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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.02.1998
Aktenzeichen: C-212/96
Rechtsgebiete: Entscheidung 89/688/EWG


Vorschriften:

Entscheidung 89/688/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Entscheidung 89/688 betreffend die Sondersteuer "octroi de mer" in den französischen überseeischen Departements ist, soweit sie bezueglich der "octroi de mer" genannten Steuer für Erzeugnisse dieser Departements eine Befreiungsregelung zusammen mit einem Verfahren, das eine Kontrolle durch die Kommission gewährleistet, unter der Bedingung zulässt, daß bei der Gewährung der Befreiung die in der Entscheidung aufgestellten strengen Voraussetzungen eingehalten werden, nicht unvereinbar mit den Artikeln 9, 12 und 13 des Vertrages, und die in der Entscheidung vorgesehenen befristeten Ausnahmen von Artikel 95 sind nach Artikel 227 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 226 des Vertrages gerechtfertigt.

Aus Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 3 des Vertrages ergibt sich nämlich, daß die Organe der Gemeinschaft verpflichtet sind, von den im Vertrag, insbesondere in Artikel 226, vorgesehenen Verfahren in vollem Umfang Gebrauch zu machen, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der französischen überseeischen Departements zu ermöglichen. Nach Artikel 226 können dringliche Schutzmaßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht einseitig erlassen werden, sondern erfordern das Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane, die nur unbedingt erforderliche und zeitlich begrenzte Ausnahmen genehmigen können und vorrangig solche Maßnahmen wählen, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes am wenigsten stören.

Die Auferlegung der strengen Voraussetzungen in Artikel 2 Absatz 3 der Entscheidung 89/688, ausgelegt im Licht der in Artikel 226 des Vertrages für Abweichungen von den Vertragsbestimmungen vorgesehenen Grenzen, ist geeignet, die Vereinbarkeit des Systems der genau bestimmten Befreiungen mit den Vertragsbestimmungen zu sichern.


Urteil des Gerichtshofes vom 19. Februar 1998. - Paul Chevassus-Marche gegen Conseil régional de la Réunion. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal administratif de Saint-Denis de La Réunion - Frankreich. - Octroi de mer - Steuerregelung der französischen überseeischen Departements - Entscheidung 89/688/EWG - Abgaben zollgleicher Wirkung - Inländische Abgaben. - Rechtssache C-212/96.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal administratif Saint-Denis de la Réunion hat mit Urteil vom 5. Juni 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Juni 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 9, 12, 13 und 95 Absatz 2 EG-Vertrag sowie nach der Auslegung und der Gültigkeit der Entscheidung 89/688/EWG des Rates vom 22. Dezember 1989 betreffend die Sondersteuer "octroi de mer" in den französischen überseeischen Departements (ABl. L 399, S. 46) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit, in dem Herr Chevassus-Marche, ein im französischen Mutterland wohnender Handelsvertreter, die Nichtigerklärung des Beschlusses des Conseil régional de la Réunion vom 11. Dezember 1992 zur Festlegung der in diesem Departement anwendbaren neuen Sätze des "octroi de mer" mit der Begründung beantragt, daß die vor Ort hergestellten Waren davon befreit werden könnten.

3 Nach Ansicht des Klägers des Ausgangsverfahrens ist dieser Beschluß mit der Entscheidung 89/688 unvereinbar.

4 Die Entscheidung 89/688 wurde vom Rat auf der Grundlage der Artikel 227 Absatz 2 und 235 EWG-Vertrag erlassen, ebenso wie der am selben Tag erlassene Beschluß 89/687/EWG des Rates vom 22. Dezember 1989 zur Einführung eines Programms zur Lösung der spezifisch auf die Abgelegenheit und Insellage der französischen überseeischen Departements zurückzuführenden Probleme (POSEIDOM) (ABl. L 399, S. 39; im folgenden: POSEIDOM-Beschluß).

5 Aufgrund eines Gesetzes von 1946 wurde in den französischen überseeischen Departements (Départements français d'outre-mer; im folgenden: DOM) eine "octroi de mer" genannte Steuer (im folgenden: früherer "octroi de mer") erhoben, die alle Waren unabhängig von ihrem Ursprung (einschließlich der Waren aus dem französischen Mutterland und grundsätzlich auch der aus den übrigen DOM) aus Anlaß ihrer Verbringung in das jeweilige DOM traf. Dagegen waren Erzeugnisse dieses DOM vom früheren "octroi de mer" oder gleichartigen internen Abgaben befreit. Das Aufkommen aus dem früheren "octroi de mer" diente nach den Bestimmungen über die regionale Selbstverwaltung hauptsächlich der Finanzierung der Haushalte der örtlichen Körperschaften.

6 Ausweislich der ersten Begründungserwägung der Entscheidung 89/688 waren die für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der DOM erforderlichen Handlungsbefugnisse in Artikel 227 Absatz 2 des Vertrages nicht vorgesehen, weshalb "Artikel 235 des Vertrages heranzuziehen [war]".

7 Der fünften Begründungserwägung zufolge wies der frühere "octroi de mer" Elemente auf, die eine Reform erforderlich machten, damit die DOM unter Berücksichtigung ihrer schwachen Wirtschaftsstrukturen voll und ganz in den Prozeß der Vollendung des Binnenmarktes integriert werden konnten.

8 Nach der sechsten Begründungserwägung empfahl es sich, die Regelung des "octroi de mer" in eine interne Steuerregelung umzuwandeln, die auf alle in den DOM in Verkehr gebrachten Erzeugnisse anwendbar war.

9 Wie es in der siebten Begründungserwägung heisst, war es, damit Tätigkeiten in diesen Departements geschaffen wurden, fortbestehen und sich weiterentwickeln konnten, angezeigt, die lokalen Behörden zu ermächtigen, die einheimischen Tätigkeiten je nach den wirtschaftlichen Erfordernissen für einen Zeitraum von grundsätzlich höchstens zehn Jahren ganz oder teilweise von der Anwendung dieses neuen "octroi de mer" zu befreien.

10 Gemäß der neunten Begründungserwägung musste die Steuerregelung nach Ablauf dieses Zeitraums von zehn Jahren voll und ganz den Grundsätzen des Artikels 95 des Vertrages entsprechen, wobei Unterstützungsmaßnahmen, die den gleichen Zielen dienten, nach wie vor im Rahmen der regionalen Beihilfen in Übereinstimmung mit den Artikeln 92, 93 und 94 EG-Vertrag getroffen werden konnten. Die Kommission sollte dem Rat vor Ablauf der Zehnjahresfrist einen Bericht über die Durchführung der Regelung und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der DOM vorlegen, gegebenenfalls mit einem Vorschlag über die Beibehaltung der Befreiungsmöglichkeit.

11 Artikel 1 der Entscheidung 89/688 bestimmt:

"Die französischen Behörden treffen spätestens bis zum 31. Dezember 1992 die erforderlichen Maßnahmen, damit die derzeit in den überseeischen Departements geltende Steuer "octroi de mer" nach den Grundsätzen und Modalitäten der Artikel 2 und 3 unterschiedslos auf in diese Gebiete verbrachte Erzeugnisse und auf dort gewonnene oder hergestellte Erzeugnisse erhoben wird."

12 Artikel 2 dieser Entscheidung lautet:

"(1) Die Einnahmen aus dieser Steuer werden von den zuständigen Behörden in den einzelnen überseeischen Departements dazu verwendet, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in dem betreffenden Departement so wirksam wie möglich zu unterstützen. Die Kommission wird über die von den zuständigen Behörden zur Erreichung dieses Ziels getroffenen Maßnahmen so bald wie möglich unterrichtet.

(2) Die zuständigen Behörden in den einzelnen überseeischen Departements setzen einen Basissteuersatz fest. Dieser Satz kann je nach Warenkategorie geändert werden. Durch diese Änderung dürfen keinesfalls Diskriminierungen gegenüber Waren mit Herkunft aus der Gemeinschaft beibehalten oder eingeführt werden.

(3) Unter Berücksichtigung der für die überseeischen Departements gegebenen besonderen Zwänge und um das in Artikel 227 Absatz 2 des Vertrages festgelegte Ziel zu erreichen, können die lokalen Unternehmen entsprechend den wirtschaftlichen Erfordernissen für einen Zeitraum von höchstens zehn Jahren nach Einführung der betreffenden Regelung gemäß den in Artikel 3 vorgesehenen Bedingungen ganz oder teilweise von dieser Steuer befreit werden. Diese Freistellungsmaßnahmen sollen einen Beitrag zur Förderung bzw. Erhaltung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in den überseeischen Departements leisten und sich in Anbetracht des gemeinschaftlichen Charakters der Unterstützungsmaßnahmen in die wirtschaftliche und soziale Entwicklungsstrategie jedes einzelnen überseeischen Departements einfügen, ohne daß sich dadurch die Bedingungen für den Handelsverkehr in einem Masse verändern dürfen, das dem gemeinsamen Interesse abträglich wäre.

Die von den zuständigen Behörden der einzelnen überseeischen Departements festgelegten Freistellungsregelungen werden der Kommission mitgeteilt, die die Mitgliedstaaten davon unterrichtet und auf der Grundlage der vorgenannten Kriterien innerhalb von zwei Monaten dazu Stellung nimmt. Hat die Kommission innerhalb dieser Frist nicht Stellung genommen, so gilt die betreffende Regelung als gebilligt.

Die Kommission legt dem Rat spätestens fünf Jahre nach Einführung der Freistellungsregelung einen Bericht über deren Anwendung vor."

13 Artikel 3 der Entscheidung 89/688 bestimmt:

"Spätestens ein Jahr vor Ablauf der in Artikel 2 Absatz 3 genannten Frist unterbreitet die Kommission dem Rat einen Bericht über die Durchführung der in Artikel 2 festgelegten Regelung, um die Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen auf die Wirtschaft der überseeischen Departements sowie deren Beitrag zur Förderung bzw. Erhaltung von lokalen Wirtschaftstätigkeiten zu überprüfen. In diesem Bericht muß insbesondere dargelegt werden, wie diese Regelung die Aufholung des wirtschaftlichen und sozialen Rückstands der überseeischen Departements - insbesondere unter den Gesichtspunkten der Arbeitslosenquote, der Handelsbilanz und des regionalen Bruttoinlandsprodukts -, den freien Warenverkehr in der Gemeinschaft und die regionale Zusammenarbeit zwischen den überseeischen Departements und ihren Nachbarn beeinflusst hat.

Unter Berücksichtigung der Schlußfolgerungen des in Absatz 1 genannten Berichts unterbreitet die Kommission im Hinblick auf das in Artikel 227 Absatz 2 des Vertrags festgelegte Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der überseeischen Departments dem Rat gegebenenfalls gleichzeitig einen Vorschlag, mit dem die Möglichkeit von Freistellungen aufrechterhalten werden soll.

Unterstützungsmaßnahmen, die den gleichen Zielen dienen, können im Rahmen der regionalen Beihilfen getroffen werden."

14 Nach Artikel 4 der Entscheidung 89/688 wurde die Französische Republik bis zur Durchführung der in Artikel 1 vorgesehenen Reform ermächtigt, den früheren "octroi de mer" bis längstens 31. Dezember 1992 beizubehalten.

15 Artikel 5 bestimmt schließlich, daß die Entscheidung an die Französische Republik gerichtet ist.

16 Die Französische Republik erließ am 17. Juli 1992 das Gesetz Nr. 92-676 über den "octroi de mer" und zur Durchführung der Entscheidung 89/688 (im folgenden: neuer "octroi de mer").

17 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, daß die Lösung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits eine Beurteilung der Vereinbarkeit der Entscheidung 89/688 mit dem Vertrag voraussetzt, soweit nach Artikel 2 Absatz 3 dieser Entscheidung die örtliche Erzeugung der in den DOM ansässigen Unternehmen vom neuen "octroi de mer" befreit werden kann. Daher hat das Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist die Entscheidung 89/688/EWG des Rates, die zur Beibehaltung des "octroi de mer" auf eingeführte Erzeugnisse sowie auf Waren, die von Unternehmen hergestellt werden, die in einem überseeischen Departement ansässig sind, ermächtigt, insoweit mit dem EG-Vertrag, und zwar mit den Artikeln 9, 12 und 13 vereinbar, als sie die Freistellungsmöglichkeit zugunsten lokaler Unternehmen unter der einzigen Voraussetzung einräumt, daß diese Unternehmen zur Fortentwicklung bzw. Erhaltung einer wirtschaftlichen Tätigkeit beitragen?

2. Falls die erste Frage bejaht wird: Kann die Entscheidung 89/688 im Hinblick auf Artikel 95 Absatz 2 EG-Vertrag als Erlaubnis zur steuerlichen Differenzierung angesehen werden, die an wirtschaftlichen Zielen, die mit den Anforderungen des Vertrages und des abgeleiteten Rechts vereinbar sind, ausgerichtet und durch die in den überseeischen Departements herrschenden wirtschaftlichen Bedingungen gerechtfertigt ist?

18 Mit diesen beiden Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die Entscheidung 89/688 gültig ist. Diese Fragen betreffen nämlich die Vereinbarkeit von Artikel 2 Absatz 3 dieser Entscheidung mit den Artikeln 9, 12, 13 und 95 des Vertrages, soweit danach Erzeugnisse der DOM im Vergleich zu eingeführten Erzeugnissen vollständig befreit werden können oder zwischen diesen beiden Gruppen von Erzeugnissen zumindest bezueglich des Steuersatzes differenziert wird.

19 Es ist darauf hinzuweisen, daß es in der vorliegenden Rechtssache nicht darum geht, die Anwendungsmodalitäten der Entscheidung 89/688 zu beurteilen.

20 Nach ständiger Rechtsprechung kann ein und dieselbe Abgabe nicht gleichzeitig der Kategorie der Abgaben zollgleicher Wirkung im Sinne der Artikel 9 und 12 und derjenigen der inländischen Abgaben im Sinne des Artikels 95 des Vertrages angehören (vgl. Urteil vom 7. Mai 1987 in der Rechtssache 193/85, Co-Frutta, Slg. 1987, 2085, Randnrn. 8 bis 11). Das wesentliche Merkmal einer Abgabe zollgleicher Wirkung, das sie von einer inländischen Abgabe unterscheidet, besteht darin, daß sie ausschließlich das eingeführte Erzeugnis als solches erfasst, während die letztere sowohl für eingeführte wie auch für einheimische Erzeugnisse gilt, da sie Erzeugnisgruppen systematisch nach objektiven Kriterien unabhängig vom Ursprung der Erzeugnisse erfasst (vgl. Urteil vom 3. Februar 1981 in der Rechtssache 90/79, Kommission/Frankreich, Slg. 1981, 283, Randnrn. 12 bis 14).

21 In den Urteilen vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-163/90 (Legros u. a., Slg. 1992, I-4625) und vom 9. August 1994 in den Rechtssachen C-363/93 und C-407/93 bis C-411/93 (Lancry u. a., Slg. 1994, I-3957) hat der Gerichtshof entschieden, daß eine Abgabe wie der frühere "octroi de mer", die nur Einfuhren in die DOM belastet, eine Abgabe mit gleicher Wirkung wie ein Einfuhrzoll darstellt.

22 Daher hat der Gerichtshof in bezug auf Erzeugnisse aus der Gemeinschaft einschließlich des französischen Mutterlandes oder aus Ländern, mit denen ein Freihandelsabkommen besteht, entschieden, daß eine Abgabe wie der frühere "octroi de mer" mit den Bestimmungen des Vertrages (vgl. Urteil Lancry u. a.) oder des Abkommens (vgl. Urteil Legros u. a.) unvereinbar ist. Demzufolge hat er die Entscheidung 89/688 insoweit für ungültig erklärt, als sie die Französische Republik in Artikel 4 ermächtigte, die Regelung des früheren "octroi de mer" bis zum 31. Dezember 1992 beizubehalten (Urteil Lancry u. a., Nr. 2 des Tenors).

23 In bezug auf Erzeugnisse aus Drittländern, mit denen kein solches Abkommen besteht, hat der Gerichtshof ebenfalls entschieden, daß eine Abgabe wie der frühere "octroi de mer" mit dem Vertrag unvereinbar ist, es sei denn, daß sie unter Berücksichtigung aller ihrer wesentlichen Merkmale als am 1. Juli 1968 bestehende Abgabe anzusehen ist, sofern sie nicht erhöht worden ist (Urteil vom 7. November 1996 in der Rechtssache C-126/94, Cadi Surgelés u. a., Slg. 1996, I-5647).

24 Im Urteil vom 7. Dezember 1995 in der Rechtssache C-45/94 (Ayuntamiento de Ceuta, Slg. 1995, I-4385) hat der Gerichtshof die Vereinbarkeit einer Steuerregelung mit dem Vertrag geprüft, die grundsätzlich sowohl örtliche als auch eingeführte Waren erfasst, jedoch eine Befreiung der örtlichen Waren vorsieht. Der Gerichtshof hat entschieden, daß eine solche Abgabe, um bestimmen zu können, ob sie als Abgabe zollgleicher Wirkung im Sinne der Artikel 9 und 12 oder als inländische Abgabe im Sinne des Artikels 95 des Vertrages zu qualifizieren ist, im Hinblick auf den Inhalt der Regelungen, mit denen sie eingeführt wird, und die Art und Weise ihrer Erhebung durch die Verwaltung zu untersuchen ist. Eine Abgabe, die die eingeführten Waren oder bestimmte Gruppen dieser Waren, nicht aber die örtlichen Waren derselben Gruppe treffen kann, ist jedenfalls mit dem Vertrag unvereinbar.

25 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Urteil vom 22. März 1977 in der Rechtssache 78/76 (Steinike und Weinlig, Slg. 1977, 595, Randnrn. 28 und 30) entschieden hat, daß eine anläßlich oder wegen der Einfuhr geforderte Abgabe, die eingeführte Waren, nicht aber gleichartige einheimische Waren spezifisch trifft, die gleiche einschränkende Wirkung auf den freien Warenverkehr hat wie ein Zoll und daher mit den Artikeln 9, 12 und 13 des Vertrages unvereinbar ist. Ist die betreffende Abgabe dagegen Bestandteil einer allgemeinen inländischen Abgabenregelung, die einheimische und eingeführte Erzeugnisse systematisch nach denselben Merkmalen erfasst, so kann sie dennoch gegen Artikel 95 verstossen, wenn sie einheimische und eingeführte Erzeugnisse in bezug auf die Höhe der Abgabe, ihre Festsetzung oder die Art und Weise ihrer Erhebung unterschiedlich trifft.

26 Schon aus dem Wortlaut von Artikel 2 Absatz 3 der Entscheidung 89/688 ergibt sich aber, daß diese Bestimmung eine Regelung erlaubt, wonach die Erzeugnisse der DOM ganz oder teilweise vom neuen "octroi de mer" befreit sind. Eine solche Befreiungsregelung wäre mit den genannten Vertragsbestimmungen grundsätzlich unvereinbar. Ausserdem wird in der neunten Begründungserwägung der Entscheidung 89/688 festgestellt, daß die vorgesehene Befreiungsregelung mit Artikel 95 des Vertrages unvereinbar ist.

27 Es ist jedoch zu prüfen, ob der Vertrag es dem Rat gestattet, eine Befreiungsregelung für die örtliche Erzeugung zuzulassen, wie sie in der Entscheidung 89/688 zusammen mit einem Verfahren, das eine Kontrolle durch die Kommission gewährleistet, befristet und übergangsweise vorgesehen ist. Es steht fest, daß als Rechtsgrundlage für eine solche Ausnahme nur Artikel 227 des Vertrages, gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 235, in Betracht kommt.

28 Nach Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Vertrages gelten für die DOM mit Inkrafttreten des Vertrages seine besonderen und allgemeinen Bestimmungen über

- den freien Warenverkehr, - die Landwirtschaft, mit Ausnahme des Artikels 40 Absatz 4, - den freien Dienstleistungsverkehr, - die Wettbewerbsregeln, - die in den Artikeln 109h, 109i und 226 vorgesehenen Schutzmaßnahmen, - die Organe.

29 Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 2 des Vertrages sieht vor, daß die Bedingungen für die Anwendung der anderen, in Unterabsatz 1 nicht aufgeführten Bestimmungen des Vertrages binnen zwei Jahren nach dessen Inkrafttreten durch einstimmige Entscheidungen des Rates auf Vorschlag der Kommission beschlossen werden.

30 Nach Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 3 des Vertrages haben die Organe der Gemeinschaft im Rahmen der im Vertrag, insbesondere in Artikel 226, vorgesehenen Verfahren für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der DOM zu sorgen.

31 Artikel 226 des Vertrages lautet:

"(1) Während der Übergangszeit kann ein Mitgliedstaat bei Schwierigkeiten, welche einen Wirtschaftszweig erheblich und voraussichtlich anhaltend treffen oder welche die wirtschaftliche Lage eines bestimmten Gebietes beträchtlich verschlechtern können, die Genehmigung zur Anwendung von Schutzmaßnahmen beantragen, um die Lage wieder auszugleichen oder den betreffenden Wirtschaftszweig an die Wirtschaft des Gemeinsamen Marktes anzupassen.

(2) Auf Antrag des betreffenden Staates bestimmt die Kommission unverzueglich in einem Dringlichkeitsverfahren die ihres Erachtens erforderlichen Schutzmaßnahmen und legt gleichzeitig die Bedingungen und Einzelheiten ihrer Anwendung fest.

(3) Die nach Absatz 2 genehmigten Maßnahmen können von den Vorschriften dieses Vertrages abweichen, soweit und solange dies unbedingt erforderlich ist, um die in Absatz 1 genannten Ziele zu erreichen. Es sind mit Vorrang solche Maßnahmen zu wählen, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes am wenigsten stören."

32 Im Urteil vom 10. Oktober 1978 in der Rechtssache 148/77 (Hansen, Slg. 1978, 1787, Randnr. 10) hat der Gerichtshof ausgeführt, daß gemäß Artikel 227 Absatz 2 der Vertrag auf die DOM nur stufenweise Anwendung findet und darüber hinaus im grösstmöglichen Umfang Vorsorge für den Erlaß von Sonderbestimmungen trifft, die den spezifischen Erfordernissen dieser Teile des französischen Hoheitsgebiets angepasst sind.

33 Bezueglich der in Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 1 aufgeführten Bereiche hat der Gerichtshof in Randnummer 11 des Urteils Hansen festgestellt, daß in diesem Unterabsatz bestimmte Kapitel und Artikel ausdrücklich aufgeführt sind, die mit Inkrafttreten des Vertrages gelten sollten.

34 Dazu ist zu bemerken, daß die "Wettbewerbsregeln" im Dritten Teil ehemaliger Titel I, "Gemeinsame Regeln", nunmehr Titel V, "Gemeinsame Regeln betreffend den Wettbewerb, Steuerfragen und Angleichung der Rechtsvorschriften", Kapitel 1 des Vertrages zu den in Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 1 genannten Bestimmungen gehören, während die "Steuerlichen Vorschriften" in Titel V Kapitel 2 dort nicht aufgeführt sind.

35 Ausserdem hat der Gerichtshof in Randnummer 11 des Urteils Hansen entschieden, daß Artikel 95 des Vertrages, der zu diesen steuerlichen Vorschriften gehört, für die DOM nicht seit Inkrafttreten des Vertrages galt. Da der Rat keine Entscheidungen auf Vorschlag der Kommission gemäß Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 2 erlassen hatte, erlangten jedoch alle anderen Bestimmungen des Vertrages einschließlich des Artikels 95 ohne weiteres Geltung für die DOM.

36 Im Urteil Lancry u. a. hat der Gerichtshof in Randnummer 37 klargestellt, daß Artikel 227 Absatz 2 dadurch, daß er den Rat ausdrücklich ermächtigt, die Bedingungen für die Anwendung nur derjenigen Bestimmungen des Vertrages zu beschließen, die in Unterabsatz 1 nicht aufgezählt sind, die Möglichkeit ausschließt, von der Anwendung der in diesem Unterabsatz genannten Bestimmungen einschließlich derjenigen über den freien Warenverkehr in den DOM abzuweichen. Würde Artikel 235 des Vertrages dahin ausgelegt, daß er es dem Rat erlaubt, die Anwendung der Artikel 9, 12 und 13 des Vertrages in den DOM - und sei es auch nur vorübergehend - auszusetzen, so würde die grundlegende Unterscheidung, die in Artikel 227 Absatz 2 getroffen wird, verkannt und Unterabsatz 1 dieses Absatzes seine praktische Wirksamkeit genommen.

37 Daraus folgt, daß der Rat jedenfalls keine allgemeine oder systematische Befreiungsregelung zulassen kann, die entgegen den Artikeln 9, 12 und 13 des Vertrages auf die Wiedereinführung einer Abgabe zollgleicher Wirkung hinausliefe.

38 Die französische Regierung und die Kommission sind der Ansicht, daß der Rat nach Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 2 in Verbindung mit Unterabsatz 3 einstimmig auf Vorschlag der Kommission auch nach Ablauf der Frist von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages die Anwendung anderer Vertragsbestimmungen als der in Unterabsatz 1 genannten, also auch die des Artikels 95 des Vertrages, auf die DOM den jeweiligen Umständen anpassen könne. Der Gerichtshof habe in Randnummer 11 des Urteils Hansen festgestellt, daß nach Inkrafttreten sämtlicher Vertragsbestimmungen für die DOM die Möglichkeit offenbleibe, nachträglich den Erfordernissen dieser Gebiete entsprechende Sondermaßnahmen zu treffen. Die mit der Entscheidung 89/688 zugelassenen Befreiungen seien somit in Anbetracht der erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen die DOM konfrontiert seien und die auf ihrer Insellage, ihrer Abgelegenheit und ihrem spezifischen Entwicklungsbedarf beruhten, nach Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 3 des Vertrages gerechtfertigt.

39 Die Kommission befürwortet eine entsprechende Anwendung der Regelung über die staatlichen Beihilfen. Steuerbefreiungen zugunsten örtlicher Erzeugnisse und lokaler Fertigungsbetriebe könnten Beihilfen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der DOM als Gebiete darstellen, in denen die Lebenshaltung aussergewöhnlich niedrig sei oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrsche.

40 Aus Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 3 des Vertrages ergibt sich, daß die Organe der Gemeinschaft verpflichtet sind, von den im Vertrag, insbesondere in Artikel 226, vorgesehenen Verfahren in vollem Umfang Gebrauch zu machen, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der DOM zu ermöglichen.

41 Artikel 226 des Vertrages galt zwar seinem Wortlaut nach nur während der Übergangszeit; Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 3 des Vertrages verweist jedoch auf die in diesem Artikel vorgesehenen Verfahren. Danach können dringliche Schutzmaßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht einseitig erlassen werden, sondern erfordern das Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane, die nur unbedingt erforderliche und zeitlich begrenzte Ausnahmen genehmigen können und vorrangig solche Maßnahmen wählen, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes am wenigsten stören.

42 Derartige Voraussetzungen, die die Möglichkeit einer Abweichung von den Vertragsbestimmungen einschränken, sind im vorliegenden Zusammenhang um so erforderlicher, als zu den Vertragsbestimmungen, die schon seit Ablauf der Zweijahresfrist für die DOM gelten, nicht nur Artikel 95 des Vertrages, der die Bestimmungen über die Abschaffung der Zölle und der Maßnahmen gleicher Wirkung ergänzt (Urteil vom 27. Februar 1980 in der Rechtssache 168/78, Kommission/Frankreich, Slg. 1980, 347, Randnr. 4), sondern auch die Bestimmungen über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und anderer natürlicher und juristischer Personen gehören. Es kann nämlich nicht zugelassen werden, daß die Gemeinschaftsangehörigen im Laufe der Zeit durch Entscheidungen des Rates im Genuß der in den Vertragsbestimmungen im Sinne von Artikel 227 Absatz 2 Unterabsatz 2 verankerten Rechte, die zu ihrem eigenen Bestand an Rechten gehören, beeinträchtigt werden.

43 Daher ist die Entscheidung 89/688 daraufhin zu prüfen, ob sie die genannten Voraussetzungen erfuellt.

44 Erstens wurde die Entscheidung 89/688 vom Rat im Anschluß an den POSEIDOM-Beschluß auf der Grundlage der Artikel 227 Absatz 2 und 235 des Vertrages erlassen. Das im POSEIDOM-Beschluß vorgesehene Programm verstärkt die Unterstützung, die den DOM von der Gemeinschaft gewährt wird, um ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu fördern, da sie unter einem grossen strukturbedingten Rückstand leiden.

45 Zweitens stellt die in Artikel 2 Absatz 3 der Entscheidung 89/688 zugelassene Befreiungsregelung eine Ausnahme von der in den Artikeln 1 und 2 dieser Entscheidung aufgestellten allgemeinen Regel dar, wonach die Regelung des neuen "octroi de mer" unterschiedslos für in die DOM verbrachte und für dort gewonnene oder hergestellte Erzeugnisse gilt.

46 Drittens ist die Befreiungsregelung als Hilfsmaßnahme für die einheimische Erzeugung, die unter durch ihre Abgelegenheit und ihre Insellage bedingte Schwierigkeiten zu leiden hat, an strenge Voraussetzungen geknüpft.

47 Zunächst sollen die Befreiungen nach Artikel 2 Absatz 3 Unterabsatz 1 der Entscheidung 89/688 einen Beitrag zur Förderung bzw. Erhaltung einer wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeit in den DOM leisten und sich in Anbetracht des gemeinschaftlichen Charakters der Unterstützungsmaßnahmen in die wirtschaftliche und soziale Entwicklungsstrategie jedes einzelnen DOM einfügen.

48 Dieser gemeinschaftliche Unterstützungsrahmen, der gemeinschaftlichen Strukturmaßnahmen vorbehalten ist, wird von der Kommission auf der Grundlage eines von dem betreffenden Mitgliedstaat eingereichten Regionalentwicklungsplans festgelegt, der in der Verordnung (EWG) Nr. 2081/93 des Rates vom 20. Juli 1993 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 über Aufgaben und Effizienz der Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen untereinander sowie mit denen der Europäischen Investitionsbank und der anderen vorhandenen Finanzinstrumente (ABl. L 193, S. 5) vorgesehen ist.

49 Die Entscheidung erlaubt somit nur Befreiungen, die erforderlich, verhältnismässig und genau bestimmt sind.

50 Sodann wird die Befreiungsregelung nach Artikel 2 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Entscheidung 89/688 der Kommission mitgeteilt, die auf der Grundlage der Voraussetzungen für eine Befreiung - zu denen die gehört, daß sich die Bedingungen für den Handelsverkehr nicht in einem Masse verändern dürfen, das dem gemeinsamen Interesse abträglich wäre - innerhalb von zwei Monaten dazu Stellung nimmt, was eine strikte Kontrolle der einheimischen Erzeugung, die in den Genuß der Befreiung kommt, durch die Kommission ermöglicht.

51 Schließlich muß die Kommission nach Artikel 3 Absatz 1 der Entscheidung 89/688 dem Rat einen Bericht über die Durchführung der Befreiungsregelung unterbreiten, um deren Auswirkungen insbesondere auf den freien Warenverkehr in der Gemeinschaft zu überprüfen.

52 Die Auferlegung der strengen Voraussetzungen in Artikel 2 Absatz 3 der Entscheidung 89/688, ausgelegt im Licht der in Artikel 226 des Vertrages für Abweichungen von den Vertragsbestimmungen vorgesehenen Grenzen, ist geeignet, die Vereinbarkeit des Systems der genau bestimmten Befreiungen mit den Vertragsbestimmungen zu sichern.

53 Daraus folgt, daß die Entscheidung 89/688, soweit sie bezueglich der "octroi de mer" genannten Steuer eine Befreiungsregelung unter der Bedingung zulässt, daß bei der Gewährung der Befreiung die in der Entscheidung aufgestellten strengen Voraussetzungen eingehalten werden, nicht unvereinbar ist mit den Artikeln 9, 12 und 13 des Vertrages und daß die in der Entscheidung vorgesehenen befristeten Ausnahmen von Artikel 95 nach Artikel 227 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 226 des Vertrages gerechtfertigt sind.

54 Daher ist auf die Fragen des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß die Prüfung der Entscheidung 89/688, soweit sie ein System der Befreiung von der "octroi de mer" genannten Steuer zulässt, das an in der Entscheidung aufgestellte strenge Voraussetzungen geknüpft ist, nichts ergeben hat, was ihre Gültigkeit beeinträchtigen könnte.

Kostenentscheidung:

Kosten

55 Die Auslagen der französischen Regierung, des Rates der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunal administratif Saint-Denis de la Réunion mit Urteil vom 5. Juni 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Die Prüfung der Entscheidung 89/688/EWG des Rates vom 22. Dezember 1989 betreffend die Sondersteuer "octroi de mer" in den französischen überseeischen Departements hat, soweit sie ein System der Befreiung von dieser Sondersteuer zulässt, das an in der Entscheidung aufgestellte strenge Voraussetzungen geknüpft ist, nichts ergeben, was ihre Gültigkeit beeinträchtigen könnte.

Ende der Entscheidung

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