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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.04.1996
Aktenzeichen: C-214/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Verordnung (EWG) Nr. 1612/68


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 48 Abs. 2
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 Art. 7 Abs. 1
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 Art. 7 Abs. 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 48 Absatz 2 des Vertrages und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der ständig in einem Drittland lebt und aufgrund eines dort geschlossenen und dauernd dort erfuellten Arbeitsvertrags von einem anderen Mitgliedstaat bei dessen Botschaft in diesem Drittland beschäftigt wird, hinsichtlich aller Aspekte des Arbeitsverhältnisses anwendbar, die das Recht des den Betroffenen beschäftigenden Mitgliedstaats regelt.

Denn Artikel 227 des Vertrages, der den Geltungsbereich des Vertrages und grundsätzlich auch des abgeleiteten Rechts festlegt, schließt nicht aus, daß die Regeln des Gemeinschaftsrechts auch ausserhalb des Gemeinschaftsgebiets Wirkungen entfalten können, so insbesondere auf Arbeitsverhältnisse, die sich zwar auf eine ausserhalb des Gemeinschaftsgebiets ausgeuebte Berufstätigkeit beziehen, aber einen hinreichend engen Bezug zu diesem Gebiet behalten; dies schließt auch jene Fälle ein, in denen das Arbeitsverhältnis einen hinreichend engen Bezug zum Recht eines Mitgliedstaats und damit zu den einschlägigen Regeln des Gemeinschaftsrechts besitzt.


Urteil des Gerichtshofes vom 30. April 1996. - Ingrid Boukhalfa gegen Bundesrepublik Deutschland. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesarbeitsgericht - Deutschland. - In einem Drittland ansässiger Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats - Tätigkeit als Ortskraft in der Botschaft eines anderen Mitgliedstaats in diesem Drittland - Unterschiedliche Behandlung im Verhältnis zu den Ortskräften, die dem die Auslandsvertretung unterhaltenden Staat angehören - Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts - Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. - Rechtssache C-214/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundesarbeitsgericht hat mit Beschluß vom 23. Juni 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Juli 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 48 Absatz 2 EG-Vertrag und des Artikels 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Boukhalfa (im folgenden: Klägerin) und der Bundesrepublik Deutschland.

3 Die Rechtsstellung des Personals der deutschen Auslandsvertretungen, das sich aus vom Auswärtigen Amt entsandten Beschäftigten und aus nichtentsandten Beschäftigten (Ortskräften) zusammensetzt, wird durch das Gesetz über den Auswärtigen Dienst (GAD, BGBl. I S. 1842) geregelt. Das GAD unterscheidet zwischen deutschen und nichtdeutschen Ortskräften.

4 Die Rechtsverhältnisse der deutschen Ortskräfte richten sich gemäß § 32 GAD nach den deutschen Tarifverträgen und sonstigen Bestimmungen des deutschen Rechts. Für ihre Arbeitsbedingungen gilt insbesondere der deutsche Tarifvertrag vom 28. September 1973.

5 Nach § 33 GAD werden die Arbeitsverhältnisse nichtdeutscher Ortskräfte unter Berücksichtigung des Rechts im Gastland nach der Ortsüblichkeit gestaltet. Ferner werden danach unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse angemessene soziale Bedingungen gewährleistet.

6 Die Klägerin besitzt die belgische Staatsangehörigkeit. Sie ist seit dem 1. April 1982 bei der Deutschen Botschaft in Algier als Ortskraft in der Paßstelle beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis wurde in Algier begründet. Bereits zuvor war die Klägerin in Algerien ansässig; dort hat sie ihren ständigen Aufenthaltsort. Gemäß § 33 GAD unterliegt das Arbeitsverhältnis algerischem Recht.

7 Mit Schreiben vom 19. November 1991 verlangte die Klägerin Gleichbehandlung mit den deutschen Ortskräften, für die § 32 GAD gilt. Dieses Begehren wurde von der Bundesrepublik Deutschland abgelehnt.

8 Die Klägerin erhob daraufhin Klage beim Arbeitsgericht Bonn. Zur Begründung berief sie sich auf die Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68, nach denen jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten unzulässig ist.

9 Die Bundesrepublik Deutschland machte geltend, Gemeinschaftsrecht sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sein räumlicher Geltungsbereich gemäß Artikel 227 EG-Vertrag auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschränkt sei; die Klägerin befinde sich nicht in der Lage eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt sei, sie habe vielmehr immer in einem Drittland gearbeitet.

10 Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Im Berufungsverfahren hob das Landesarbeitsgericht in Köln das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab.

11 Im Rahmen des Revisionsverfahrens hat das Bundesarbeitsgericht dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 dahingehend auszulegen, daß eine unterschiedliche Behandlung wegen der Staatsangehörigkeit in bezug auf Arbeitsbedingungen unterbleiben muß, wenn das Arbeitsverhältnis einer ständig in Algier lebenden belgischen Staatsangehörigen, die als Paßstellenhilfskraft an der Deutschen Botschaft in Algier tätig ist, dort begründet wurde und ausschließlich und dauernd dort erfuellt wird?

12 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats anwendbar ist, der ständig in einem Drittland lebt und aufgrund eines dort geschlossenen und dauernd dort erfuellten Arbeitsvertrags von einem anderen Mitgliedstaat bei dessen Botschaft in diesem Drittland beschäftigt wird.

13 Nicht nur Artikel 48 EG-Vertrag, sondern als auf der Grundlage des Vertrages erlassene Handlungen der Gemeinschaftsorgane auch Verordnungen haben grundsätzlich den gleichen räumlichen Geltungsbereich wie der Vertrag selbst (Urteil vom 16. Februar 1978 in der Rechtssache 61/77, Kommission/Irland, Slg. 1978, 417, Randnr. 46).

14 Der Geltungsbereich des Vertrages wird durch seinen Artikel 227 festgelegt. Dieser Artikel schließt jedoch nicht aus, daß die Regeln des Gemeinschaftsrechts auch ausserhalb des Gemeinschaftsgebiets Wirkungen entfalten können.

15 So können nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes Gemeinschaftsvorschriften auf eine ausserhalb des Gemeinschaftsgebiets ausgeuebte Berufstätigkeit anwendbar sein, wenn das Arbeitsverhältnis einen hinreichend engen Bezug zum Gemeinschaftsgebiet behält (siehe in diesem Sinn insbesondere Urteile vom 12. Juli 1984 in der Rechtssache 237/83, Prodest, Slg. 1984, 3153, Randnr. 6, vom 27. September 1989 in der Rechtssache 9/88, Lopes da Veiga, Slg. 1989, 2989, Randnr. 15, und vom 29. Juni 1994 in der Rechtssache C-60/93, Aldewereld, Slg. 1994, I-2991, Randnr. 14). Dieser Grundsatz ist dahingehend zu verstehen, daß er auch für Fälle gilt, in denen das Arbeitsverhältnis einen hinreichend engen Bezug zum Recht eines Mitgliedstaats und damit zu den einschlägigen Regeln des Gemeinschaftsrechts besitzt.

16 Im vorliegenden Fall gilt ausweislich der Akten deutsches Recht für mehrere Teilfragen bezueglich der Lage der Klägerin. Erstens wurde ihr Arbeitsvertrag nach dem Recht des Mitgliedstaats geschlossen, der sie beschäftigt; ihre Arbeitsbedingungen bestimmen sich nur aufgrund einer Verweisung dieses Rechts nach algerischem Recht. Zweitens enthält der Vertrag eine Klausel, nach der der Gerichtsstand für alle sich aus dem Vertrag ergebenden Streitigkeiten zwischen den Parteien Bonn und später Berlin ist. Drittens gehört die Klägerin hinsichtlich der Rentenversicherung dem deutschen Sozialversicherungssystem an, sie ist in Deutschland, wenngleich nur beschränkt, einkommensteuerpflichtig.

17 In Fällen wie dem der Klägerin ist das Gemeinschaftsrecht und damit das in den genannten Gemeinschaftsbestimmungen niedergelegte Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit hinsichtlich aller Aspekte des Arbeitsverhältnisses anwendbar, die das Recht eines Mitgliedstaats regelt.

18 Dagegen macht die deutsche Regierung geltend, die Arbeitsbedingungen der Klägerin unterlägen algerischem Recht. Infolgedessen seien die genannten Gemeinschaftsvorschriften über das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nicht anwendbar.

19 Dazu ist festzustellen, daß das algerische Recht, wie in der Randnummer 16 ausgeführt, für die Arbeitsbedingungen der Klägerin nur in Anwendung von § 33 GAD maßgebend ist, dessen Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht im Ausgangsverfahren gerade geltend gemacht wird.

20 Die deutsche Regierung wendet ausserdem ein, die Klägerin habe ihren Wohnsitz auch schon vor Abschluß des Arbeitsvertrags in Algerien, nicht jedoch in einem der Mitgliedstaaten gehabt. Wie vom vorlegenden Gericht dargelegt, sei ferner der Arbeitsvertrag in Algerien geschlossen worden und werde dauernd dort erfuellt.

21 Diese Umstände sind jedoch nicht geeignet, die genannten Anknüpfungspunkte, die zum Gemeinschaftsrecht führen, in Frage zu stellen.

22 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der ständig in einem Drittland lebt und aufgrund eines dort geschlossenen und dauernd dort erfuellten Arbeitsvertrags von einem anderen Mitgliedstaat bei dessen Botschaft in diesem Drittland beschäftigt wird, hinsichtlich aller Aspekte des Arbeitsverhältnisses anwendbar ist, die das Recht des den Betroffenen beschäftigenden Mitgliedstaats regelt.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Bundesarbeitsgericht mit Beschluß vom 23. Juni 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der ständig in einem Drittland lebt und aufgrund eines dort geschlossenen und dauernd dort erfuellten Arbeitsvertrags von einem anderen Mitgliedstaat bei dessen Botschaft in diesem Drittland beschäftigt wird, hinsichtlich aller Aspekte des Arbeitsverhältnisses anwendbar, die das Recht des den Betroffenen beschäftigenden Mitgliedstaats regelt.

Ende der Entscheidung

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