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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.10.1990
Aktenzeichen: C-196/89
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 30
EWG-Vertrag Art. 36
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, daß sie es einem Mitgliedstaat verwehren, eine nationale Regelung, wonach - vorbehaltlich besonderer Bestimmungen, die für Käse gelten können, der einen besonderen Schutz, etwa im Zusammenhang mit einer Ursprungsbezeichnung oder einer Herkunftsangabe, genießt - Käse einen bestimmten Mindestfettgehalt aufweisen muß, auf aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Käse im allgemeinen anzuwenden, wenn dieser Käse dort rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurde und eine angemessene Unterrichtung der Verbraucher gewährleistet ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 11. OKTOBER 1990. - STRAFVERFAHREN GEGEN ENZO NESPOLI UND GIUSEPPE CRIPPA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA DI MILANO - ITALIEN. - FREIER WARENVERKEHR - NATIONALE REGELUNG FUER KAESE. - RECHTSSACHE C-196/89.

Entscheidungsgründe:

1 Der Pretore von Mailand hat mit Beschluß vom 9. Juni 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Enzo Nespoli und Giuseppe Crippa wegen Verstosses gegen die italienischen Rechtsvorschriften betreffend Käse.

3 Aus den Angaben im Vorlagebeschluß geht hervor, daß diese Rechtsvorschriften die Herstellung, die Einfuhr und das Inverkehrbringen von Käse verbieten, dessen Fettgehalt unterhalb einer in diesen Vorschriften festgelegten Mindestgrenze liegt. Dieser Mindestfettgehalt, der je nach den einzelnen Käsesorten unterschiedlich ist, beträgt für Käse des Typs Schweizer Käse wie Emmentaler 45 %.

4 Dem Angeklagten Nespoli wird vorgeworfen, Käse nach Italien eingeführt und dort in den Verkehr gebracht zu haben; dem Angeklagten Crippa wird zur Last gelegt, in einem Supermarkt in Mailand Käse zum Kauf angeboten zu haben, der in Frankreich hergestellt wurde und die Bezeichnung "Predor Light" trägt. Nach den Feststellungen des Vorlagebeschlusses handelt es sich bei "Predor Light" um einen Käse der Sorte Emmentaler, dessen Fettgehalt in der Trockenmasse 30 % beträgt. Er wird in seiner Originalverpackung verkauft, die die französische Bezeichnung "fromage demi-gras" ( Halbfettkäse ) trägt und auf die ein Etikett mit der italienischen Angabe "prodotto caseario" ( Käseerzeugnis ) aufgeklebt worden ist.

5 Der Pretore von Mailand, bei dem das Strafverfahren anhängig ist, hält es für zweifelhaft, ob die italienischen Rechtsvorschriften mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag vereinbar sind; diese Rechtsvorschriften, die auf gewöhnlichen Käse angewandt würden, stellten offensichtlich eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie nach Artikel 30 verbotene mengenmässige Beschränkungen dar und könnten weder mit zwingenden Erfordernissen des Verbraucherschutzes oder der Lauterkeit des Handelsverkehrs noch mit der Notwendigkeit, den Schutz der Gesundheit zu gewährleisten, gerechtfertigt werden.

6 Unter diesen Umständen hat der Pretore von Mailand das Verfahren ausgesetzt, bis der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über folgende Frage entschieden hat :

"Ist die italienische Regelung betreffend Käse, die nicht den Schutz typischer Erzeugnisse oder solcher mit bestimmter Herkunft zum Gegenstand hat, insoweit mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag nicht mehr vereinbar und daher rechtswidrig, als sie für gewöhnlichen Käse einen zudem hohen Mindestfettgehalt in der Trockenmasse festlegt, falls festgestellt wird, daß sie den freien innergemeinschaftlichen Verkehr mit diesem Nahrungsmittel behindert, ohne aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder aus zwingenden Erfordernissen des Verbraucherschutzes oder der Lauterkeit des Handelsverkehrs gerechtfertigt zu sein?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Vorab ist festzustellen, daß es im Rahmen des Artikels 177 EWG-Vertrag nicht Sache des Gerichtshofes ist, über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Vertrag zu entscheiden; er ist jedoch dafür zuständig, dem nationalen Gericht alle Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand zu geben, die es diesem ermöglichen können, für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits über diese Vereinbarkeit zu befinden.

9 Es ist auch darauf hinzuweisen, daß das nationale Gericht erläutert hat, daß die Vorlagefrage nur "gewöhnlichen Käse" und nicht "typische Erzeugnisse oder solche mit bestimmter Herkunft" betrifft.

10 Deshalb ist die Vorabentscheidungsfrage so zu verstehen, daß mit ihr Auskunft darüber begehrt wird, ob die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß sie es einem Mitgliedstaat verwehrten, auf aus einem Mitgliedstaat eingeführten Käse im allgemeinen eine nationale Regelung anzuwenden, wonach - vorbehaltlich besonderer Bestimmungen, die für Käse gelten können, der einen besonderen Schutz, etwa im Zusammenhang mit einer Herkunftsbezeichnung oder -angabe, genießt - Käse einen bestimmten Mindestfettgehalt aufweisen muß.

11 Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts gibt es keine gemeinsamen oder harmonisierten Vorschriften über die Herstellung und das Inverkehrbringen von Käse. Es ist deshalb Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, jeweils in ihrem Hoheitsgebiet die Voraussetzungen der Herstellung und des Inverkehrbringens dieses Erzeugnisses zu regeln.

12 Die Mitgliedstaaten können jedoch von dieser Befugnis nur in den Grenzen Gebrauch machen, die ihnen insbesondere durch die Vorschriften des Vertrages über den freien Warenverkehr gezogen sind.

13 Hierzu ist festzustellen, daß die nationalen Rechtsvorschriften über das Inverkehrbringen von Erzeugnissen wegen ihrer Unterschiedlichkeit ein Hemmnis für den innergemeinschaftlichen Handel darstellen können, wenn sie auf Erzeugnisse angewandt werden, die aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt werden, wo sie rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind.

14 Derartige Rechtsvorschriften stehen nur dann in Einklang mit dem Vertrag, wenn sie entweder im Rahmen von Artikel 30 unterschiedslos für inländische und eingeführte Erzeugnisse gelten und dazu bestimmt sind, zwingenden Erfordernissen insbesondere in bezug auf den Verbraucherschutz oder die Lauterkeit des Handelsverkehrs zu genügen, oder wenn sie aus einem der in Artikel 36 EWG-Vertrag aufgezählten Gründe des Allgemeininteresses wie dem des Schutzes der Gesundheit gerechtfertigt sind.

15 Ferner sind diese Rechtsvorschriften nur vertragskonform, wenn sie erforderlich sind, um den angestrebten Zweck zu erreichen; dieser Zweck darf nicht durch Maßnahmen erreichbar sein, die den innergemeinschaftlichen Handel weniger beschränken.

16 Im Lichte des Vorstehenden ist festzustellen, daß eine nationale Regelung wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene ein Handelshemmnis darstellt, da sie die Einfuhr von Käse mit einem niedrigeren als dem vorgeschriebenen Fettgehalt aus Mitgliedstaaten, wo er rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist, verbietet.

17 Eine derartige Regelung kann für die Anwendung des Artikels 30 nicht als durch zwingende Erfordernisse des Verbraucherschutzes oder der Lauterkeit des Handelsverkehrs gerechtfertigt angesehen werden.

18 Die italienische Regierung macht hierzu geltend, daß die berechtigte Erwartung der Verbraucher nicht erfuellt würde, wenn ihnen als Käse Erzeugnisse angeboten würden, die wegen der Unterschiedlichkeit der einschlägigen nationalen Regelungen sehr unterschiedliche Merkmale aufwiesen.

19 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Zur Vermeidung des von der italienischen Regierung aufgezeigten Nachteils genügt es, daß die nationalen Stellen eine angemessene Etikettierung vorschreiben, die eine zutreffende Unterrichtung über den tatsächlichen Fettgehalt des Käses sicherstellt und es den Verbrauchern erlaubt, ihre Wahl in Kenntnis aller Umstände zu treffen.

20 Schließlich kann für eine nationale Maßnahme der fraglichen Art die vom vorlegenden Gericht angeführte, in Artikel 36 vorgesehene Ausnahme aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht in Betracht kommen.

21 Es lässt sich nämlich nicht die Ansicht vertreten, daß die Gesundheit durch den Verzehr von Käse mit niedrigerem Fettgehalt gefährdet würde.

22 Deshalb ist auf die Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß sie es einem Mitgliedstaat verwehren, eine nationale Regelung, wonach - vorbehaltlich besonderer Bestimmungen, die für Käse gelten können, der einen besonderen Schutz, etwa im Zusammenhang mit einer Ursprungsbezeichnung oder einer Herkunftsangabe, genießt - Käse einen bestimmten Mindestfettgehalt aufweisen muß, auf aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Käse im allgemeinen anzuwenden, wenn dieser Käse dort rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurde und eine angemessene Unterrichtung der Verbraucher gewährleistet ist.

23 Was den Antrag der Associazione italiana lattiero-casearia, der Streithelferin des Ausgangsverfahrens, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, auf Auslegung von Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag ausgeht, genügt die Feststellung, daß das vorlegende Gericht insoweit keine Frage gestellt hat; diese Bestimmung ist deshalb nicht auszulegen.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Die Auslagen der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Italienischen Republik und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Pretore von Mailand mit Beschluß vom 9. Juni 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, daß sie es einem Mitgliedstaat verwehren, eine nationale Regelung, wonach - vorbehaltlich besonderer Bestimmungen, die für Käse gelten können, der einen besonderen Schutz, etwa im Zusammenhang mit einer Ursprungsbezeichnung oder einer Herkunftsangabe, genießt - Käse einen bestimmten Mindestfettgehalt aufweisen muß, auf aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Käse im allgemeinen anzuwenden, wenn dieser Käse dort rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurde und eine angemessene Unterrichtung der Verbraucher gewährleistet ist.

Ende der Entscheidung

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