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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.07.1995
Aktenzeichen: C-21/94
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 75
EWG-Vertrag Art. 99
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die ordnungsgemässe Anhörung des Parlaments in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen stellt eine wesentliche Formvorschrift dar, deren Nichtbeachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung zur Folge hat. Die wirksame Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft gemäß den im Vertrag vorgesehenen Verfahren stellt nämlich ein wesentliches Element des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts dar. Diese Befugnis ist Ausdruck eines grundlegenden demokratischen Prinzips, nach dem die Völker durch eine zu ihrer Vertretung berechtigte Versammlung an der Ausübung der Hoheitsgewalt beteiligt sind.

Das Erfordernis der Anhörung des Europäischen Parlaments während des Gesetzgebungsverfahrens in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen schließt das Erfordernis ein, das Europäische Parlament immer dann erneut anzuhören, wenn der endgültig verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört worden ist, es sei denn, die Änderungen entsprechen im wesentlichen einem vom Parlament selbst geäusserten Wunsch.

Das Organ, das den endgültigen Text verabschiedet, kann sich dieser Verpflichtung nicht mit der Begründung entziehen, daß es über die Auffassung des Parlaments zu den in Rede stehenden wesentlichen Punkten hinreichend unterrichtet sei, denn dies würde dazu führen, daß die wirksame Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft, die für die Aufrechterhaltung des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts wesentlich ist, erheblich beeinträchtigt würde und der Einfluß verkannt würde, den die ordnungsgemässe Anhörung des Parlaments auf den Erlaß des betreffenden Rechtsakts haben kann.

2. Aus einem Vergleich zwischen dem der Richtlinie 93/89 zugrunde liegenden Vorschlag der Kommission und dem Inhalt dieser Richtlinie, wie sie vom Rat erlassen wurde, ergibt sich, daß hinsichtlich des Zieles der Einführung eines harmonisierten Abgabensystems für den Strassenverkehr, das die Kraftfahrzeugsteuern, die Kraftstoffsteuern und die Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege umfasst und die Wege- und die externen Kosten berücksichtigt, ein Text, der die Kommission verpflichtete, einen Bericht mit Vorschlägen für die Verwirklichung dieses Zieles vorzulegen, um den Erlaß eines harmonisierten Systems durch den Rat bis zum 31. Dezember 1998 zu ermöglichen, durch einen anderen Text ersetzt worden ist, nach dem der Rat nicht mehr verpflichtet ist, innerhalb der angegebenen Frist dieses harmonisierte System zu erlassen, und nach dem auch die Kommission nicht mehr verpflichtet ist, in ihrem Bericht Vorschläge für die Einführung einer auf das Territorialitätsprinzip gestützten Regelung zur Anlastung der Wegekosten zu unterbreiten.

Solche Änderungen sind wesentlich. Da sie keinem Wunsch des Parlaments entsprachen und das System des Entwurfs insgesamt berührten, setzten sie im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens nach den Artikeln 75 und 99 des Vertrages eine erneute Anhörung des Parlaments voraus. Der Umstand, daß diese Anhörung nicht stattgefunden hat, stellt eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften dar, die zur Nichtigerklärung der Richtlinie 93/89 führen muß.

3. Die Notwendigkeit, zu verhindern, daß die wegen der Verletzung der Verpflichtung zur ordnungsgemässen Anhörung des Parlaments erfolgte Nichtigerklärung der Richtlinie 93/89 über die Besteuerung bestimmter Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung und die Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege eine Diskontinuität im Programm zur Harmonisierung der Verkehrsabgaben herbeiführt, sowie gewichtige Gründe der Rechtssicherheit, die mit denen vergleichbar sind, die bei einer Nichtigerklärung bestimmter Verordnungen zum Tragen kommen, rechtfertigen es, daß der Gerichtshof von der ihm in Artikel 174 Absatz 2 des Vertrages ausdrücklich für den Fall der Nichtigerklärung einer Verordnung eingeräumten Befugnis Gebrauch macht und die vorläufige Aufrechterhaltung aller Wirkungen der für nichtig erklärten Richtlinie beschließt, bis der Rat eine neue Richtlinie erlassen hat.

Zwar ist der Gerichtshof insoweit im Rahmen einer auf Artikel 173 des Vertrages gestützten Rechtmässigkeitskontrolle nicht befugt, eine Anordnung zu erlassen, durch die dem Rat eine Frist für den Erlaß einer neuen Regelung in diesem Bereich gesetzt wird, doch hat der Rat die Aufgabe, die begangene Unregelmässigkeit innerhalb einer angemessenen Frist zu beheben.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 5. JULI 1995. - EUROPAEISCHES PARLAMENT GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN UNION. - RICHTLINIE 93/89/EWG UEBER DIE BESTEUERUNG BESTIMMTER KRAFTFAHRZEUGE ZUR GUETERBEFOERDERUNG SOWIE DIE ERHEBUNG VON MAUT- UND BENUTZUNGSGEBUEHREN FUER BESTIMMTE VERKEHRSWEGE DURCH DIE MITGLIEDSTAATEN - ERNEUTE ANHOERUNG DES EUROPAEISCHEN PARLAMENTS. - RECHTSSACHE C-21/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Europäische Parlament hat mit Klageschrift, die am 20. Januar 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 EG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Richtlinie 93/89/EWG des Rates vom 25. Oktober 1993 über die Besteuerung bestimmter Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung sowie die Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren für bestimmte Verkehrswege durch die Mitgliedstaaten (ABl. L 279, S. 32).

2 Aus den Akten ergibt sich, daß der angefochtene Rechtsakt auf den Vorschlag KOM(87) 716 endg. für eine Richtlinie zur Anlastung der Wegekosten an schwere Nutzfahrzeuge (ABl. 1988, C 79, S. 8) zurückgeht, der zweimal geändert wurde. Die zweite Änderung KOM(92) 405 endg. des Vorschlags (ABl. C 311, S. 63; im folgenden: Vorschlag) wurde dem Rat von der Kommission am 26. Oktober 1992 vorgelegt und vom Europäischen Parlament am 18. Dezember 1992 vorbehaltlich zweier kleinerer Änderungen gebilligt (ABl. 1993, C 21, S. 522).

3 Dieser Vorschlag, der auf die Artikel 75 und 99 EWG-Vertrag gestützt war, sah in seinem Artikel 9 vor, daß der Rat baldmöglichst geeignete Vorschriften für die Einführung eines auf dem Territorialitätsprinzip beruhenden harmonisierten Abgabensystems für den Strassenverkehr erlässt (Absatz 1). Zu diesem Zweck sollte die Kommission dem Rat vor dem 1. Januar 1998 einen Bericht mit Vorschlägen für die Verwirklichung des in Absatz 1 dargelegten Zieles unterbreiten. Auf der Grundlage dieser Vorschläge sollte der Rat dann bis zum 31. Dezember 1998 ein harmonisiertes Abgabensystem für den Strassenverkehr annehmen, das spätestens am 30. Juni 1999 in Kraft treten sollte (Absatz 3).

4 Der Vorschlag sah ausserdem die Einführung einer Übergangsregelung zur Harmonisierung der gegenwärtig erhobenen Abgaben vor, die insbesondere gekennzeichnet war durch die Anwendung von Mindestsätzen für die Steuer auf Nutzfahrzeuge, die alle zwei Jahre angepasst werden konnten und für alle Mitgliedstaaten ausser Portugal und Griechenland, denen vorläufig die Anwendung ermässigter Sätze gestattet wurde, gelten sollten (Artikel 8), durch die Möglichkeit, Benutzungs- und Mautgebühren auf dem Autobahnnetz zu erheben (Artikel 5), und schließlich durch die Möglichkeit, einen Teil der Kraftfahrzeugsteuern wegen der Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren zu erstatten (Artikel 10).

5 Durch die angefochtene Richtlinie, die die gleichen Mindestsätze für die Steuer auf Nutzfahrzeuge vorsieht wie der Vorschlag der Kommission, werden in bezug auf diese Sätze, die nicht vor 1998 geändert werden können, verschiedene Möglichkeiten der Befreiung oder Ermässigung eingeführt (Artikel 6). Die Richtlinie gestattet es den Staaten, Benutzungs- und Mautgebühren für die Benutzung von Autobahnen und anderen Strassenkategorien zu erheben (Artikel 7 Buchstabe d) und allen in ihrem Hoheitsgebiet zugelassenen Fahrzeugen eine Benutzungsgebühr für die Benutzung ihres gesamten Strassennetzes aufzuerlegen (Artikel 7 Buchstabe e). Ausserdem wird in der Richtlinie für die Benutzungsgebühren ein Hoechstbetrag von 1 250 ECU pro Jahr festgelegt (Artikel 7 Buchstabe f). Schließlich sieht die Richtlinie keine Möglichkeit vor, Kraftfahrzeugsteuern wegen der Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren zu erstatten.

6 Im übrigen muß die Kommission gemäß Artikel 12 Absatz 1 dem Rat spätestens zum 31. Dezember 1997 über die Durchführung der Richtlinie Bericht erstatten. Zusammen mit diesem Bericht werden gegebenenfalls Vorschläge für die Einführung einer auf das Territorialitätsprinzip gestützten Regelung zur Anlastung der Wegekosten vorgelegt, in dem nationale Grenzen eine untergeordnete Rolle spielen.

7 Der streitige Rechtsakt wurde am 25. Oktober 1993 erlassen, ohne daß der Rat das Europäische Parlament zuvor erneut angehört hatte.

Zur Nichtigerklärung der Richtlinie

8 Zur Begründung seiner Klage macht das Europäische Parlament eine Verletzung seines Rechts auf Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft geltend, die sich daraus ergebe, daß es vor dem Erlaß der streitigen Richtlinie vom Rat nicht ein zweites Mal angehört worden sei. Diese erneute Anhörung sei im Rahmen des in den Artikeln 75 und 99 des Vertrages vorgesehenen Verfahrens erforderlich, wenn, wie im vorliegenden Fall, der vom Rat erlassene Text gegenüber dem Vorschlag der Kommission wesentliche Änderungen enthalte.

9 In diesem Zusammenhang trägt das Parlament vor, daß die Richtlinie den Sondercharakter der im Vorschlag vorgesehenen Ausnahmen grundlegend ändere, indem sie die Erlaubnis zur Anwendung von um die Hälfte ermässigten Mindestsätzen auf drei weitere Mitgliedstaaten ° Spanien, Frankreich und Italien ° ausdehne. Diese Ausdehnung habe zur Folge, daß die Verkehrsunternehmen aus den betreffenden fünf Mitgliedstaaten gegenüber ihren Konkurrenten aus den anderen Mitgliedstaaten, die keinen ermässigten Steuermindestsatz anwenden könnten, einen Wettbewerbsvorteil hätten, und trage deshalb nicht zur Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen, dem vorrangigen Ziel der Richtlinie, bei. Dieselbe negative Wirkung ergebe sich auch daraus, daß der Rat die Möglichkeit, Kraftfahrzeugsteuern wegen der Entrichtung von Benutzungs- oder Mautgebühren auf Autobahnen zu erstatten, völlig beseitigt habe.

10 Zudem stellten die Ausdehnung der den Staaten eingeräumten Möglichkeit der Erhebung von Benutzungsgebühren auf andere Strassenkategorien als Autobahnen und ihre Befugnis, allen in ihrem Hoheitsgebiet zugelassenen Fahrzeugen eine Benutzungsgebühr für die Benutzung ihres gesamten Strassennetzes aufzuerlegen (Artikel 7 Buchstabe e), ebenfalls bedeutende Änderungen gegenüber dem Vorschlag der Kommission dar. Ferner seien die Befugnis der Staaten, für bestimmte Fahrzeugkategorien ermässigte Sätze oder Befreiungen anzuwenden (Artikel 6 Absatz 3), und die Befugnis des Rates, aus Gründen sozial- bzw. wirtschaftspolitischer Art oder aus Gründen der Infrastrukturpolitik zusätzliche Befreiungen und Ermässigungen zu genehmigen (Artikel 6 Absatz 5), die in dem Vorschlag der Kommission nicht vorgesehen gewesen seien, ebenfalls Abweichungen von dem Ziel der gerechten Anlastung der Wegekosten, wie es die Kommission verfolgt habe.

11 Trotz dieser zahlreichen Befreiungen sei für die Benutzungsgebühren ein Hoechstbetrag von 1 250 ECU vorgesehen (Artikel 7 Buchstabe f), der weder von der Kommission in ihrem Vorschlag erwähnt noch vom Parlament gefordert worden sei.

12 Das Parlament führt schließlich aus, abgesehen von diesen punktüllen Änderungen, weiche die streitige Richtlinie deutlich von dem zwingenden Ziel des Kommissionsvorschlags ab, das darin bestehe, daß der Rat bis zum 31. Dezember 1998 ein auf das Territorialitätsprinzip gestütztes harmonisiertes Abgabensystem für den Strassenverkehr annehme, das am 30. Juni 1999 in Kraft treten müsse. Denn die Richtlinie beschränke sich darauf, die Kommission zur Berichterstattung an den Rat über die Durchführung der Richtlinie zu verpflichten und festzulegen, daß sie "gegebenenfalls" Vorschläge für die Einführung einer auf das Territorialitätsprinzip gestützten Regelung zur Anlastung der Wegekosten unterbreite (Artikel 12). Der Rat gestalte also das, was die Kommission als eine Übergangslösung geplant habe, in ein mehr oder weniger endgültiges System um. Für den Rat bestehe somit keine Verpflichtung mehr, innerhalb einer bestimmten Frist eine gemeinsame Regelung zu erlassen.

13 Dagegen trägt der Rat, unterstützt von der deutschen Regierung, vor, daß die Prüfung der vorliegenden Texte insgesamt zeige, daß die Richtlinie nicht von den Zielen des Vorschlags abweiche und daß sie auf die aufgeworfenen Fragen eine Antwort gebe, deren innere Logik dieselbe sei wie die des Kommissionsvorschlags.

14 Ziel dieses Vorschlags sei nämlich weder die vollständige und uneingeschränkte Harmonisierung der nationalen Abgaben noch die sofortige Einführung eines auf das Territorialitätsprinzip gestützten Systems gewesen. Nach Ansicht des Rates bestanden die wesentlichen Elemente des Vorschlags in der schrittweisen Angleichung der einzelstaatlichen Systeme (zweite Begründungserwägung), in der Auffassung, daß eine erste Übergangsphase zur Vorbereitung der Endphase notwendig sei (fünfte Begründungserwägung) und daß Wettbewerbsverzerrungen nur "gemildert" werden könnten (elfte Begründungserwägung), in der Feststellung, daß ein ideales System zur Anlastung der Wegekosten gegenwärtig nicht zu verwirklichen sei, was ein vorläufiges System unvermeidbar mache, und in der Festlegung eines künftigen Abgabensystems als späteres Ziel.

15 Der Rat wendet sich ausserdem gegen das Vorbringen des Europäischen Parlaments, daß die Richtlinie deutlich von dem zwingenden Ziel des Kommissionsentwurfs abweiche. Denn der Vergleich zwischen Artikel 9 des Vorschlags und Artikel 12 der Richtlinie zeige, daß das für 1998 in Aussicht genommene Ziel dasselbe sei, nämlich ab diesem Jahr eine auf das Territorialitätsprinzip gestützte Regelung zur Anlastung der Wegekosten einzuführen, in dem nationale Grenzen eine untergeordnete Rolle spielten.

16 Der Rat führt in diesem Zusammenhang aus, daß der Ausdruck "gegebenenfalls", auf den das Parlament abstelle, der Kommission nicht ihr Initiativrecht auf diesem Gebiet nehme und das vom Rat verfolgte Ziel, das sowohl nach der Fassung des Artikels 9 des Vorschlags wie nach der des Artikels 12 der angefochtenen Richtlinie in einem zu befolgenden Programm bestehe, weder erweitere noch einschränke.

17 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die ordnungsgemässe Anhörung des Parlaments in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen eine wesentliche Formvorschrift darstellt, deren Nichtbeachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung zur Folge hat (vgl. z. B. Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-417/93, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-0000, Randnr. 9). Die wirksame Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft gemäß den im Vertrag vorgesehenen Verfahren stellt nämlich ein wesentliches Element des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts dar. Diese Befugnis ist Ausdruck eines grundlegenden demokratischen Prinzips, nach dem die Völker durch eine zu ihrer Vertretung berechtigte Versammlung an der Ausübung der Hoheitsgewalt beteiligt sind (vgl. z. B. Urteil vom 30. März 1995 in der Rechtssache C-65/93, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-0000, Randnr. 21).

18 Das Erfordernis der Anhörung des Europäischen Parlaments während des Gesetzgebungsverfahrens in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen schließt aber das Erfordernis ein, das Europäische Parlament immer dann erneut anzuhören, wenn der endgültig verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört worden ist, es sei denn, die Änderungen entsprechen im wesentlichen einem vom Parlament selbst geäusserten Wunsch (vgl. z. B. Urteile vom 1. Juni 1994 in der Rechtssache C-388/92, Parlament/Rat, Slg. 1994, I-2067, Randnr. 10, und vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Randnr. 38).

19 Demnach ist zu prüfen, ob die vom Parlament genannten Änderungen das Wesen des Textes als Ganzes gesehen betreffen.

20 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Vorschlag der Kommission, zu dem das Parlament seine Stellungnahme abgegeben hat, in Artikel 9 vorsah, daß der Rat "baldmöglichst geeignete Vorschriften für die Einführung eines harmonisierten Abgabensystems für den Strassenverkehr [erlässt]; dieses umfasst die Kraftfahrzeugsteuern, die Kraftstoffsteuern und die Gebühren für die Benutzung bestimmter Strassenverkehrseinrichtungen (Benutzungsgebühren und Mauten) und berücksichtigt die Wege- und die externen Kosten einschließlich der Umweltkosten" (Absatz 1). Die Kommission sollte "dem Rat vor dem 1. Januar 1998 einen Bericht mit Vorschlägen für die Verwirklichung des in Absatz 1 dargelegten Ziels [unterbreiten]. Der Rat nimmt auf der Grundlage dieser Vorschläge bis zum 31. Dezember [1998] ein harmonisiertes System an, das spätestens am 30. Juni 1999 in Kraft treten muß" (Absatz 3).

21 Dagegen bestimmt die Richtlinie in Artikel 12, daß die Kommission zusammen mit dem Bericht über die Durchführung der Richtlinie, den sie dem Rat spätestens zum 31. Dezember 1997 erstatten muß, "gegebenenfalls Vorschläge für die Einführung einer auf das Territorialitätsprinzip gestützten Regelung zur Anlastung der Wegekosten [vorlegt], in dem nationale Grenzen eine untergeordnete Rolle spielen".

22 Wie der Generalanwalt in Nummer 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus einem Vergleich zwischen dem Vorschlag der Kommission und der Richtlinie nicht nur, daß der Rat nicht mehr verpflichtet ist, bis zum 31. Dezember 1998 ein harmonisiertes Abgabensystem für den Strassenverkehr zu erlassen, sondern auch, daß die Kommission nicht mehr verpflichtet ist, in ihrem Bericht Vorschläge für die Einführung einer auf das Territorialitätsprinzip gestützten Regelung zur Anlastung der Wegekosten zu unterbreiten. Diese Änderungen berühren den Kern der getroffenen Regelung und sind daher als wesentlich anzusehen.

23 Im übrigen steht fest, daß diese Änderungen keinem Wunsch des Parlaments entsprechen.

24 Der Rat ist jedoch der Ansicht, daß er selbst dann, wenn der endgültig verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweiche, zu dem das Parlament angehört worden sei, nicht zur erneuten Anhörung dieses Organs verpflichtet sei, sofern er, wie im vorliegenden Fall, über die Auffassung des Parlaments zu den in Rede stehenden wesentlichen Punkten hinreichend unterrichtet sei.

25 Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen.

26 Die ordnungsgemässe Anhörung des Parlaments in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen stellt nämlich eines der Mittel dar, die dem Parlament eine wirksame Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft ermöglichen (vgl. insbesondere Urteil vom 2. März 1994 in der Rechtssache C-316/91, Parlament/Rat, Slg. 1994, I-625, Randnr. 17); würde aber der Auffassung des Rates gefolgt, so würde dies dazu führen, daß diese Beteiligung, die für die Aufrechterhaltung des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts wesentlich ist, erheblich beeinträchtigt würde und der Einfluß verkannt würde, den die ordnungsgemässe Anhörung des Parlaments auf den Erlaß des betreffenden Rechtsakts haben kann.

27 Da die erwähnten Änderungen, die das System des Entwurfs insgesamt berühren, für sich allein genügen, um eine erneute Anhörung des Parlaments zu verlangen, brauchen die weiteren Argumente des Parlaments nicht geprüft zu werden.

28 Folglich stellt der Umstand, daß das Parlament in dem nach den Artikeln 75 und 99 EWG-Vertrag vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren nicht ein zweites Mal angehört worden ist, eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften dar, die zur Nichtigerklärung des streitigen Rechtsakts führen muß.

Zur Aufrechterhaltung der Wirkungen der Richtlinie

29 In seiner Klagebeantwortung hat der Rat, unterstützt von der deutschen Regierung, beantragt, im Fall der Nichtigerklärung der Richtlinie deren Wirkungen aufrechtzuerhalten, bis er eine neue Regelung erlassen hat.

30 In seiner Erwiderung hat das Parlament mitgeteilt, daß es gegen einen solchen Antrag, der ihm tatsächlich durch wichtige Gründe der Rechtssicherheit gerechtfertigt erscheine, keine Einwände erhebe. In seinen Erklärungen zu den Streithilfeschriftsätzen der deutschen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs hat das Parlament beim Gerichtshof jedoch angeregt, in diesem Fall dem Rat aufzugeben, innerhalb einer vom Gerichtshof festzulegenden Frist eine neue Regelung zu erlassen, um den Rat zu veranlassen, das Verfahren zur ordnungsgemässen Ersetzung dieser Richtlinie möglichst schnell wiederaufzunehmen.

31 Wie der Generalanwalt in den Nummern 64 und 65 der Schlussanträge ausgeführt hat, rechtfertigen es die Notwendigkeit, eine Diskontinuität im Programm zur Harmonisierung der Verkehrsabgaben zu verhindern, und gewichtige Gründe der Rechtssicherheit, die mit denen vergleichbar sind, die bei einer Nichtigerklärung bestimmter Verordnungen zum Tragen kommen, daß der Gerichtshof von der ihm in Artikel 174 Absatz 2 EG-Vertrag ausdrücklich für den Fall der Nichtigerklärung einer Verordnung eingeräumten Befugnis Gebrauch macht und die Wirkungen der streitigen Richtlinie bezeichnet, die aufrechtzuerhalten sind (vgl. Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-295/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193, Randnr. 26).

32 Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles sind vorläufig alle Wirkungen der für nichtig erklärten Richtlinie aufrechtzuerhalten, bis der Rat eine neue Richtlinie erlassen hat.

33 Dem Antrag des Parlaments, dem Rat eine Frist für den Erlaß einer neuen Regelung in diesem Bereich zu setzen, kann nicht stattgegeben werden. Denn der Gerichtshof ist nicht befugt, im Rahmen einer auf Artikel 173 des Vertrages gestützten Rechtmässigkeitskontrolle derartige Anordnungen zu erlassen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß der Rat die Aufgabe hat, die begangene Unregelmässigkeit innerhalb einer angemessenen Frist zu beheben.

Kostenentscheidung:

Kosten

34 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Artikel 69 § 4 Absatz 1 tragen die Bundesrepublik Deutschland und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die dem Rechtsstreit beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Richtlinie 93/89/EWG des Rates vom 25. Oktober 1993 über die Besteuerung bestimmter Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung sowie die Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren für bestimmte Verkehrswege durch die Mitgliedstaaten wird für nichtig erklärt.

2) Die Wirkungen der für nichtig erklärten Richtlinie werden aufrechterhalten, bis der Rat in diesem Bereich eine neue Regelung erlassen hat.

3) Der Rat trägt die Kosten des Verfahrens.

4) Die Bundesrepublik Deutschland und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland tragen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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