der Wegekosten an schwere Nutzfahrzeuge vorgeschlagen habe, und daß das Gesetz vom 30. April 1990 eine begrenzte Geltungsdauer habe und Ende 1993 ausser Kraft trete, da man hoffe, daß in der Zwischenzeit ein harmonisiertes Steuersystem geschaffen worden sei.

18 Gemäß Artikel 185 EWG-Vertrag haben Klagen bei dem Gerichtshof keine aufschiebende Wirkung. Der Gerichtshof kann jedoch nach Artikel 186 EWG-Vertrag in den bei ihm anhängigen Sachen die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

19 Gemäß Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung setzt der Erlaß einer einstweiligen Anordnung voraus, daß Umstände vorliegen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen.

20 Was die Glaubhaftmachung der Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht angeht, rügt die Kommission, unterstützt durch die auf ihrer Seite als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten, erstens eine Verletzung von Artikel 76 EWG-Vertrag, zweitens eine Verletzung von Artikel 95 EWG-Vertrag und drittens eine Verletzung von Artikel 5 in Verbindung mit Artikel 8a EWG-Vertrag.

21 Die Kommission wirft der Bundesrepublik Deutschland vor, Artikel 76 EWG-Vertrag dadurch verletzt zu haben, daß sie Maßnahmen erlassen habe, die die Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten diskriminierten, und daß sie die in diesem Artikel enthaltene Stillhalteklausel nicht beachtet habe.

22 Nach Ansicht der Kommission verstösst das deutsche Gesetz auch gegen Artikel 95 EWG-Vertrag, weil die Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten eine höhere Abgabenlast zu tragen hätten als die deutschen Verkehrsunternehmer; diese Abgabenlast werde zu einem Anstieg der Beförderungspreise führen und sich unweigerlich in den Preisen der beförderten Waren niederschlagen.

23 Die Kommission macht ferner geltend, die Bundesrepublik Deutschland habe gegen Artikel 5 EWG-Vertrag verstossen, der sie verpflichte, einseitige Maßnahmen zu unterlassen, die die gemeinsame Politik im Bereich der Anlastung der Wegekosten an schwere Nutzfahrzeuge in Gefahr brächten, und habe damit Hindernisse für die Verwirklichung eines Raums ohne Binnengrenzen, wie ihn Artikel 8a EWG-Vertrag vorsehe, geschaffen.

24 Die Bundesrepublik Deutschland weist den Vorwurf der Verletzung von Artikel 76 EWG-Vertrag zurück und macht geltend, die Strassenbenutzungsgebühr für schwere Lastfahrzeuge sei, auch wenn sie mit einer Senkung der Kraftfahrzeugsteuer einhergehe, nicht diskriminierend. Mit dem Gesetz vom 30. April 1990 würden zwei Ziele verfolgt, zum einen die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen den deutschen Verkehrsunternehmern und denen der anderen Mitgliedstaaten und zum anderen die Einführung eines angemessenen Beitrags zu den Wegekosten, wodurch sowohl das Strassennetz entlastet als auch die Umwelt geschützt werden solle. Zu dem ersten Ziel führt die Bundesrepublik Deutschland aus, der Umstand, daß den Verkehrsunternehmern der anderen Mitgliedstaaten die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer nicht zugute komme, sei darauf zurückzuführen, daß sie aufgrund von Abkommen zwischen den Staaten, in denen sie niedergelassen seien, und der Bundesrepublik Deutschland von dieser Steuer befreit seien. Unter diesen Umständen laufe das Gesetz vom 30. April 1990 nicht der Stillhalteverpflichtung in Artikel 76 EWG-Vertrag zuwider.

25 Gegenüber der Rüge der Verletzung von Artikel 95 EWG-Vertrag hebt die Bundesrepublik Deutschland den nichtdiskriminierenden Charakter der Gebühr hervor und macht geltend, es handele sich um eine indirekte Steuer im Sinne von Artikel 99 EWG-Vertrag, die nach den allgemeinen Vorschriften des Vertrages zu harmonisieren sei.

26 Nach Ansicht der Bundesrepublik Deutschland enthält Artikel 5 EWG-Vertrag keine allgemeine Stillhalteklausel; solange die gemeinsame Verkehrspolitik nicht gemäß den Artikeln 74 und 75 EWG-Vertrag verwirklicht sei, blieben im Bereich des Verkehrs grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig.

27 Zu der ersten von der Kommission erhobenen Rüge ist festzustellen, daß die Kommission gewichtige Gesichtspunkte zur Stützung ihrer Ansicht angeführt hat, Artikel 76 EWG-Vertrag sei dahin auszulegen, daß er jede einseitige nationale Maßnahme verbiete, die unmittelbar oder mittelbar zum Nachteil der anderen Mitgliedstaaten eine Veränderung der Bedingungen bewirke, unter denen derzeit der internationale Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder der Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten abgewickelt werde.

28 In dieser Weise kann sich auch eine von einem Mitgliedstaat eingeführte neue Strassenbenutzungsgebühr für schwere Lastfahrzeuge auswirken, wenn die Belastung für die inländischen Verkehrsunternehmer in erheblichem Masse durch eine Senkung der Kraftfahrzeugsteuer kompensiert wird, der die Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten aufgrund von zweiseitigen Abkommen zwischen dem Staat, in dem sie niedergelassen sind, und dem Staat, der die Gebühr eingeführt hat, nicht unterliegen.

29 Zu dem Argument der Bundesregierung, das Gesetz vom 30. April 1990 fördere die Verlagerung des Strassenverkehrs auf die Verkehrsträger Eisenbahn und Binnenschiffe, ist festzustellen, daß der Umweltschutz zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft darstellt ( siehe Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 302/86, Kommission/Dänemark, Slg. 1988, 4607 ), dessen Bedeutung zudem durch die Einheitliche Europäische Akte bekräftigt worden ist, daß daraus jedoch nicht folgt, daß sich ein Mitgliedstaat unter Berufung auf dieses Ziel seinen Verpflichtungen aus Artikel 76 EWG-Vertrag entziehen kann. Wie sich im übrigen aus einer Prüfung der Begründung des Gesetzes vom 30. April 1990 und den Äusserungen der deutschen Stellen im Laufe des Verfahrens ergibt, dient dieses Gesetz in erster Linie der Angleichung der Wettbewerbsbedingungen für die deutschen Verkehrsunternehmer, während die Entlastung des Strassennetzes und auch der Umweltschutz nur nachgeordnete Ziele sind.

30 Ohne daß in diesem Stadium die übrigen Rügen zu prüfen wären, ist festzustellen, daß die Rüge einer Verletzung von Artikel 76 EWG-Vertrag auf den ersten Blick eine ausreichende Grundlage für den Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung bildet.

31 Was die Voraussetzung der Dringlichkeit angeht, ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes die in Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung geforderte Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung danach zu beurteilen ist, ob eine einstweilige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, daß durch den sofortigen Vollzug der mit der Klage angefochtenen Maßnahme ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

32 Hierzu macht die Kommission, unterstützt durch die auf ihrer Seite als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten, zunächst geltend, die Erhebung der streitigen Gebühr drohe zumindest bestimmten Verkehrsunternehmern der anderen Mitgliedstaaten einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zuzufügen. Der Schaden dieser Verkehrsunternehmer bestehe in einem Anstieg der Beförderungskosten, der sie zwingen könne, ihre Tarife zu erhöhen, womit sie Gefahr liefen, Kunden zu verlieren, oder aber ihre Gewinnspanne zu senken, womit sie Gefahr liefen, ihre Tätigkeit einstellen zu müssen. Allgemein macht die Kommission geltend, die einseitige Einführung der Strassenbenutzungsgebühr durch die Bundesrepublik Deutschland stelle eine nicht hinnehmbare Störung des Ordre public der Gemeinschaft dar. Es bestehe die Gefahr, daß die Einführung dieser Gebühr zu Vergeltungsmaßnahmen seitens der anderen Mitgliedstaaten führe und damit jeden Fortschritt hin zu einer gemeinsamen Verkehrspolitik illusorisch mache.

33 Die Bundesrepublik Deutschland bestreitet den Eintritt eines nicht wiedergutzumachenden Schadens für den Ordre public der Gemeinschaft, wie ihn die Kommission geltend macht, und für die Unternehmer auf dem Verkehrsmarkt.

34 Die deutsche Gebühr sei wettbewerbsneutral, sie nähere das deutsche Abgabensystem den in den meisten Mitgliedstaaten bestehenden Abgabensystemen an, und sie verfolge das Ziel der Einführung einer auf dem Territorialitätsgrundsatz beruhenden Verkehrspolitik. Unter diesen Umständen könne keine Rede davon sein, daß sie die Verwirklichung der gemeinsamen Verkehrspolitik gefährde.

35 Angesichts ihrer geringen Auswirkung auf die Beförderungskosten könne die neue Gebühr auch nicht die Wettbewerbsposition der Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Die Gefahren einer Verschlechterung der Wettbewerbssituation seien im Gegenteil grösser für die deutschen Verkehrsunternehmer, die höhere Abgabenlasten zu tragen hätten als die Unternehmer der anderen Mitgliedstaaten.

36 Die Bundesrepublik Deutschland macht ferner geltend, daß im Rahmen der Interessenabwägung den Erfordernissen des Umweltschutzes und der Entlastung des deutschen Strassennetzes Vorrang einzuräumen sei.

37 Jedenfalls lasse sich selbst dann, wenn der Gerichtshof der Klage stattgeben und feststellen sollte, daß die Bundesrepublik Deutschland mit der Einführung der streitigen Gebühr gegen ihre gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verstossen habe, der den Transportunternehmen der anderen Mitgliedstaaten möglicherweise entstandene Schaden wiedergutmachen. Dagegen sei der Schaden, der der Bundesrepublik Deutschland aus einer Aussetzung des Vollzugs des Gesetzes vom 30. April 1990 entstehen würde, nicht wiedergutzumachen.

38 Grundsätzlich ist zwar ein finanzieller Schaden nicht als irreparabel anzusehen, doch kann dies in aussergewöhnlichen Situationen anders sein, in denen ein Ersatz in Geld den Geschädigten nicht wieder in die Lage versetzen kann, in der er sich vor Eintritt des Schadens befand.

39 Es ist nicht ausgeschlossen, daß es sich in der vorliegenden Rechtssache so verhält. Angesichts der häufig sehr geringen Gewinnspannen zahlreicher Verkehrsunternehmen mittlerer Grösse, auf die in der Sitzung hingewiesen worden ist, besteht die Gefahr, daß die Wirkung der streitigen Gebühr auf die Rentabilitätsschwelle der Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten viele von ihnen zur Einstellung ihrer Tätigkeit zwingen könnte. Zudem kann die Erhebung der streitigen Gebühr unumkehrbare Veränderungen im Bereich der Verteilung der Marktanteile zwischen den deutschen Verkehrsunternehmern und denen der anderen Mitgliedstaaten nach sich ziehen. Eine solche, durch eine einseitige nationale Maßnahme hervorgerufene plötzliche und wesentliche Veränderung der gegenwärtig auf dem Güterkraftverkehrsmarkt der Gemeinschaft herrschenden Bedingungen, die später nicht voll wiederhergestellt werden könnten, falls sich die streitige Maßnahme als vertragswidrig erweisen sollte, würde auch die Entwicklung und Vollendung der durch Artikel 74 EWG-Vertrag gebotenen gemeinsamen Verkehrspolitik erschweren.

40 Daher ist festzustellen, daß die Kommission, unterstützt durch die Streithelfer, nachgewiesen hat, daß die Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens besteht.

41 Die Bundesrepublik Deutschland macht ihrerseits geltend, der Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung füge ihr nicht wiedergutzumachende Schäden zu, die im Ausfall der Gebühreneinnahmen während des Verfahrens zur Hauptsache und in der Gefährdung des wirtschaftlichen Überlebens der deutschen Verkehrsunternehmer bestuenden.

42 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß die von der Bundesrepublik Deutschland behaupteten Schäden nur die nachteiligen Auswirkungen einer Lage wären, die vor der Einführung der neuen Gebühr bestand. Es ist auch nicht dargetan worden, daß die getroffenen Maßnahmen durch eine bedeutsame Entwicklung der tatsächlichen Lage geboten gewesen wären, die das Ausmaß der bestehenden Schäden erheblich hätte erhöhen und eine Änderung der Haltung der deutschen Stellen hätte rechtfertigen können. Schließlich ist es unwahrscheinlich, daß die Gefahr besteht, daß sich die behaupteten Schäden in der Zeit bis zum Erlaß der Entscheidung zur Hauptsache erheblich verschlimmern werden.

43 Was namentlich den Schaden angeht, der im Ausfall der nachträglich nicht mehr einzutreibenden Gebühren bestehen soll, genügt die Feststellung, daß es diese Gebühr in der Vergangenheit noch nie gegeben hat und daß daher ausgeschlossen werden kann, daß der behauptete Einnahmeausfall die öffentlichen Finanzen der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig beeinträchtigt.

44 Was die Gefährdung des wirtschaftlichen Überlebens der deutschen Verkehrsunternehmer infolge einer Verschlechterung ihrer Wettbewerbssituation angeht, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, daß sich eine solche Gefahr angesichts des Umstands, daß sich die Lage auf dem Markt gegenüber den dort über einen längeren Zeitraum herrschenden Bedingungen nicht wesentlich verändert hat, in den kommenden Monaten verwirklichen könnte.

45 Was das von der Bundesregierung angeführte spezifische Argument einer Beeinträchtigung der Umwelt angeht, ist darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung nicht mit hinreichender Sicherheit dargetan hat, daß die Erhebung der streitigen Gebühr bei den Verkehrsunternehmern der anderen Mitgliedstaaten tatsächlich eher zu Verlagerungen des Strassenverkehrs auf die Verkehrsträger Eisenbahn und Binnenschiffe als vielmehr zu Verlagerungen von Marktanteilen der Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten auf die deutschen Verkehrsunternehmer führen würde.

46 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die Voraussetzung der Dringlichkeit erfuellt ist.

47 Demgemäß ist vorsorglich anzuordnen, daß die Bundesrepublik Deutschland die Erhebung der im Gesetz über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 vorgesehenen Strassenbenutzungsgebühr für die in den anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeuge bis zum Erlaß des Urteils aussetzt, mit dem über die Klage der Kommission entschieden wird.

48 Die Bundesrepublik Deutschland hat beantragt, die Kommission im Falle des Erlasses der beantragten einstweiligen Anordnung zu verpflichten, eine Sicherheit in Höhe von 500 Millionen DM zu leisten, um die Zahlung der Gebühren zu sichern, die die Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten während des Verfahrens zu entrichten hätten und die die Bundesregierung selbst im Falle des Obsiegens nachträglich nicht mehr einbringen könnte. Hierzu ist festzustellen, daß die Leistung einer Sicherheit gemäß Artikel 86 § 2 der Verfahrensordnung nur in Betracht kommt, wenn die Partei, die die Sicherheit zu leisten hat, Schuldner der Beträge ist, deren Zahlung auf diese Weise gesichert werden soll, und wenn die Gefahr ihrer Zahlungsunfähigkeit besteht.

49 Diese Voraussetzungen sind jedoch in der vorliegenden Rechtssache nicht gegeben, da jedenfalls nicht zu gewärtigen ist, daß die Gemeinschaft nicht in der Lage wäre, die Folgen einer eventuellen Verurteilung zur Leistung von Schadensersatz zu tragen.

50 Folglich ist der Erlaß der einstweiligen Anordnung nicht davon abhängig zu machen, daß die Kommission eine Sicherheit in Höhe von 500 Millionen DM leistet.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen :

1 ) Die Bundesrepublik Deutschland setzt die Erhebung der im Gesetz über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 vorgesehenen Strassenbenutzungsgebühr für die in den anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeuge bis zum Erlaß des Urteils zur Hauptsache aus.

2 ) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 12. Juli 1990.

Ende der Entscheidung

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