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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.12.1992
Aktenzeichen: C-210/91
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 3599/82/EWG, VO Nr. 1751/84/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 169
VO Nr. 3599/82/EWG Art. 19
VO Nr. 1751/84/EWG Art. 12
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine Klage nach Artikel 169 EWG-Vertrag kann nur auf Gründe und Angriffsmittel gestützt werden, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme bereits aufgeführt worden sind.

2. Die Mitgliedstaaten sind mangels einer gemeinschaftlichen Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Zuwiderhandlungen, die im Rahmen der Gemeinschaftsregelung über die vorübergehende Verwendung der persönlichen Habe von Reisenden begangen werden, befugt, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Verhältnismässigkeitsgrundsatz, zu beachten. Insoweit dürfen die administrativen und strafrechtlichen Maßnahmen nicht über den Rahmen des zur Erreichung der verfolgten Ziele unbedingt Errforderlichen hinausgehen; ferner darf an die Kontrollmodalitäten keine Sanktion geknüpft sein, die so ausser Verhältnis zur Schwere der Tat steht, daß sie sich als eine Behinderung der im Vertrag verankerten Freiheiten erweist.

3. Wenn die Kommission im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 169 des Vertrages vor dem Gerichtshof auf Feststellung klagt, daß ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag verstossen hat, muß sie die behauptete Vertragsverletzung beweisen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 16. DEZEMBER 1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN REPUBLIK GRIECHENLAND. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - REGELUNG UEBER DIE VORUEBERGEHENDE EINFUHR DER PERSOENLICHEN HABE DER REISENDEN. - RECHTSSACHE C-210/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 7. August 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß die Griechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie gegen einen Touristen, der bezueglich der persönlichen Habe, die er in seinem Kraftfahrzeug mit sich führte, unter die gemeinschaftliche Regelung über die vorübergehende Verwendung fallen konnte, eine Geldbusse verhängt hat, die auf der Grundlage der auf einen Gegenstand, den er nicht angemeldet hatte, anwendbaren Zölle und Abgaben berechnet wurde, obwohl dem Staat durch die falsche Anmeldung, deren er sich schuldig gemacht hatte, keine Einnahmen aus der Erhebung von Zöllen und Abgaben entgehen konnten, da die fragliche Videokamera zur persönlichen Habe des Touristen gehörte.

2 Gemäß Artikel 19 der Verordnung (EWG) Nr. 3599/82 des Rates vom 21. Dezember 1982 über die vorübergehende Verwendung (ABl. L 376, S. 1) wird die vorübergehende Verwendung bei vollständiger Befreiung von Eingangsabgaben für die persönliche Habe, die ein Reisender bei sich hat, für die Dauer seines Aufenthalts im Zollgebiet der Gemeinschaft bewilligt. Gemäß Artikel 2 Absatz 2 dieser Verordnung haben die zuständigen Behörden "alle Maßnahmen [zu treffen], die sie für erforderlich halten, um die Nämlichkeit der Waren zu sichern und die Überwachung ihrer Verwendung zu gewährleisten." Nach Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1751/84 der Kommission vom 13. Juni 1984 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 3599/82 des Rates über das Verfahren der vorübergehenden Verwendung (ABl. L 171, S. 1) werden die persönlichen Gebrauchsgegenstände zur vorübergehenden Verwendung zugelassen, ohne daß unter den von den zuständigen Behörden festgelegten Voraussetzungen eine schriftliche Anmeldung abzugeben ist.

3 Diese Vorschrift schließt das Recht der genannten Behörden, eine mündliche Anmeldung zu verlangen, nicht aus.

4 Wie sich aus den Akten ergibt, überquerte ein deutscher Staatsangehöriger am 22. März 1988 mit seinem Kraftfahrzeug an der Zollstelle Evzoni die Grenze zwischen Jugoslawien und Griechenland. Bei seiner Einreise nach Griechenland fragte ihn ein Zollbeamter in englischer und in deutscher Sprache, ob er etwas anzumelden habe, insbesondere elektronische Geräte, Videogeräte oder Bildaufnahmegeräte. Der Reisende verneinte die Frage. Der Beamte kontrollierte jedoch das Fahrzeug und die darin befindlichen Gegenstände. Er entdeckte dabei eine Videokamera, deren zollrechtlicher Status nicht geklärt werden konnte. Der deutsche Tourist behauptete, die Kamera habe sichtbar im Rückteil des Wagens gelegen, während sie nach Auffassung des Zollbeamten "sorgfältig versteckt" war.

5 Der griechische Zoll sah in dem Verhalten des Touristen eine Zollzuwiderhandlung (falsche Anmeldung) und verhängte gegen ihn eine Geldbusse von 404 800 DR, den doppelten Betrag der Zölle und Abgaben, die bei ordnungsgemässer Einfuhr der fraglichen Ware zu erheben sind. Der doppelte Betrag der anwendbaren Zölle und Abgaben stellt nach griechischem Recht die Mindestsanktion bei falscher Anmeldung dar.

6 Da die Kommission der Auffassung ist, daß die verhängte Sanktion ausser Verhältnis zu der begangenen Zuwiderhandlung stehe und deshalb die Anwendung der Gemeinschaftsregelung über die vorübergehende abgabenfreie Verwendung der persönlichen Habe von Reisenden zu gefährden drohe, hat sie die vorliegende Vertragsverletzungsklage erhoben.

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 In ihrer Klageschrift führt die Kommission erstens aus, sie habe das Vertragsverletzungsverfahren deshalb eingeleitet, weil die im vorliegenden Fall durch die griechischen Zollbehörden verhängte Sanktion einer Verwaltungspraxis entspreche und der Fall des deutschen Touristen folglich nicht einmalig sei.

9 Die griechische Regierung macht geltend, diese Rüge sei weder im Aufforderungsschreiben noch in der mit Gründen versehenen Stellungnahme aufgeführt worden und demzufolge für unzulässig zu erklären.

10 Hierzu ist zunächst festzustellen, daß eine Klage nach Artikel 169 EWG-Vertrag nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe u. a. Urteil vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache C-347/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4747, Randnr. 16) nur auf Gründe und Angriffsmittel gestützt werden kann, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme bereits aufgeführt worden sind.

11 Ferner ist festzustellen, daß die Kommission sowohl im Stadium des Aufforderungsschreibens als auch der mit Gründen versehenen Stellungnahme ihren Vorwurf, die Griechische Republik habe gegen das Gemeinschaftsrecht verstossen, auf den konkreten Fall der gegen den fraglichen deutschen Touristen verhängten Geldbusse zu stützen suchte. Es gab weder einen Hinweis auf eine Verwaltungspraxis noch eine unmittelbare oder mittelbare Bezugnahme auf vergleichbare Fälle. Die Vorschriften des nationalen Rechts über die fragliche Zuwiderhandlung waren gleichfalls nicht Gegenstand einer ° sei es auch nur impliziten ° Beanstandung.

12 Folglich ist die Rüge betreffend die Verwaltungspraxis für unzulässig zu erklären. Die Begründetheit der vorliegenden Klage ist folglich nur im Hinblick auf die von den griechischen Behörden im vorliegenden Fall verhängte Geldbusse zu prüfen.

13 Die Kommission macht zweitens geltend, die Höhe der von den griechischen Behörden gegen den deutschen Touristen verhängten Geldbusse stehe ausser Verhältnis zur Schwere der festgestellten Zuwiderhandlung. Diese Sanktion verstosse folglich gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz, wie dieser in der Rechtsprechung des Gerichtshofes umschrieben worden sei.

14 Die Kommission führt insoweit aus, angesichts des Sachverhalts des vorliegenden Falles sei in dem Verhalten des deutschen Touristen ein blosser formaler Verstoß gegen eine zollrechtliche Verpflichtung zu sehen, der nicht mit einer Geldbusse geahndet werden könne, die den Wert der fraglichen Ware übersteige.

15 Die Griechische Republik wendet sich gegen die Darstellung der Kommission mit der Begründung, diese beruhe im wesentlichen auf einer subjektiven Auslegung des Verhaltens des deutschen Touristen durch die Kommission und insbesondere auf der Beurteilung des Grades seiner Schuld, der Schwere seiner Zuwiderhandlung und der in diesem Verhalten zum Ausdruck kommenden Absicht. Die Kommission habe jedoch ihre Feststellungen zu diesen Punkten in keiner Weise bewiesen.

16 Jedenfalls sei die Würdigung des Sachverhalts allein Sache der zuständigen nationalen Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats, und zwar unter Aufsicht der nationalen Gerichte.

17 Sie weist insoweit darauf hin, daß die zuständigen nationalen Behörden im Verhalten des Touristen keinen einfachen Fall einer "Nichtanmeldung" aufgrund eines Mißverständnisses, sondern vielmehr einen bewussten Versuch einer rechtswidrigen Einfuhr eines einer hohen steuerlichen Belastung unterliegenden Gegenstands von grossem Wert gesehen hätten. Dies sei die Grundlage für die Verhängung der Geldbusse gegen den Rechtsbrecher gewesen. Ihr Betrag sei nach den geltenden nationalen Rechtsvorschriften bemessen worden, da es keine gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung auf dem Gebiet der Zollzuwiderhandlungen gebe.

18 Die fragliche Geldbusse sei im Hinblick auf die Schwere der festgestellten Zuwiderhandlung angemessen und verstosse folglich nicht gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz.

19 Zunächst ist daran zu erinnern, daß die Mitgliedstaaten mangels einer gemeinschaftlichen Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Zollzuwiderhandlungen befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen (siehe u. a. Urteile vom 2. Februar 1977 in der Rechtssache 50/76, Amsterdam Bulb, Slg. 1977, 137, Randnr. 33, und vom 26. Oktober 1982 in der Rechtssache 240/81, Einberger, Slg. 1982, 3699, Randnr. 17). Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Verhältnismässigkeitsgrundsatz, zu beachten.

20 Wie der Gerichtshof bereits wiederholt entschieden hat, dürfen die administrativen oder strafrechtlichen Maßnahmen nicht über den Rahmen des zur Erreichung der verfolgten Ziele unbedingt Erforderlichen hinausgehen; ferner darf an die Kontrollmodalitäten keine Sanktion geknüpft sein, die so ausser Verhältnis zur Schwere der Tat steht, daß sie sich als eine Behinderung der im Vertrag verankerten Freiheiten erweist (siehe u. a. Urteile vom 11. November 1981 in der Rechtssache 203/80, Casati, Slg. 1981, 2595, Randnr. 27, vom 31. Januar 1984 in den Rechtssachen 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, und vom 21. September 1989 in der Rechtssache 68/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965).

21 Es ist zu untersuchen, ob die von den griechischen Behörden gegen den deutschen Touristen verhängte Geldbusse so ausser Verhältnis zur Schwere der Tat steht, daß sie, wie die Kommission vorbringt, die Regelung über die vorübergehende Verwendung der persönlichen Habe von Reisenden gefährden könnte.

22 Insoweit ist daran zu erinnern, daß die Kommission, wenn sie vor dem Gerichtshof auf Feststellung klagt, daß ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag verstossen hat, die behauptete Vertragsverletzung beweisen muß (Urteil vom 19. März 1991 in der Rechtssache C-249/88, Kommission/Belgien, Slg. 1991, I-1275, Randnr. 6).

23 Zwar behauptet die Kommission, der fragliche Tourist habe einen blossen formalen Verstoß gegen eine zollrechtliche Verpflichtung begangen und die griechischen Zollbehörden hätten seine Absichten nicht richtigt beurteilt und folglich eine unverhältnismässige Geldbusse gegen ihn verhängt. Sie hat diese Behauptung jedoch nicht einmal ansatzweise unter Beweis gestellt. Die Argumente der Kommission beruhen folglich ausschließlich auf Vermutungen, die bei Prüfung der vorliegenden Klage nicht berücksichtigt werden können.

24 Die Klage ist demgemäß abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Die Kommission trägt die Kosten.

Ende der Entscheidung

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