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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.07.1991
Aktenzeichen: C-213/90
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 7
EWGV Art. 48
EWGV Art. 117
EWGV Art. 118
EWGV Art. 118a
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 ist besonderer Ausdruck des Diskriminierungsverbots in dem spezifischen Bereich der Beteiligung von Arbeitnehmern an Gewerkschaften und ihren Tätigkeiten; seine Bedeutung darf nicht aufgrund von Erwägungen beschränkt werden, die auf die Rechtsform der fraglichen Einrichtung abstellen. Die Ausübung der in Artikel 8 Absatz 1 genannten gewerkschaftlichen Rechte geht über den Rahmen der Gewerkschaften im eigentlichen Sinne hinaus und umfasst insbesondere die Teilnahme der Arbeitnehmer an Einrichtungen, die zwar nicht die Rechtsnatur von Gewerkschaften aufweisen, aber dennoch der Verteidigung und Vertretung von Arbeitnehmerinteressen vergleichbare Funktionen ausüben.

Diese Bestimmung steht daher nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die ausländischen Arbeitnehmern das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zu einer Berufskammer verweigern, der sie kraft Rechtsvorschrift zugehören und an die sie Beiträge entrichten, die mit der Verteidigung der Interessen der ihr zugehörigen Arbeitnehmer betraut ist und eine beratende Funktion im Gesetzgebungsbereich ausübt. Weder die Rechtsnatur der fraglichen Kammer nach nationalem Recht noch der Umstand, daß einige ihrer Funktionen eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich bringen könnten, sind geeignet, den Ausschluß der Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten von der Teilnahme an den Wahlen zur Berufskammer zu rechtfertigen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 4. JULI 1991. - ASSOCIATION DE SOUTIEN AUX TRAVAILLEURS IMMIGRES (ASTI) GEGEN CHAMBRE DES EMPLOYES PRIVES. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - GROSSHERZOGTUM LUXEMBURG. - FREIZUEGIGKEIT DER ARBEITNEHMER - GLEICHBEHANDLUNG - TEILNAHME AN DER VERWALTUNG VON OEFFENTLICH-RECHTLICHEN EINRICHTUNGEN UND AUSUEBUNG EINER OEFFENTLICH-RECHTLICHEN TAETIGKEIT. - RECHTSSACHE C-213/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour de cassation Luxemburg hat mit Urteil vom 12. Juli 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 7, 48, 117, 118, 118a und 189 Absatz 2 EWG-Vertrag sowie 7 und 8 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2), in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 312/76 des Rates vom 9. Februar 1976 (ABl. L 39, S. 2), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der ASTI und der Chambre des employés privés (Privatbeamtenkammer).

3 Die Privatbeamtenkammer wurde durch das luxemburgische Gesetz vom 4. April 1924 über die Errichtung von wählbaren Berufskammern (Kammergesetz) errichtet. Dieses Gesetz führte auch die Landwirtschaftskammer, die Handwerkerkammer, die Handelskammer sowie die Arbeiterkammer ein. Mit Gesetz vom 12. Februar 1964 wurde die Chambre des fonctionnaires et employés publics (Kammer für Beamte und öffentliche Bedienstete) errichtet, so daß mit Ausnahme der freien Berufe alle Berufsfelder erfasst sind. Als allgemeine Aufgabe ist den Berufskammern vom Gesetz die Wahrnehmung und der Schutz der Interessen ihrer Berufsangehörigen, das heisst ihrer Kammerangehörigen, zugewiesen.

4 Die Berufskammern sind berechtigt, die Regierung mit Vorschlägen zu befassen, die von letzterer zu prüfen und der Abgeordnetenkammer zu unterbreiten sind. Der Gesetzgeber hat zu allen die Berufskammern betreffenden Gesetzen und Verordnungen deren Gutachten einzuholen.

5 Nach Artikel 6 des Kammergesetzes sind als Wähler der Kammermitglieder nur luxemburgische Staatsangehörige zugelassen. Zur Deckung ihrer Ausgaben kann die Berufskammer gemäß Artikel 3 in der Fassung des Gesetzes vom 3. Juni 1926 von ihren Berufsangehörigen einen Beitrag erheben, der vom Arbeitgeber von den Bezuegen oder Gehältern einbehalten wird. Vor dieser Gesetzesänderung konnte der Beitrag nur von den Wählern erhoben werden.

6 Mit Schreiben vom 17. März 1987 unterrichtete die ASTI die Privatbeamtenkammer, daß sie als Arbeitgeberin und mit dem Einverständnis ihrer drei ausländischen Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten seien, beschlossen habe, die Beiträge an diese Kammer nicht zu zahlen, da es ihr widersinnig erscheine, Beiträge für Arbeitnehmer an eine Einrichtung zu zahlen, von der diese ausgeschlossen seien.

7 Die Privatbeamtenkammer erhob Klage beim Tribunal de paix Luxemburg, das die ASTI mit Urteil vom 13. Oktober 1989 zur Zahlung der nicht entrichteten Beiträge verurteilte. Die ASTI legte gegen dieses Urteil bei der Cour de cassation Luxemburg Rechtsmittel ein, die das Verfahren mit Urteil vom 12. Juli 1990 bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofes über die folgende Frage ausgesetzt hat:

Läuft es den Artikeln 7, 48, 117, 118, 118a und 189 Absatz 2 EWG-Vertrag sowie den Artikeln 7 und 8 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates oder einigen dieser Vorschriften zuwider, wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates einen ausländischen Arbeitnehmer mit der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates, dessen Zugehörigkeit zu einer Berufskammer zwingend vorgeschrieben ist, zur Zahlung von Beiträgen verpflichten, ihm jedoch das Recht verweigern, an der Wahl der Personen teilzunehmen, aus denen diese Kammer besteht, und dieses Recht allein den Inländern vorbehalten?

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Unter Berücksichtigung der Begründung des Vorlageurteils und der Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ist die Frage des nationalen Gerichts dahin zu verstehen, ob das Gemeinschaftsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die ausländischen Arbeitnehmern das aktive Wahlrecht bei den Wahlen einer Berufskammer verweigern, der sie kraft Rechtsvorschriften zugehören, an die sie Beiträge entrichten, die mit der Verteidigung der Interessen der ihr zugehörigen Arbeitnehmer betraut ist und die eine beratende Funktion im Bereich der Gesetzgebung ausübt.

10 Aus den Akten geht hervor, daß die der Privatbeamtenkammer zugehörigen Personen Arbeitnehmer sind. Folglich ist die Vereinbarkeit der oben bezeichneten unterschiedlichen Behandlung von Inländern und Ausländern mit dem Gemeinschaftsrecht anhand der Vorschriften über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und nicht anhand Artikel 7 EWG-Vertrag zu prüfen, da Artikel 7 autonom nur auf gemeinschaftsrechtlich geregelte Fallgestaltungen angewendet werden kann, für die der EWG-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (vgl. zuletzt Urteil vom 7. März 1991 in der Rechtssache C-10/90, Masgio, Slg. 1991, I-1119).

11 Auf dem Gebiet der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer ist das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag geregelt. Dieses Verbot wird in der fünften und sechsten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1612/68 und in mehreren Einzelvorschriften dieser Verordnung, darunter insbesondere die von der Frage des nationalen Gerichts betroffenen Artikel 7 und 8, wiederholt.

12 Als erstes ist die letztgenannte Vorschrift, die am spezifischsten ist, zu prüfen.

13 Artikel 8 Absatz 1 Unterabsatz 1 lautet:

"Ein Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, hat Anspruch auf gleiche Behandlung hinsichtlich der Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und der Ausübung gewerkschaftlicher Rechte, einschließlich des Wahlrechts sowie des Zugangs zur Verwaltung oder Leitung von Gewerkschaften. Er kann von der Teilnahme an der Verwaltung von Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Ausübung eines öffentlich-rechtlichen Amtes ausgeschlossen werden. Er hat ferner das Recht auf Wählbarkeit zu den Organen der Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben."

14 Im Gegensatz zur Kommission und zur ASTI bestreitet die luxemburgische Regierung die Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens mit der Begründung, daß die fragliche Berufskammer eine gesetzlich geregelte, institutionalisierte Form der Vertretung sei, daß die Zugehörigkeit zwingend vorgeschrieben sei und daß sie sich so von den freien gewerkschaftlichen Strukturen unterscheide.

15 Die Bedeutung von Artikel 8 Absatz 1, der besonderer Ausdruck des Diskriminierungsverbots in dem spezifischen Bereich der Beteiligung von Arbeitnehmern an Gewerkschaften und ihren Tätigkeiten ist, darf nicht aufgrund von Erwägungen beschränkt werden, die auf die Rechtsform der fraglichen Einrichtung abstellen.

16 Die Ausübung der in dieser Bestimmung genannten gewerkschaftlichen Rechte geht über den Rahmen der Gewerkschaften im eigentlichen Sinne hinaus und umfasst insbesondere die Teilnahme der Arbeitnehmer an Einrichtungen, die zwar nicht die Rechtsnatur von Gewerkschaften aufweisen, aber dennoch der Verteidigung und Vertretung von Arbeitnehmerinteressen vergleichbare Funktionen ausüben.

17 Folglich ist das Recht zur Teilnahme an der Wahl zu einer Körperschaft wie der Privatbeamtenkammer, deren allgemeine Aufgabe, die Interessen der zu ihr gehörenden Arbeitnehmer wahrzunehmen, ebenso wie die meisten Funktionen kennzeichnend für die Aufgaben einer Gewerkschaft ist, als ein gewerkschaftliches Recht im Sinne der erwähnten Bestimmung anzusehen, ohne daß überhaupt auf die Frage einzugehen ist, ob eine solche Berufskammer als Gewerkschaft einzuordnen ist oder nicht.

18 Die luxemburgische Regierung macht hilfsweise geltend, daß eine solche Berufskammer jedenfalls unter die in Artikel 8 Absatz 1 enthaltene Ausnahmeregelung falle, da sie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts sei und durch ihre beratende Funktion an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse teilnehme.

19 Wie sich schon aus dem Urteil vom 17. Dezember 1980 in der Rechtssache 149/79 (Kommission/Belgien, Slg. 1980, 3881, Randnr. 15) ergibt, entspricht der in Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 vorgesehene Ausschluß von der "Teilnahme an der Verwaltung von Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Ausübung eines öffentlich-rechtlichen Amtes" der Ausnahmeregelung des Artikels 48 Absatz 4 EWG-Vertrag; er erlaubt lediglich, Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten eventuell von bestimmten Tätigkeiten auszuschließen, die mit der Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verbunden sind.

20 Folglich kann der Ausschluß von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten vom Wahlrecht bei den Berufskammerwahlen nicht gemäß Artikel 8 Absatz 1 mit der Rechtsnatur der fraglichen Kammer nach nationalem Recht und auch nicht mit dem Umstand gerechtfertigt werden, daß einige ihrer Funktionen eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich bringen könnten.

21 Auf die gestellte Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die ausländischen Arbeitnehmern das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zu einer Berufskammer verweigern, der sie kraft Rechtsvorschrift zugehören, an die sie Beiträge entrichten, die mit der Verteidigung der Interessen der ihr zugehörigen Arbeitnehmer betraut ist und die eine beratende Funktion im Gesetzgebungsbereich ausübt.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der luxemburgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Cour de cassation Luxemburg mit Urteil vom 12. Juli 1990 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft steht nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die ausländischen Arbeitnehmern das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zu einer Berufskammer verweigern, der sie kraft Rechtsvorschrift zugehören, an die sie Beiträge entrichten, die mit der Verteidigung der Interessen der ihr zugehörigen Arbeitnehmer betraut ist und die eine beratende Funktion im Gesetzgebungsbereich ausübt.

Ende der Entscheidung

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