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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.11.1992
Aktenzeichen: C-226/91
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/7/EWG vom 19. Dezember 1978


Vorschriften:

Richtlinie 79/7/EWG vom 19. Dezember 1978 Art. 4 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit steht der Anwendung einer nationalen Regelung der Altersversicherung nicht entgegen, nach der die Gewährung und die Höhe eines Zuschlags, auf den Rentenberechtigte Anspruch haben, deren unterhaltsberechtigter Ehegatte das Rentenalter noch nicht erreicht hat, unabhängig vom Geschlecht allein von dem Einkommen abhängig sind, das der Ehegatte aus oder im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit bezieht.

Zwar hat eine derartige Regelung zur Folge, daß eine wesentlich grössere Anzahl Männer als Frauen den Zuschlag erhalten, jedoch dient sie einem legitimen Ziel der Sozialpolitik ° Ehegatten, von denen einer das Rentenalter noch nicht erreicht hat, ein Einkommen in Höhe des sozialen Minimums zu garantieren, wie sie es, wenn beide rentenberechtigt sind, erhalten werden ° und legt Zuschläge fest, die für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind, so daß sie durch Gründe gerechtfertigt ist, die mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun haben.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 19. NOVEMBER 1992. - JAN MOLENBROEK GEGEN BESTUUR VAN DE SOCIALE VERZEKERINGSBANK. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: RAAD VAN BEROEP AMSTERDAM - NIEDERLANDE. - GLEICHHEIT VON MAENNERN UND FRAUEN - SOZIALE SICHERHEIT - ALTERSRENTE - ZUSCHLAG FUER UNTERHALTSBERECHTIGTE EHEGATTEN. - RECHTSSACHE C-226/91.

Entscheidungsgründe:

1 Der Raad van Beroep Amsterdam hat mit Beschluß vom 24. Juli 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 10. September 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen einem Bezieher von Altersrente, Jan Molenbrök (im folgenden: Kläger), und dem Bestuur van de Sociale Verzekeringsbank (im folgenden: Beklagter) über die Höhe eines dem Kläger für seinen unterhaltsberechtigten Ehegatten, der das Rentenalter noch nicht erreicht hat, gewährten Zuschlags.

3 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß in den Niederlanden aufgrund der Algemene Ouderdomswet (Gesetz über die allgemeine niederländische Altersversicherung, im folgenden: AOW) verheiratete Männer und Frauen bei Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf eine Altersrente haben, die bei Zurücklegung der vollständigen Versicherungslaufbahn von 50 Jahren 50 % des jeweiligen Nettomindestlohns entspricht. Bezieher dieser Rente, deren unterhaltsberechtigter Ehegatten das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, haben Anspruch auf einen Zuschlag, der auf Antrag des Ehegatten unmittelbar an diesen gezahlt wird.

4 Seit dem 1. April 1988 entspricht die volle Rente für einen Verheirateten mit einem unterhaltsberechtigten Ehegatten, der das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, der Rente eines Unverheirateten, also 70 % des Nettomindestlohns, und der volle Zuschlag, den er für diesen Ehegatten erhalten kann, beträgt 30 % des Nettomindestlohns. Seither sind Gewährung und Höhe des Zuschlags vorbehaltlich bestimmter Übergangsregelungen vom eigenen Einkommen des Ehegatten abhängig. Der Zuschlag wird nämlich um das Einkommen, das dieser aus oder im Zusammenhang mit einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit bezieht, gekürzt.

5 Der Kläger bezieht seit dem 1. Mai 1990 wegen Vollendung des 65. Lebensjahres eine volle Verheiratetenrente in Höhe von 70 % des Nettomindestlohns. Da seine jüngere Ehegattin weiterhin eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezog, zog der Beklagte dieses Einkommen innerhalb der zulässigen Grenzen von dem dem Kläger nach der AOW zustehenden Zuschlag ab, so daß dieser letztlich nur 27,70 % des vollen Zuschlags betrug.

6 Der Kläger erhob gegen die Entscheidung des Beklagten über die Kürzung des Zuschlags beim Raad van Beroep Amsterdam Klage. Dieser hat das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofes über folgende Vorlagefragen ausgesetzt:

1) Steht Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 des Rates vom 19. Dezember 1978 einer nationalen Regelung der Altersversicherung entgegen, die ° ohne nach dem Geschlecht zu unterscheiden ° die Gewährung und die Höhe eines Zuschlags für einen Rentenberechtigten zugunsten des Ehegatten, der das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ausschließlich davon abhängig macht, ob dieser jüngere Ehegatte Einkommen aus oder im Zusammenhang mit seiner Erwerbstätigkeit hat, wenn diese Regelung zur Folge hat, daß eine wesentlich grössere Anzahl Männer als Frauen für einen Zuschlag in Betracht kommt?

2a) Steht Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 des Rates vom 19. Dezember 1978 der Anwendung der in der ersten Frage genannten Bestimmung des nationalen Rechts entgegen, die Rentenberechtigten, die einen unterhaltsberechtigten jüngeren Ehegatten haben, ein soziales Minimum garantieren soll, die jedoch auch dazu führt, daß für den jüngeren Ehegatten, der kein oder nur ein geringes Arbeitseinkommen hat, ein Zuschlag gewährt wird, wenn der Rentenberechtigte ausser seiner AOW-Leistung ein eigenes Einkommen aufgrund von oder im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit, wie eine zusätzliche Betriebsrente oder Einkommen aus Vermögen bezieht, so daß es in diesen Fällen grundsätzlich nicht um eine Sicherung des sozialen Minimums gehen muß?

b) Kann die Anwendung der in Frage 1 genannten nationalen Bestimmung, die dazu führt, daß einer viel grösseren Anzahl Männer als Frauen ein Zuschlag für den jüngeren Ehegatten gewährt wird, im Rahmen der Richtlinie 79/7 durch den Charakter der AOW als Grundversorgung gerechtfertigt werden, obwohl der Zuschlag auch in Situationen gewährt werden kann, in denen er für den Rentenberechtigten und den jüngeren Ehegatten nicht notwendig ist, um ein ausreichendes Existenzminimum zu garantieren?

3) Führt ein Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 in Fällen wie dem vorliegenden dazu, daß Rentenberechtigte mit einem Ehegatten, der noch nicht 65 Jahre alt ist, in allen Fällen ungeachtet eines eventuellen Einkommens des jüngeren Ehegatten aufgrund von oder im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit Anspruch auf einen (vollen) Zuschlag erheben können?

7 Der Gerichtshof (Zweite Kammer) hat dem Kläger mit Beschluß vom 9. Juli 1992 Prozeßkostenhilfe bewilligt.

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Mit den ersten beiden gemeinsam zu prüfenden Vorlagefragen möchte das nationale Gericht wissen, ob es gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verstösst, daß im Rahmen einer nationalen Regelung der Altersversicherung die Gewährung und die Höhe eines Zuschlags, auf den Rentenberechtigte Anspruch haben, deren unterhaltsberechtigter Ehegatte das Rentenalter noch nicht erreicht hat, unabhängig vom Geschlecht allein von dem Einkommen abhängig sind, das der Ehegatte aus oder im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit bezieht, ohne daß gegebenenfalls ein sonstiges Einkommen des Rentenberechtigten berücksichtigt wird, wenn diese Regelung zur Folge hat, daß eine wesentlich grössere Anzahl Männer als Frauen den Zuschlag erhält und daß dieser selbst dann gewährt wird, wenn er zur Sicherung des Existenzminimums des Rentenberechtigten und seines Ehegatten nicht erforderlich ist.

10 Bereits aus dem Wortlaut von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 ergibt sich, wie der Gerichtshof im Urteil vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 30/85 (Teuling, Slg. 1987, 2497) entschieden hat, daß ein Rentenzuschlag für den unterhaltsberechtigten Ehegatten nicht gewährt werden darf, wenn er unmittelbar oder mittelbar am Geschlecht des Anspruchsberechtigten anknüpft.

11 Nach diesem Urteil (Randnr. 13) läuft ferner ein System von Leistungen, nach dem Zuschläge vorgesehen sind, die nicht unmittelbar an das Geschlecht der Anspruchsberechtigten anknüpfen, sondern ihren Ehe- und Familienstand berücksichtigen, und nach dem wesentlich weniger Frauen als Männer Anspruch auf diese Zuschläge haben, Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zuwider, wenn es sich nicht aus Gründen rechtfertigen lässt, die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausschließen.

12 Nach dem Vorlagebeschluß und den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen erhalten unstreitig hauptsächlich Männer den im Ausgangsverfahren fraglichen Zuschlag. Dies soll darauf beruhen, daß bei einem Ehepaar gewöhnlich der Mann der ältere Partner ist, und der Mann auch in Fällen, in denen er der jüngere Ehepartner ist, wesentlich häufiger als eine Frau in gleicher Lage über ein Erwerbseinkommen verfügt, das die Gewährung eines Zuschlags an die rentenberechtigte Frau nicht zulässt.

13 Unter diesen Umständen führt eine derartige Regelung, die die Gewährung und die Höhe eines Rentenzuschlags für den Rentenberechtigten allein vom Erwerbseinkommen des jüngeren Ehegatten abhängig macht, grundsätzlich zu einer mittelbaren Diskriminierung der weiblichen gegenüber den männlichen Arbeitnehmern, die gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verstösst, wenn sie nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes dann der Fall, wenn die gewählten Mittel einem legitimen Ziel des Mitgliedstaats dienen, dessen Regelung streitig ist, und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind (Urteil vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-229/89, Kommission/Belgien, Slg. 1991, I-2205, Randnr. 19).

14 Ausweislich der Akten handelt es sich bei der Leistung nach der AOW um eine Grundversorgung, da sie dem Betroffenen unabhängig von seinem etwaigen sonstigen Einkommen ein Einkommen in Höhe des sozialen Minimums sichern soll.

15 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist die Gewährung eines Einkommens in Höhe des sozialen Minimums ein integrierender Bestandteil der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten; diese verfügen hinsichtlich der Art der sozialen Schutzmaßnahmen und der konkreten Einzelheiten ihrer Durchführung über einen sachgerechten Gestaltungsspielraum (Urteil Kommission/Belgien, a. a. O., Randnrn. 22 und 23).

16 Schließlich erhalten die Ehegatten dadurch, daß nach der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung ein etwaiges sonstiges Einkommen des Altersrentenberechtigten bei der Festsetzung des Zuschlags, den er für seinen jüngeren Ehegatten beanspruchen kann, nicht berücksichtigt wird, im Ergebnis ein Gesamteinkommen in eben der Höhe, in der sie es erhalten werden, wenn beide rentenberechtigt sind und der Zuschlag folglich entfällt.

17 Die Zuschlagregelung ist demgemäß erforderlich, um den Grundversorgungscharakter der Leistung nach der AOW zu wahren und Ehegatten, von denen einer das Rentenalter noch nicht erreicht hat, ein Einkommen in Höhe des sozialen Minimums zu garantieren, wie sie es, wenn beide rentenberechtigt sind, erhalten werden.

18 Unter diesen Umständen kann die Tatsache, daß in bestimmten Fällen Personen den Zuschlag erhalten, die ihn angesichts ihres sonstigen Einkommens nicht benötigen, um ihr Existenzminimum zu garantieren, nichts daran ändern, daß das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.

19 Nach alledem dient die streitige nationale Regelung einem legitimen Ziel der Sozialpolitik; sie legt Zuschläge fest, die für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind; sie ist folglich durch Gründe gerechtfertigt, die mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun haben.

20 Demnach ist auf die beiden ersten Fragen des nationalen Gerichts zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 der Anwendung einer nationalen Regelung der Altersversicherung nicht entgegensteht, nach der die Gewährung und die Höhe eines Zuschlags, auf den Rentenberechtigte Anspruch haben, deren unterhaltsberechtigter Ehegatte das Rentenalter noch nicht erreicht hat, unabhängig vom Geschlecht allein von dem Einkommen abhängig sind, das der Ehegatte aus oder im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit bezieht, auch wenn diese Regelung zur Folge hat, daß eine wesentlich grössere Anzahl Männer als Frauen den Zuschlag erhält.

21 In Anbetracht der Antwort auf die beiden ersten Vorlagefragen braucht über die dritte Frage des nationalen Gerichts, die sich auf die Auswirkungen eines etwaigen Verstosses gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 in einem Fall der vorliegenden Art bezieht, nicht entschieden zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm vom Raad van Beroep Amsterdam mit Beschluß vom 24. Juli 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit steht der Anwendung einer nationalen Regelung der Altersversicherung nicht entgegen, nach der die Gewährung und die Höhe eines Zuschlags, auf den Rentenberechtigte Anspruch haben, deren unterhaltsberechtigter Ehegatte das Rentenalter noch nicht erreicht hat, unabhängig vom Geschlecht allein von dem Einkommen abhängig sind, das der Ehegatte aus oder im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit bezieht, auch wenn diese Regelung zur Folge hat, daß eine wesentlich grössere Anzahl Männer als Frauen den Zuschlag erhalten.

Ende der Entscheidung

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