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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 18.05.2000
Aktenzeichen: C-206/98
Rechtsgebiete: Richtlinie 92/49/EWG, Richtlinie 73/239/EWG, Richtlinie 88/357/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 92/49/EWG
Richtlinie 73/239/EWG
Richtlinie 88/357/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239 und 88/357 (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) ist im Licht von Artikel 55 der Richtlinie auszulegen, der sich auf Versicherungsunternehmen bezieht, die im Staatsgebiet der Mitgliedstaaten auf eigenes Risiko in der Pflichtversicherung von Arbeitsunfällen tätig sind, und aus dem sich, da er eine besondere Ausnahmebestimmung von der allgemeinen Regelung dieser Richtlinie darstellt, ergibt, daß die betroffenen Versicherungen in deren Geltungsbereich fallen. Daher gilt die Richtlinie 92/49 für Versicherungen, die im Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit von Versicherungsunternehmen auf eigenes Risiko betrieben werden. (vgl. Randnrn. 35-36, 44 und Tenor)


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 18. Mai 2000. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 92/49/EWG - Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung. - Rechtssache C-206/98.

Parteien:

In der Rechtssache C-206/98

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberaterin C. Tufvesson und B. Mongin, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Klägerin,

gegen

Königreich Belgien, vertreten durch J. Devadder, Hauptberater in der Generaldirektion für Rechtsfragen des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, und A. Snoecx, beigeordnete Beraterin in derselben Direktion, als Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwalt D. Waelbroeck, Brüssel, Zustellungsanschrift: Belgische Botschaft, 4, rue des Girondins, Luxemburg,

Beklagter,

wegen Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) (ABl. L 228, S. 1) und dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß es Artikel 2 des Gesetzes vom 9. Juli 1975 betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen in der durch die Königliche Verordnung vom 12. August 1994 (Moniteur belge vom 16. September 1994, S. 23525) geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat,

erläßt

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. C. Moitinho de Almeida (Berichterstatter) sowie der Richter C. Gulmann, J.-P. Puissochet, G. Hirsch und der Richterin F. Macken,

Generalanwalt: A. Saggio

Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 27. Oktober 1999,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2000,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit Klageschrift, die am 2. Juni 1998 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) (ABl. L 228, S. 1) und dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß es Artikel 2 des Gesetzes vom 9. Juli 1975 betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen in der durch die Königliche Verordnung vom 12. August 1994 (Moniteur belge vom 16. September 1994, S. 23525) geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat.

Gemeinschaftsrecht

2 Artikel 2 der Richtlinie 92/49 lautet:

"(1) Diese Richtlinie findet auf die in Artikel 1 der Richtlinie 73/239/EWG bezeichneten Versicherungen und Unternehmen Anwendung.

(2) Diese Richtlinie ist weder auf Versicherungen und Geschäftsvorgänge noch auf Unternehmen und Institutionen, auf die die Richtlinie 73/239/EWG keine Anwendung findet, noch auf die in Artikel 4 derselben Richtlinie genannten Anstalten anwendbar."

3 Artikel 37 der Richtlinie 92/49 lautet:

"Artikel 12 Absatz 2 Unterabsätze 2 und 3 und Absatz 3 und die Artikel 13 und 15 der Richtlinie 88/357/EWG werden aufgehoben."

4 Artikel 55 der Richtlinie 92/49 lautet:

"Die Mitgliedstaaten können von jedem Versicherungsunternehmen, das in ihrem Staatsgebiet auf eigenes Risiko in der Pflichtversicherung von Arbeitsunfällen tätig ist, die Einhaltung ihrer diese Pflichtversicherung spezifisch betreffenden einzelstaatlichen Vorschriften verlangen; ausgenommen hiervon sind die Vorschriften über die Finanzaufsicht, die in die ausschließliche Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats fallen."

5 Artikel 1 der Ersten Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) (ABl. L 228, S. 3) lautet:

"Diese Richtlinie betrifft die Aufnahme und Ausübung der selbständigen Tätigkeit der Direktversicherung durch Versicherungsunternehmen, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind oder sich dort niederzulassen wünschen, in den Zweigen, die im Anhang zu dieser Richtlinie bezeichnet sind."

6 Gemäß Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe d der Richtlinie 73/239 betrifft diese Richtlinie nicht die Versicherungen im Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit.

7 Artikel 12 Absätze 2 und 3 der Zweiten Richtlinie 88/357/EWG des Rates vom 22. Juni 1988 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239 (ABl. L 172, S. 1) lautet:

"(2) Die Bestimmungen dieses Titels gelten weder für die Geschäfte und Unternehmen sowie die Anstalten, auf die die Erste Richtlinie nicht anwendbar ist, noch für die Risiken, die von den in Artikel 4 derselben Richtlinie genannten öffentlich-rechtlichen Anstalten zu decken sind.

Die Bestimmungen dieses Titels gelten nicht für Versicherungsverträge, welche die Risiken decken, die unter Buchstabe A des Anhangs zur Ersten Richtlinie unter folgenden Nummern erfaßt sind:

- Nr. 1: in bezug auf Arbeitsunfälle

- Nr. 10: außer der Haftpflicht des Frachtführers

- Nr. 12:

in bezug auf Motorboote und Schiffe, die der betreffende Mitgliedstaat zum Zeitpunkt der Notifizierung dieser Richtlinie derselben Regelung unterwirft wie Landkraftfahrzeuge

- Nr. 13: in bezug auf die Haftpflicht bei Atomrisiken und Arzneimitteln

- Nrn. 9 und 13: in bezug auf die Pflichtversicherung für Bautätigkeiten.

Diese Ausklammerungen werden vom Rat bis zum 1. Juli 1998 geprüft.

(3) Bis zu der in Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe c) der Ersten Richtlinie genannten Koordinierung kann die Bundesrepublik Deutschland das Verbot, in ihrem Gebiet im Rahmen des Dienstleistungsverkehrs die Krankenversicherung gleichzeitig mit anderen Versicherungszweigen zu betreiben, aufrechterhalten."

8 Beim Erlaß der Richtlinie 88/357 wurde dem Protokoll des Rates folgende gemeinsame Erklärung der Kommission und des Rates zu Artikel 12 Absatz 2 beigefügt:

"Der Rat und die Kommission stellen fest, daß Artikel 12 Absatz 2 erster Gedankenstrich nichts an der Tatsache ändert, daß die Arbeitsunfallversicherung, wie sie in Belgien gehandhabt wird, unter den Ausschluß nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe d der ersten Koordinierungsrichtlinie fällt."

9 Artikel 1 Nummer 3 der Ersten Richtlinie 79/267/EWG des Rates vom 5. März 1979 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Direktversicherung (Lebensversicherung) (ABl. L 63, S. 1) lautet:

"Diese Richtlinie betrifft die Aufnahme und Ausübung der selbständigen Tätigkeit der Direktversicherung durch Unternehmen, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind oder sich dort niederzulassen wünschen, soweit es geht um:

...

3. die im Sozialversicherungsrecht bezeichneten oder vorgesehenen Geschäfte, die von der Lebensdauer abhängen, wenn sie nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats von Versicherungsunternehmen auf deren eigenes Risiko betrieben oder verwaltet werden."

10 Artikel 2 Nummer 4 dieser Richtlinie lautet:

"Diese Richtlinie betrifft nicht:

...

4. vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 1 Nummer 3 die unter ein gesetzliches System der sozialen Sicherheit fallenden Versicherungen."

Belgische Rechtsvorschriften

11 Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe a des Gesetzes vom 9. Juli 1975 betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen in der durch die Königliche Verordnung vom 12. August 1994 geänderten Fassung lautet:

"Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf folgende Unternehmen:

...

2. Gemeinschaftskassen, private Unternehmen mit festen Prämien, öffentliche Einrichtungen bezüglich der unter folgende Vorschriften fallenden Geschäfte:

a) das Gesetz vom 10. April 1971 über Arbeitsunfälle [und das Gesetz vom 3. Juli 1967 über den Ersatz von durch Arbeitsunfälle, Arbeitswegeunfälle und Berufskrankheiten im öffentlichen Sektor entstandene Schäden]

...".

Vorverfahren

12 Mit schriftlicher Aufforderung zur Äußerung vom 27. Dezember 1995 teilte die Kommission den belgischen Stellen mit, daß Artikel 2 des Gesetzes vom 9. Juli 1975 betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen in der durch die Königliche Verordnung vom 12. August 1994 geänderten Fassung nicht mit der Richtlinie 92/49 in Einklang stehe, da danach alle Versicherungskassen oder -unternehmen, die Arbeitsunfälle versicherten, vom Geltungsbereich des nationalen Umsetzungsgesetzes ausgenommen seien, auch wenn diese Kassen oder Unternehmen auf eigenes Risiko einen Erwerbszweck verfolgten.

13 Die belgischen Stellen antworteten am 23. Februar 1996, die beanstandete Vorschrift verstoße nicht gegen Gemeinschaftsrecht, weil Arbeitsunfälle in Belgien als unter das gesetzliche System der sozialen Sicherheit fallend angesehen würden und daher vom Geltungsbereich der Richtlinie 92/49 ausgenommen seien. Mit Schreiben vom 13. Mai 1996 hielten sie an ihrem Standpunkt fest.

14 Am 17. Juni 1997 richtete die Kommission an das Königreich Belgien eine mit Gründen versehene Stellungnahme mit der Aufforderung, innerhalb von zwei Monaten alle Maßnahmen zu treffen, um der Richtlinie 92/49 nachzukommen.

15 In ihrer Antwort vom 16. Februar 1998 machten die belgischen Behörden folgendes geltend:

- Die Richtlinie 73/239 betreffe nicht die Versicherungen im Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit (Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe d dieser Richtlinie).

- Die Richtlinie 88/357 bestätige in Artikel 12 Absatz 2 Unterabsatz 1, daß die besonderen Bestimmungen für den freien Dienstleistungsverkehr nicht für die Geschäfte und Unternehmen sowie die Anstalten gälten, auf die die Richtlinie 73/239 nicht anwendbar sei. Die beim Erlaß der Richtlinie 88/357 dem Protokoll des Rates beigefügte gemeinsame Erklärung beseitige jeden Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe d der Richtlinie 73/239.

- Die Richtlinie 92/49 hebe zwar Artikel 12 Absatz 2 Unterabsätze 2 und 3 und Absatz 3 der Richtlinie 88/357 auf (Artikel 37 der Richtlinie 92/49), doch gälten die genannte Erklärung, Artikel 12 Absatz 2 Unterabsatz 1 und Artikel 1 der Richtlinie 88/357 fort. Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49 sehe ausdrücklich vor, daß diese weder auf Versicherungen und Geschäftsvorgänge noch auf Unternehmen und Einrichtungen, auf die die Richtlinie 73/239 keine Anwendung finde, anwendbar sei.

16 In ihrer ergänzenden Antwort vom 24. März 1998 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme machten die belgischen Stellen geltend, daß die Schadenversicherungsrichtlinien nicht für die gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit gälten, daß das belgische Basissystem für Arbeitsunfälle unter die Ausnahme für die soziale Sicherheit falle und daß das belgische System jedenfalls unter die Ausnahmen der Artikel 55 und 90 Absatz 2 EG-Vertrag (jetzt Artikel 45 EG und 86 Absatz 2 EG) falle. Außerdem gefährde eine Öffnung des belgischen Systems für den freien Dienstleistungsverkehr die Lebensfähigkeit des Systems.

17 Da die Kommission die Antwort der belgischen Regierung nicht als ausreichend ansah, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

Zulässigkeit

18 Die belgische Regierung macht geltend, die Kommission führe in ihrer Klage aus, das belgische gesetzliche System der sozialen Sicherheit, das das Arbeitsunfallrisiko abdecke, falle unter die Ausnahme der sozialen Sicherheit, und werfe Belgien nicht vor, daß sein obligatorisches Basissystem für Arbeitsunfälle von den Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr nicht erfaßt werde. Dem Beklagten werde lediglich der Ausschluß von im Zweig der Arbeitsunfälle auf eigenes Risiko tätigen Unternehmen aus dem Geltungsbereich der Dritten Richtlinie Schadenversicherung vorgeworfen.

19 Das System der Pflichtversicherung von Arbeitsunfällen, wie es in den belgischen Rechtsvorschriften geregelt sei, sei aber gerade ein Basissystem der sozialen Sicherheit. Folglich betreffe die Klage nur den Ausschluß von nicht zum "obligatorischen Basissystem" gehörenden Arbeitsunfallversicherungen, wenn sie von privaten Unternehmen angeboten würden, die einen Erwerbszweck auf eigenes Risiko verfolgten. Da die Zusatzversicherung von Arbeitsunfällen in den Geltungsbereich der Richtlinie 92/49 falle, sei die Klage gegenstandslos.

20 Daher habe die Kommission, indem sie dem Königreich Belgien in ihrer Erwiderung vorwerfe, es unterstelle die obligatorischen Basisversicherungen von Arbeitsunfällen nicht der Richtlinie 92/49, unter Verstoß gegen Artikel 42 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes den Gegenstand des Rechtsstreits geändert.

21 Dem ist nicht zu folgen. Aus der Klageschrift geht eindeutig hervor, daß die Klage die Arbeitsunfallversicherungen im Rahmen des Pflichtsystems der sozialen Sicherheit betrifft. Nach Auffassung der Kommission fallen solche Versicherungen, wenn sie von Versicherungsunternehmen auf eigenes Risiko betrieben werden, in den Geltungsbereich der Versicherungsrichtlinien.

22 Folglich ist die Klage zulässig.

Begründetheit

23 Die Kommission trägt vor, der Geltungsbereich der Richtlinie 92/49 ergebe sich aus deren Artikel 2 Absatz 2; dort werde auf den Geltungsbereich der Richtlinie 73/239 verwiesen, nach deren Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe d die Versicherungen im Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit ausgenommen seien. Diese Bestimmungen seien jedoch so auszulegen, daß sie sich auf von öffentlichen Einrichtungen der sozialen Sicherheit, die keinen Erwerbszweck verfolgten, verwaltete Versicherungstätigkeiten bezögen. Die Richtlinie 92/49 bleibe auf Unternehmen, die das Arbeitsunfallrisiko versicherten, auch im Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit anwendbar, wenn diese Unternehmen auf eigenes Risiko einen Erwerbszweck verfolgten, was bei den belgischen Arbeitsunfallversicherungen der Fall sei.

24 Nur bei dieser Auslegung ließen sich die Artikel 2 Absatz 2 und Artikel 55 der Richtlinie 92/49 miteinander in Einklang bringen. Nach diesem Artikel 55 fielen nämlich Pflichtversicherungen von Arbeitsunfällen eindeutig unter die Richtlinie 92/49, wenn sie von privaten Unternehmen auf eigenes Risiko betrieben würden.

25 Im übrigen entspreche diese Regelung der Richtlinie 79/267 (Artikel 1 Nummer 3 sowie 2 Nummer 4) und dem Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Beschluß 91/370/EWG des Rates vom 20. Juni 1991 zur Genehmigung des Abschlusses des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft betreffend die Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung, ABl. L 205, S. 2).

26 Die belgische Regierung bestreitet das Vorliegen einer Vertragsverletzung.

27 Das System für Arbeitsunfälle falle unter das obligatorische Basissystem der sozialen Sicherheit, wie es sich nicht nur aus den belgischen Rechtsvorschriften, sondern auch aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), ergebe. Die von einem System der sozialen Sicherheit umfaßten Versicherungen seien aber von der Richtlinie 92/49 ausgenommen.

28 Folglich könne Artikel 55 der Richtlinie 92/49 nicht die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit betreffen; sonst liege ein Widerspruch zu den Grundvorschriften der Richtlinien über Versicherungen vor. Im übrigen sei dieser Artikel, wenn er in dem von der Kommission vertretenen Sinne auszulegen wäre, ungültig.

29 Die Richtlinie 92/49 sei nämlich nur auf die Artikel 57 Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 47 Absatz 2 EG) und 66 EG-Vertrag (jetzt Artikel 55 EG) gestützt; die Gemeinschaft sei auf dieser Grundlage nicht befugt, die Systeme der sozialen Sicherheit zu regeln.

30 Artikel 55 der Richtlinie 92/49 könne nur in dem Sinne ausgelegt werden, daß er lediglich die Arbeitsunfallversicherungen betreffe, die nicht unter die Systeme der sozialen Sicherheit fielen.

31 Diese Auslegung der Richtlinien über Versicherungen werde durch die gemeinsame Erklärung der Kommission und des Rates zu Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie 88/357 bestätigt, wonach die Arbeitsunfallversicherung, wie sie in Belgien gehandhabt werde, unter die Ausnahme des Artikels 2 Nummer 1 Buchstabe d der Richtlinie 73/239 falle; diese Bestimmung sei nicht geändert worden.

32 Schließlich könne die staatliche Versicherungsaufsicht nur gegenüber Unternehmen mit Sitz in Belgien ausgeübt werden. Hierzu bedürfe es besonders strenger Regeln, insbesondere bezüglich des finanziellen Gleichgewichts der Unternehmen, mit Ausnahme von genossenschaftlichen Versicherungen, der gesonderten Verwaltung, der Beteiligung der Sozialpartner bei der Zulassung und beim Widerruf der Zulassung, des Erfordernisses einer Sicherheitsleistung sowie der Überwachung der Versicherungsprämien und der Vertragsbedingungen.

33 Dieser vom belgischen Recht gewährleistete Schutz des Geschädigten und seiner Hinterbliebenen werde von den Richtlinien über Schadenversicherungen nicht bezweckt.

34 Hilfsweise beruft sich die belgische Regierung auf die Ausnahmen nach Artikel 55 und 90 Absatz 2 EG-Vertrag, da die Anwendung der Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr das ordnungsgemäße Funktionieren des Systems der Pflichtversicherung von Arbeitsunfällen in Belgien vereitle.

35 Artikel 55 der Richtlinie 92/49 bezieht sich auf Versicherungsunternehmen, die im Staatsgebiet der Mitgliedstaaten auf eigenes Risiko in der Pflichtversicherung von Arbeitsunfällen tätig sind. Hier können die Mitgliedstaaten die Einhaltung ihrer diese Pflichtversicherung spezifisch betreffenden einzelstaatlichen Vorschriften verlangen; ausgenommen hiervon sind die Vorschriften über die Finanzaufsicht, die in die ausschließliche Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats fallen.

36 Aus Artikel 55 der Richtlinie 92/49, der wie deren Artikel 54 in bezug auf die Krankenversicherung eine besondere Ausnahmebestimmung von der allgemeinen Regelung dieser Richtlinie darstellt, ergibt sich, daß solche Versicherungen in deren Geltungsbereich fallen.

37 Die belgische Regierung bestreitet nicht, daß die in Belgien in der Versicherung von Arbeitsunfällen tätigen Versicherungsunternehmen auf eigenes Risiko tätig sind. Sie trägt jedoch vor, daß Artikel 55 der Richtlinie 92/49 restriktiv auszulegen sei in dem Sinne, daß er nur die Arbeitsunfallversicherungen betreffe, die nicht unter die Systeme der sozialen Sicherheit fielen.

38 Diese Auslegung findet im Wortlaut von Artikel 55 der Richtlinie 92/49 keine Stütze; den von der belgischen Regierung zu ihrer Rechtfertigung vorgetragenen Gründen ist nicht zu folgen.

39 Erstens üben die fraglichen Versicherungsunternehmen eine wirtschaftliche Dienstleistungstätigkeit aus, die durch Erlaß einer auf Artikel 57 Absatz 2 und Artikel 66 EG-Vertrag gestützten Richtlinie harmonisiert werden kann. Der Umstand, daß ein Mitgliedstaat solche Versicherungen in sein Pflichtsystem der sozialen Sicherheit einbezieht, steht einer solchen Harmonisierung nicht entgegen.

40 Zweitens bezieht sich die gemeinsame Erklärung der Kommission und des Rates zu Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie 88/357 auf eine Richtlinie, die durch die Richtlinie 92/49 geändert wurde. Zudem kann diese Erklärung, die im Wortlaut von Artikel 55 der Richtlinie 92/49 keinen Ausdruck gefunden hat, nicht zu dessen Auslegung herangezogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 1991 in der Rechtssache C-292/89, Antonissen, Slg. 1991, I-745, Randnr. 18, und vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C-329/95, VAG Sverige, Slg. 1997, I-2675, Randnr. 23).

41 Drittens kann auch das für Versicherungen im Bereich der Arbeitsunfälle geltende belgische System kein Kriterium für die Auslegung von Artikel 55 der Richtlinie 92/49 in dem von der belgischen Regierung vertretenen Sinn darstellen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber durfte nämlich davon ausgehen, daß es sachgerecht sei, die Finanzaufsicht über die fraglichen Versicherungen beim Herkunftsmitgliedstaat zu belassen, solche Versicherungen aber im übrigen den spezifischen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie betrieben werden, insbesondere denjenigen, auf die sich die belgische Regierung beruft, zu unterwerfen, mit denen sichergestellt werden soll, daß die sozialen Zielsetzungen der Arbeitsunfallversicherungen erreicht werden.

42 Überdies gibt die Richtlinie 92/49 den Mitgliedstaaten die Befugnis, zu fordern, daß der zuständigen Behörde die allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen der Pflichtversicherungen mitgeteilt werden (Artikel 30 Absatz 2), und es denjenigen Unternehmen, die in ihrem Staatsgebiet im Rahmen der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit tätig sind, zur Auflage zu machen, unter denselben Bedingungen wie die dort zugelassenen Unternehmen den Fonds, die die Zahlung von Entschädigungen an Versicherungsnehmer und geschädigte Dritte garantieren sollen, beizutreten und sich an ihnen zu beteiligen (Artikel 45 Absatz 2).

43 Schließlich sieht Artikel 40 der Richtlinie 92/49 Maßnahmen vor, mit denen sichergestellt werden soll, daß Unternehmen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats eine Zweigniederlassung haben oder Dienstleistungen erbringen, die dafür geltenden Rechtsvorschriften einhalten, und insbesondere in dringenden Fällen Maßnahmen, um Unregelmäßigkeiten zu verhindern oder zu ahnden.

44 Daher ist Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49 im Licht von Artikel 55 dahin auszulegen, daß die Richtlinie 92/49 für Versicherungen gilt, die im Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit von Versicherungsunternehmen auf eigenes Risiko betrieben werden.

45 Auch das Vorbringen zu den Artikeln 55 und 90 Absatz 2 EG-Vertrag geht fehl. Diese Bestimmungen können nicht geltend gemacht werden, wenn es sich um ein Gebiet handelt, auf dem wie in der vorliegenden Rechtssache eine Harmonisierung erfolgt ist, in deren Rahmen der Gemeinschaftsgesetzgeber die von der belgischen Regierung angeführten allgemeinen Interessen berücksichtigt hat, und wenn sie den Regeln dieser Harmonisierung widersprechen.

46 Nach alledem ist festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/49 verstoßen hat, daß es Artikel 2 des Gesetzes vom 9. Juli 1975 betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen in der durch die Königliche Verordnung vom 12. August 1994 geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

47 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission einen entsprechenden Antrag gestellt hat und das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) verstoßen, daß es Artikel 2 des Gesetzes vom 9. Juli 1975 betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen in der durch die Königliche Verordnung vom 12. August 1994 geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat.

2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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