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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.07.2002
Aktenzeichen: C-224/98
Rechtsgebiete: EGV, Verordnung Nr. 1612/68/EWG


Vorschriften:

EGV Art. 48
Verordnung Nr. 1612/68/EWG Art. 7
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Unionsbürgerstatus soll bestimmungsgemäß der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, die, wenn sie sich in der gleichen Situation befinden, aufgrund dieses Status im sachlichen Geltungsbereich des EG-Vertrags vorbehaltlich der hiervon ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Anspruch auf gleiche rechtliche Behandlung haben. In den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen u. a. Situationen, in denen es um die Ausübung der im EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten, namentlich der in Artikel 8a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 18 EG) verliehenen Freiheit geht.

Da ein Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats hat, die sich in der gleichen Situation befinden, wäre es mit dem Recht auf Freizügigkeit unvereinbar, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, ihn deshalb weniger günstig behandeln würde, weil er von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des EG-Vertrags eröffnen.

Dieses Recht könnte nämlich seine volle Wirkung nicht entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von der Wahrnehmung dieser Möglichkeiten abgehalten werden könnte, weil ihm bei der Rückkehr in sein Herkunftsland Nachteile entstuenden, die eine Regelung an diese Wahrnehmung knüpft.

( vgl. Randnrn. 28-31 )

2. Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es einem Mitgliedstaat, einem seiner Staatsangehörigen, der als Student auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung ist, den Anspruch auf Überbrückungsgeld nur aus dem Grund zu versagen, dass er seine höhere Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen hat.

Eine Regelung eines Mitgliedstaats, die den Anspruch auf Überbrückungsgeld an die Bedingung knüpft, dass das erforderliche Zeugnis im Inland erworben wurde, benachteiligt bestimmte eigene Staatsangehörige allein deshalb, weil sie ihr Recht auf Freizügigkeit genutzt und ihre Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat erhalten haben.

Eine solche Ungleichbehandlung widerspricht den Grundsätzen, auf denen der Status eines Unionsbürgers beruht, nämlich der Garantie gleicher rechtlicher Behandlung bei Ausübung der Freizügigkeit.

Die fragliche Bedingung wäre allenfalls dann gerechtfertigt, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck stuende, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt würde. Es ist zwar ein legitimes Anliegen des nationalen Gesetzgebers, sich in Verbindung mit einem Überbrückungsgeld, das den Schulabgängern den Übergang von der Ausbildung zum Arbeitsmarkt erleichtern soll, eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen demjenigen, der Überbrückungeld beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern zu wollen; ausschließlich auf den Ort der Erlangung des Schulabgangszeugnisses abzustellen, ist jedoch zu allgemein und einseitig geht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus.

( vgl. Randnrn. 34-36, 38-40 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes vom 11. Juli 2002. - Marie-Nathalie D'Hoop gegen Office national de l'emploi. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal du travail de Liège - Belgien. - Unionsbürgerschaft - Grundsatz der Nichtdiskriminierung - Nationale gesetzliche Regelung, die Inländern einen Anspruch auf Überbrückungsgeld nur gewährt, wenn die höhere Schulbildung an einer Lehranstalt im Inland abgeschlossen wurde - Inländer auf der Suche nach einer ersten Anstellung, der seine höhere Schulbildung an einer Lehranstalt eines anderen Mitgliedstaats abgeschlossen hat. - Rechtssache C-224/98.

Parteien:

In der Rechtssache C-224/98

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom Tribunal du travail Lüttich (Belgien) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Marie-Nathalie D'Hoop

gegen

Office national de l'emploi

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) und Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2)

erlässt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin F. Macken und des Kammerpräsidenten S. von Bahr sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, R. Schintgen, V. Skouris, J. N. Cunha Rodrigues und C. W. A. Timmermans,

Generalanwalt: L. A. Geelhoed

Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

der Frau D'Hoop, vertreten durch Rechtsanwälte N. Simar und M. Strongylos,

des Office national de l'emploi, vertreten durch Rechtsanwalt J.-E. Derwael,

der belgischen Regierung, vertreten durch J. Devadder als Bevollmächtigten,

der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Wolfcarius und P. J. Kuijper als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Frau D'Hoop, vertreten durch Rechtsanwälte M. Strongylos und R. Capart, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch D. Wyatt, QC, und der Kommission, vertreten durch M. Wolfcarius und D. Martin als Bevollmächtigte in der Sitzung vom 20. Oktober 2001,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Februar 2002,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Lüttich hat mit Urteil vom 17. Juni 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der Auslegung von Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) und Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau D'Hoop (im Folgenden: Klägerin) und dem Office national de l'emploi (im Folgenden: ONEM) über dessen Entscheidung, der Klägerin die Gewährung eines nach belgischem Recht vorgesehenen Überbrückungsgelds zu verweigern.

Das nationale Recht

3 Nach belgischem Recht erhalten Schulabgänger auf der Suche nach ihrer ersten Beschäftigung Überbrückungsgeld" genannte Leistungen bei Arbeitslosigkeit.

4 Aufgrund dieser Leistungen werden die Begünstigten im Sinne der Bestimmungen über die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit als Arbeitnehmer, die wegen Vollarbeitslosigkeit Leistungen erhalten", angesehen und können an besonderen Beschäftigungsprogrammen teilnehmen.

5 Artikel 36 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 zur Regelung der Arbeitslosigkeit (Moniteur belge vom 31. Dezember 1991, S. 29888) bestimmt:

Der Schulabgänger hat Anspruch auf das Überbrückungsgeld, wenn er folgende Voraussetzungen erfuellt:

1. Er ist nicht mehr schulpflichtig;

2. a) er hat entweder eine Schulbildung mit Vollzeitunterricht der Sekundarstufe II oder der fach- oder berufsbildenden Sekundarstufe I an einer von einer Gemeinschaft errichteten, anerkannten oder subventionierten Lehranstalt abgeschlossen;

..."

6 Mit Urteil vom 12. September 1996 in der Rechtssache C-278/94 (Kommission/Belgien, Slg. 1996, I-4307) hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 verstoßen habe, dass es die Gewährung des Überbrückungsgelds an unterhaltsberechtigte Kinder von in Belgien wohnhaften Wanderarbeitnehmern aus der Gemeinschaft davon abhängig gemacht habe, dass diese ihre höhere Schulbildung an einer vom belgischen Staat oder von einer seiner Gemeinschaften subventionierten oder anerkannten Lehranstalt abgeschlossen hätten.

7 Mit der Königlichen Verordnung vom 13. Dezember 1996 (Moniteur belge vom 31. Dezember 1996, S. 32265) wurde in Artikel 36 Absatz 1 Unterabsatz 1 Nummer 2 ein neuer Buchstabe h eingefügt, um das nationale Recht mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang zu bringen. Diese am 1. Januar 1997 in Kraft getretene Bestimmung lautet wie folgt:

Der jugendliche Arbeitnehmer hat Anspruch auf Überbrückungsgeld, wenn er

...

2....

h) oder einem Studium oder einer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nachgegangen ist, sofern folgende Voraussetzungen gleichzeitig erfuellt sind:

Der Betreffende legt Unterlagen vor, aus denen sich ergibt, dass das Studium oder die Ausbildung den in den voranstehenden Buchstaben genannten gleichrangig und gleichwertig ist;

der Betreffende ist zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Überbrückungsgeld unterhaltsberechtigtes Kind von in Belgien wohnenden Wanderarbeitnehmern im Sinne des Artikels 48 EG-Vertrag;

..."

Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefrage

8 Die Klägerin, eine belgische Staatsangehörige, schloss ihre höhere Schulbildung in Frankreich ab, wo sie 1991 das Zeugnis des Baccalauréat erwarb. Dieses Zeugnis wurde in Belgien als dem Certificat homologué d'enseignement secondaire supérieur (Zeugnis über den Sekundarunterricht der Oberstufe) nebst dem Diplôme homologué d'aptitude à accéder à l'enseignement supérieur (Zeugnis über die Befähigung zum Hochschulunterricht) gleichwertig anerkannt.

9 Die Klägerin studierte anschließend bis 1995 in Belgien.

10 1996 beantragte die Klägerin beim ONEM Überbrückungsgeld.

11 Mit Bescheid vom 17. September 1996 lehnte das ONEM die beantragten Leistungen mit der Begründung ab, dass die Klägerin den Tatbestand des Artikels 36 Absatz 1 Unterabsatz 1 Nummer 2 Buchstabe a der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 nicht erfuelle.

12 Die Klägerin hat diese Entscheidung beim Tribunal du travail Lüttich angefochten, das das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Sind Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 angesichts des Umstands, dass der Gerichtshof sie bereits dahin ausgelegt hat, dass Artikel 36 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 nicht der Gewährung von Überbrückungsgeld an einen Studenten entgegenstehen kann, der unterhaltsberechtigtes Kind eines Wanderarbeitnehmers aus der Gemeinschaft ist und seine höhere Schulbildung an einer Lehranstalt eines anderen Mitgliedstaats als Belgien abgeschlossen hat dahin auszulegen, dass sie es außerdem verbieten, dass dieser Artikel 36 der Gewährung von Überbrückungsgeld an einen belgischen Studenten auf der Suche nach seiner ersten Beschäftigung entgegensteht, der ebenfalls seine höhere Schulbildung an einer Lehranstalt eines anderen Mitgliedstaats als Belgien abgeschlossen hat?

13 Mit Schreiben vom 22. Juli und 11. September 1998 hat das Tribunal du travail Lüttich dem Gerichtshof mitgeteilt, dass gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour du travail Lüttich (Belgien) eingelegt worden sei, und wegen des Suspensiveffekts dieses Rechtsmittels gebeten, das Verfahren vor dem Gerichtshof auszusetzen.

14 Am 23. März 2001 wurde dem Gerichtshof mitgeteilt, dass das Berufungsgericht die Vorlageentscheidung mit Urteil vom 16. März 2001 bestätigt habe. Das Verfahren vor dem Gerichtshof wurde daher am 26. März 2001 wieder aufgenommen.

15 Aus dem Urteil der Cour du travail Lüttich ergibt sich, dass das ONEM vor diesem Gericht geltend gemacht hat, die Klägerin erfuelle nicht die zweite Voraussetzung des Artikels 36 Absatz 1 Unterabsatz 1 Nummer 2 Buchstabe h der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 in der durch die Königliche Verordnung vom 13. Dezember 1996 geänderten Fassung. Dazu hat die Cour du travail ausgeführt, obwohl die neue Bestimmung der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 erst am 1. Januar 1997 und damit nach der Beantragung des Überbrückungsgelds in Kraft getreten sei, sei sie in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofes auf den vorliegenden Fall anzuwenden, wogegen die Parteien auch keine Einwände erhöben.

Zur Vorlagefrage

16 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat verwehrt, einem seiner Staatsangehörigen, der als Student auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung ist, den Anspruch auf Überbrückungsgeld nur aus dem Grund zu versagen, dass er seine höhere Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen hat.

Anwendbarkeit des Artikels 48 EG-Vertrag und der Verordnung Nr. 1612/68

17 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist das Überbrückungsgeld für Schulabgänger auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung eine soziale Vergünstigung im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 (Urteile vom 20. Juni 1985 in der Rechtssache 94/84, Deak, Slg. 1985, 1873, Randnr. 27, und Kommission/Belgien, Randnr. 25).

18 Nach ständiger Rechtsprechung ist das Gemeinschaftsrecht über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Hinblick auf eine nationale Regelung, die die Arbeitslosenversicherung betrifft, jedoch nur auf eine Person anwendbar, die durch die Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit, die ihr die Eigenschaft als Arbeitnehmer im gemeinschaftsrechtlichen Sinne verschafft hat, bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat (vgl. im Hinblick auf das Überbrückungsgeld das Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 40). So verhält es sich bei Schulabgängern auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung der Natur der Sache nach nicht (Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 40).

19 Die Klägerin hat auf eine Frage in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass ihre Eltern während der gesamten Zeit ihrer höheren Schulbildung in Frankreich in Belgien geblieben seien.

20 Daraus folgt, dass die Klägerin sich weder auf die den Wanderarbeitnehmern durch Artikel 48 EG-Vertrag und die Verordnung Nr. 1612/68 verliehenen Rechte noch auf die abgeleiteten Rechte berufen kann, die diese Verordnung Familienmitgliedern von Wanderarbeitnehmern gewährt.

Anwendbarkeit der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

21 Die Klägerin und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung die dem Gerichtshof vorgelegte Frage im Licht der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft untersucht. Sie haben vorgetragen, dass die Klägerin als Angehörige eines Mitgliedstaats, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufgehalten habe, um dort am Unterricht teilzunehmen, in den persönlichen Geltungsbereich dieser Bestimmungen falle. Daher stuenden ihr die Rechte zu, die Artikel 8 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 17 EG) an den Status eines Unionsbürgers knüpfe. Darunter falle das in Artikel 6 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG) niedergelegte Recht, im sachlichen Geltungsbereich des EG-Vertrags nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden.

22 Die Regierung des Vereinigten Königreichs ist diesem Vorbringen entgegengetreten. Ein Gemeinschaftsangehöriger könne sich nicht bereits dann auf die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft berufen, wenn er sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalte. Zusätzlich müsse die ausgeübte Tätigkeit in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen. Das wäre der Fall gewesen, wenn sich die Klägerin in Frankreich aufgehalten hätte, um dort eine Berufsausbildung zu erhalten. Anders verhalte es sich im vorliegenden Fall, in dem sie sich zur Erlangung allgemeinbildenden Unterrichts in Frankreich aufgehalten habe.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der zeitliche Geltungsbereich der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft

23 Das ONEM hat seine Weigerung, der Klägerin das von ihr 1996 beantragte Überbrückungsgeld zu gewähren, damit begründet, dass sie ihre höhere Schulbildung in Frankreich abgeschlossen habe. Da dies 1991 geschehen ist, ist zu prüfen, ob die angebliche Diskriminierung der Klägerin an den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft gemessen werden kann, die später in Kraft getreten sind.

24 Dazu ist festzustellen, dass es im Ausgangsverfahren nicht um die Anerkennung von Rechten aus dem Gemeinschaftsrecht geht, die vor Inkrafttreten der Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft erworben worden wären, sondern um eine angebliche aktuelle Diskriminierung eines Unionsbürgers.

25 Die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft sind jedoch seit ihrem Inkrafttreten anwendbar. Sie sind deshalb auf die gegenwärtigen Wirkungen von Sachverhalten anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt entstanden sind (vgl. in diesem Sinne die Urteile vom 30. November 2000 in der Rechtssache C-195/98, Österreichischer Gewerkschaftsbund, Slg. 2000, I-10497, Randnrn. 54 und 55, und vom 18. April 2002 in der Rechtssache C-290/00, Duchon, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 43 und 44).

26 Daraus folgt, dass die von der Klägerin behauptete Diskriminierung an diesen Bestimmungen gemessen werden kann.

Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft

27 Artikel 8 EG-Vertrag verleiht jedem den Status eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Da die Klägerin Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ist, steht ihr dieser Status zu.

28 Dieser Unionsbürgerstatus soll bestimmungsgemäß der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, die, wenn sie sich in der gleichen Situation befinden, aufgrund dieses Status im sachlichen Geltungsbereich des EG-Vertrags vorbehaltlich der hiervon ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Anspruch auf gleiche rechtliche Behandlung haben (Urteil vom 20. September 2001 in der Rechtssache C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Randnr. 31).

29 In den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen u. a. Situationen, in denen es um die Ausübung der im EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten, namentlich der in Artikel 8a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 18 EG) verliehenen Freiheit geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteile vom 24. November 1998 in der Rechtssache C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Randnrn. 15 und 16, sowie Grzelczyk, Randnr. 33).

30 Da ein Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats hat, die sich in der gleichen Situation befinden, wäre es mit dem Recht auf Freizügigkeit unvereinbar, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, ihn deshalb weniger günstig behandeln würde, weil er von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des EG-Vertrags eröffnen.

31 Dieses Recht könnte nämlich seine volle Wirkung nicht entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von der Wahrnehmung dieser Möglichkeiten abgehalten werden könnte, weil ihm bei der Rückkehr in sein Herkunftsland Nachteile entstuenden, die eine Regelung an diese Wahrnehmung knüpft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnr. 23).

32 Das gilt besonders im Bereich der Bildung. Zu den Zielen der Tätigkeit der Gemeinschaft gehört nämlich gemäß Artikel 3 Buchstabe p EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe q EG) ein Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung. Dieser Beitrag soll gemäß Artikel 126 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 149 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich EG) insbesondere die Mobilität von Lernenden und Lehrenden fördern.

33 In Fällen wie dem des Ausgangsverfahrens führt die nationale Regelung aber zu einer Ungleichbehandlung von belgischen Staatsangehörigen nach Maßgabe dessen, ob sie ihre gesamte Schulbildung in Belgien erhalten oder von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und ihr Schulabschlusszeugnis in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben.

34 Die nationale Regelung benachteiligt dadurch, dass sie den Anspruch auf Überbrückungsgeld an die Bedingung knüpft, dass dieses Zeugnis in Belgien erworben wurde, bestimmte eigene Staatsangehörige allein deshalb, weil sie ihr Recht auf Freizügigkeit genutzt und ihre Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat erhalten haben.

35 Eine solche Ungleichbehandlung widerspricht den Grundsätzen, auf denen der Status eines Unionsbürgers beruht, nämlich der Garantie gleicher rechtlicher Behandlung bei Ausübung der Freizügigkeit.

36 Die fragliche Bedingung wäre allenfalls dann gerechtfertigt, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck stuende, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt würde (Urteil Bickel und Franz, Randnr. 27).

37 Weder die belgische Regierung noch das ONEM haben sich zu dieser Frage geäußert.

38 Das belgische Überbrückungsgeld, das zur Teilnahme an besonderen Beschäftigungsprogrammen berechtigt, soll den Schulabgängern den Übergang von der Ausbildung zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Es ist daher ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers, sich eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen demjenigen, der Überbrückungeld beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern zu wollen.

39 Ausschließlich auf den Ort der Erlangung des Schulabgangszeugnisses abzustellen, ist jedoch zu allgemein und einseitig. Eine solche Bedingung misst nämlich einem Gesichtspunkt unangemessen hohe Bedeutung bei, der nicht zwangsläufig für den tatsächlichen und effektiven Grad der Verbundenheit des Antragstellers mit dem räumlichen Arbeitsmarkt repräsentativ ist, und schließt jeden anderen repräsentativen Gesichtspunkt aus. Sie geht damit über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus.

40 Auf die Vorlagefrage ist deshalb zu antworten, dass das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat verwehrt, einem seiner Staatsangehörigen, der als Student auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung ist, den Anspruch auf Überbrückungsgeld nur aus dem Grund zu versagen, dass er seine höhere Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

41 Die Auslagen der belgischen und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunal du travail Lüttich mit Urteil vom 12. November 1997 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es einem Mitgliedstaat, einem seiner Staatsangehörigen, der als Student auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung ist, den Anspruch auf Überbrückungsgeld nur aus dem Grund zu versagen, dass er seine höhere Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen hat.

Ende der Entscheidung

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