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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.12.1992
Aktenzeichen: C-206/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 7
EWG-Vertrag Art. 48 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 7 und 48 Absatz 2 EWG-Vertrag sowie die zu ihrer Durchführung erlassenen Verordnungen sind nur auf Sachverhalte anwendbar, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, hier in den der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, fallen; damit sind Sachverhalte, deren Elemente sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, ausgeschlossen. Daher kann sich ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers mit der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats nicht auf das Gemeinschaftsrecht berufen, um auf eine den Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen gewährte Vergünstigung der sozialen Sicherheit Anspruch zu erheben, wenn der Arbeitnehmer, zu dessen Familie er gehört, von dem Recht auf Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft nie Gebrauch gemacht hat.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 16. DEZEMBER 1992. - ETTIEN KOUA POIRREZ GEGEN CAISSE D'ALLOCATIONS FAMILIALES DE LA REGION PARISIENNE, ERSETZT DUERCH DIE CAISSE D'ALLOCATIONS FAMILIALES DE LA SEINE-SAINT-DENIS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DES AFFAIRES DE SECURITE SOCIALE DE BOBIGNY - FRANKREICH. - SOZIALE SICHERHEIT - LEISTUNGEN FUER BEHINDERTE - FREIZUEGIGKEIT DER ARBEITNEHMER - SOZIALE VERGUENSTIGUNG - AUF DAS GEBIET EINES MITGLIEDSTAATS BESCHRAENKTER SACHVERHALT. - RECHTSSACHE C-206/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal des affaires de sécurité sociale Bobigny hat mit Beschluß vom 12. Juni 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 1. August 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 7 und 48 Absatz 2 EWG-Vertrag, der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) und der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben (ABl. L 142, S. 24), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Ettien Koua Poirrez (nachstehend: Kläger) und der Caisse d' allocations familiales de la région parisienne, an deren Stelle die Caisse d' allocations familiales de la Seine-Saint-Denis getreten ist (nachstehend: Beklagte), über die Gewährung einer in den französischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistung für Behinderte.

3 Der Kläger ist Staatsangehöriger der Côte d' Ivoire: Er ist 1987 von Bernard Poirrez adoptiert worden. Sein Adoptivvater ist ein französischer Staatsangehöriger, der in Frankreich arbeitet und wohnt. Der Kläger hat jedoch dadurch nicht die französische Staatsangehörigkeit erworben.

4 Der Kläger beantragte die in Artikel L. 821-1 des französischen Code de la sécurité sociale vorgesehene Beihilfe für behinderte Erwachsene. Nach dieser Vorschrift kann die Beihilfe für behinderte Erwachsene einer Person gewährt werden, "die die französische oder die Staatsangehörigkeit eines Landes besitzt, das auf dem Gebiet der Gewährung von Beihilfen für behinderte Erwachsene ein Gegenseitigkeitsabkommen geschlossen hat". Der von der Beklagten herausgegebene Guide de l' allocataire (Ratgeber für Beihilfeempfänger) enthält jedoch den Hinweis, daß die Beihilfe für behinderte Erwachsene unter denselben Voraussetzungen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sowie deren Ehegatten und Unterhaltsberechtigten in auf- oder absteigender Linie gewährt werden kann.

5 Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers ab, weil die Côte d' Ivoire auf dem Gebiet der Beihilfen für behinderte Erwachsene kein Gegenseitigkeitsabkommen unterzeichnet habe. Der Rechtsbehelf des Klägers gegen diese Entscheidung wurde von der Schiedsstelle der Caisse d' allocations familiales de la région parisienne zurückgewiesen.

6 Der Kläger erhob gegen diese zurückweisende Entscheidung Klage beim Tribunal des affaires de sécurité sociale Bobigny. Er machte vor diesem Gericht geltend, daß er als Adoptivsohn von Bernard Poirrez als Abkömmling eines Angehörigen eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft anzusehen sei. Er habe als solcher gemäß dem erwähnten Ratgeber für Beihilfeempfänger Anspruch auf die Beihilfe für behinderte Erwachsene.

7 Die Beklagte macht geltend, daß sich der Ratgeber für Beihilfeempfänger auf die Verordnungen Nr. 1612/68 und Nr. 1251/70 beziehe. Nach diesen beiden Verordnungen hätten nur Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats seien, Anspruch auf die fragliche Beihilfe.

8 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, daß die von der Beklagten vorgeschlagene Auslegung zu einer umgekehrten Diskriminierung führe: der Kläger habe keinen Anspruch auf die fragliche Beihilfe, weil sein Adoptivvater französischer Staatsangehöriger sei und in Frankreich arbeite und wohne; dagegen hätte er Anspruch auf die Beihilfe für behinderte Erwachsene, wenn sein Adoptivvater in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaften als Frankreich arbeiten würde oder wenn er Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats als Frankreich wäre und in Frankreich arbeiten würde. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Steht es im Einklang mit den Artikeln 7 und 48 Absatz 2 EWG-Vertrag, daß ein Familienangehöriger eines Staatsangehörigen der EWG (im vorliegenden Fall ein adoptierter Verwandter in absteigender Linie), der in dem Land wohnt, dessen Staatsangehörigkeit das Familienoberhaupt hat, mit der Begründung von der Gewährung der Beihilfe für behinderte Erwachsene ausgeschlossen wird, daß die Verordnungen Nr. 1612/68 und Nr. 1251/70 nur für Wanderarbeitnehmer gälten, deren Familienoberhaupt nicht diese Rechtstellung habe?

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der anwendbaren Rechtsvorschriften, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

10 Wie sich aus einer ständigen Rechtsprechung ergibt, sind die Artikel 7 und 48 EWG-Vertrag nur auf Sachverhalte anwendbar, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, hier in den der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, fallen (vgl. insbesondere Urteil vom 27. Oktober 1982 in den verbundenen Rechtssachen 35/82 und 36/82, Morson, Slg. 1982, 3723, Randnrn. 15 und 16).

11 So dürfen auch die zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Verordnungen nicht auf Tätigkeiten angewendet werden, die keinerlei Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt, und die mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (vgl. Urteile vom 17. Dezember 1987 in der Rechtssache 147/87, Zaoui, Slg. 1987, 5511, Randnr. 15, und vom 22. September 1992 in der Rechtssache C-153/91, Petit, Slg. 1992, I-4973, Randnr. 8).

12 Folglich ist die Gemeinschaftsregelung auf dem Gebiet der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer auf den Sachverhalt eines Arbeitnehmers, der von dem Recht auf Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft nie Gebrauch gemacht hat, nicht anwendbar.

13 Unter diesen Umständen kann sich ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers mit der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats nicht auf das Gemeinschaftsrecht berufen, um auf eine den Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen gewährte Vergünstigung der sozialen Sicherheit Anspruch zu erheben, wenn der Arbeitnehmer, zu dessen Familie er gehört, von dem Recht auf Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft nie Gebrauch gemacht hat.

14 Aus dem im Vorlageurteil beschriebenen Sachverhalt ergibt sich, daß der Adoptivvater des Klägers französischer Staatsangehöriger ist, immer in Frankreich gewohnt hat und nur im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gearbeitet hat.

15 Daher ist auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß die Artikel 7 und 48 Absatz 2 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß sie es nicht ausschließen, daß die Gewährung einer Leistung wie einer in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Beihilfe für behinderte Erwachsene einem Familienangehörigen eines Gemeinschaftsangehörigen verweigert wird, der von dem Recht auf Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft nie Gebrauch gemacht hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Die Auslagen der französischen und der deutschen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm vom Tribunal des affaires de sécurité sociale Bobigny mit Urteil vom 12. Juni 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Die Artikel 7 und 48 Absatz 2 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, daß sie es nicht ausschließen, daß die Gewährung einer Leistung wie einer in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Beihilfe für behinderte Erwachsene einem Familienangehörigen eines Gemeinschaftsangehörigen verweigert wird, der von dem Recht auf Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft nie Gebrauch gemacht hat.

Ende der Entscheidung

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