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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 24.07.2003
Aktenzeichen: C-233/03 P(R)
Rechtsgebiete: EGV, EuGH-Verfahrensordnung, Satzung des Gerichtshofes


Vorschriften:

EGV Art. 225
EGV Art. 242
EGV Art. 243
EuGH-Verfahrensordnung Art. 83 § 2
EuGH-Verfahrensordnung Art. 104 § 1
Satzung des Gerichtshofes Art. 57
Satzung des Gerichtshofes Art. 58
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Im Verfahren der einstweiligen Anordnung kann der Richter die Aussetzung des Vollzugs anordnen und sonstige einstweilige Anordnungen treffen, wenn die Notwendigkeit der Anordnungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht ist (fumus boni iuris) und wenn feststeht, dass sie in dem Sinne dringlich sind, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten müssen. Dabei ist gegebenenfalls auch eine Abwägung der bestehenden Interessen vorzunehmen.

Im Rahmen der Gesamtprüfung, die im Verfahren der einstweiligen Anordnung vorzunehmen ist, verfügt der zuständige Richter über ein weites Ermessen, und er kann im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls die Art und Weise, in der diese verschiedenen Voraussetzungen zu prüfen sind, sowie die Reihenfolge dieser Prüfung frei bestimmen, da keine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ihm ein feststehendes Prüfungsschema für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer vorläufigen Entscheidung vorschreibt.

( vgl. Randnrn. 26-27 )

2. Das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ist zwar eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass im Verfahren der einstweiligen Anordnung der Vollzug einer Entscheidung der Kommission, mit der die nicht sofortige Beitreibung einer Geldbuße von der Stellung einer Bankbürgschaft abhängig gemacht wird, ausgesetzt wird, doch führen solche Umstände nicht notwendigerweise zur Aussetzung. Ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, wird nämlich auf der Ebene der Prüfung der Dringlichkeit festgestellt, so dass die Feststellung des Richters, dass die Aussetzung notwendig wäre, um einen schweren und nicht wieder gutzumachenden Schaden für die Interessen desjenigen zu verhindern, der die Aussetzung beantragt hat, die Prüfung der Auswirkungen, die eine mögliche Aussetzung für die Interessen der anderen Verfahrensbeteiligten haben könnte, nicht ausschließt. Im Verfahren der einstweiligen Anordnung muss der Richter demnach in der Lage sein, im Hinblick auf die Besonderheiten jedes Einzelfalls zu bestimmen, ob es angemessen ist, die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen.

Eine Interessenabwägung kann sich insoweit als besonders sachdienlich erweisen, wenn sich der Antragsteller im Vergleichsverfahren befindet. In einer solchen Situation könnte nämlich die Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, nachteilige Folgen für die Interessen der Gemeinschaft haben und diese unumkehrbar beeinträchtigen.

( vgl. Randnrn. 29-31 )

3. Die Artikel 225 EG und 58 der Satzung des Gerichtshofes, nach denen Rechtsmittel unter Ausschluss jeder Würdigung des Sachverhalts auf Rechtsfragen beschränkt sind, gelten auch für nach Artikel 57 Absatz 2 der genannten Satzung eingelegte Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts im Verfahren der einstweiligen Anordnung. Daraus folgt, dass die Interessenabwägung durch das Gericht, außer bei Verfälschung des Sachverhalts, im Rahmen eines nach der letztgenannten Vorschrift eingelegten Rechtsmittels nicht angefochten werden kann.

( vgl. Randnrn. 34, 36-37 )


Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 24. Juli 2003. - Linea GIG Srl (en liquidation) gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Rechtsmittel - Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - Wettbewerb - Zahlung einer Geldbuße - Bankbürgschaft - Interessenabwägung. - Rechtssache C-233/03 P(R).

Parteien:

In der Rechtssache C-233/03 P(R)

Linea GIG Srl in liquidazione mit Sitz in Sesto Fiorentino (Italien), Prozessbevollmächtigte: L. D'Amario und B. Calzia, avvocati, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Rechtsmittelführerin,

betreffend ein Rechtsmittel gegen den Beschluss des Präsidenten des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 27. März 2003 in der Rechtssache T-398/02 R (Linea GIG/Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) wegen Aufhebung dieses Beschlusses,

andere Verfahrensbeteiligte:

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und O. Beynet als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Antragsgegnerin im ersten Rechtszug,

erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFES

nach Anhörung des Generalanwalts J. Mischo

folgenden

Beschluss

Entscheidungsgründe:

1 Die Linea GIG Srl in liquidazione hat mit Rechtsmittelschrift, die am 27. Mai 2003 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß den Artikeln 225 EG und 57 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen den Beschluss des Präsidenten des Gerichts erster Instanz vom 27. März 2003 in der Rechtssache T-398/02 R (Linea GIG/Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, im Folgenden: angefochtener Beschluss) eingelegt, mit dem dieser ihren nach Artikel 104 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts gestellten Antrag auf einstweilige Anordnung zurückgewiesen hat, der auf eine Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung der Kommission vom 30. Oktober 2002 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG und Artikel 53 EWR-Abkommen (COMP/35.587 PO Video Games, COMP/35.706 PO Nintendo Distribution und COMP/36.321 Omega-Nintendo) (im Folgenden: streitige Entscheidung) abzielte, soweit darin gegen die Linea GIG Srl in liquidazione eine Geldbuße von 1,5 Millionen Euro verhängt wird.

2 Neben der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses beantragt die Linea GIG Srl in liquidazione, entsprechend ihren in der ersten Instanz gestellten Anträgen der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

3 Mit Schriftsatz, der am 16. Juni 2003 bei der Kanzlei eingegangen ist, hat die Kommission gegenüber dem Gerichtshof schriftlich Stellung genommen.

Sachverhalt und Verfahren vor dem Gericht

4 Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt und das Verfahren vor dem Gericht lassen sich entsprechend den Ausführungen in den Randnummern 1 bis 14 des angefochtenen Beschlusses wie folgt zusammenfassen.

5 Die Linea GIG SpA (im Folgenden: Linea GIG) war mindestens vom 1. Oktober 1992 bis zum 31. Dezember 1997 Alleinvertriebshändler für Nintendo-Waren in Italien. Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten beschloss ihre außerordentliche Hauptversammlung am 8. Januar 1999, die Gesellschaft zu liquidieren.

6 Auf Antrag von Linea GIG genehmigte das Tribunale civile e penale di Firenze (Italien) mit Urteil vom 17. November 1999 den von dieser Gesellschaft vorgelegten Vergleich (concordato preventivo"). Nach diesem Urteil ist Linea GIG verpflichtet, ihr gesamtes Vermögen zu liquidieren, um die bevorrechtigten Gläubiger vollständig und die nicht bevorrechtigten Gläubiger in Höhe von mindestens 40 % ihrer Forderungen zu befriedigen.

7 Am 30. Oktober 2002 erließ die Kommission die streitige Entscheidung, in der sie feststellte, dass die Nintendo Corporation Ltd/Nintendo of Europe GmbH und sieben andere Gesellschaften, die den Vertrieb der Waren der Letztgenannten übernommen hätten, darunter Linea GIG, gegen Artikel 81 Absatz 1 EG verstoßen hätten. Unter anderem verhängte sie gegen Linea GIG eine Geldbuße von 1,5 Millionen Euro.

8 Die streitige Entscheidung wurde Linea GIG mit Schreiben der Kommission vom 7. November 2002 zugestellt. Die Kommission führte aus, dass sie im Fall einer Klageerhebung vor dem Gericht bis zur Entscheidung der Rechtssache von einer Beitreibung der Geldbuße absehen werde, sofern die Forderung ab dem Ende der Zahlungsfrist verzinst und eine akzeptable Bankbürgschaft gestellt werde.

9 Am 24. September 2002 wurde Linea GIG in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (Srl) umgewandelt. Seither trägt sie die Firma Linea GIG Srl in liquidazione" (im Folgenden: Linea).

10 Mit Klageschrift, die am 30. Dezember 2002 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Linea nach Artikel 230 Absatz 4 EG eine Klage auf vollständige oder teilweise Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung und hilfsweise auf Aufhebung oder Reduzierung der in dieser Entscheidung gegen sie verhängten Geldbuße erhoben.

11 Mit besonderem Schriftsatz, der am 30. Januar 2003 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Linea die Aussetzung des Vollzugs der genannten Entscheidung beantragt, soweit darin gegen sie eine Geldbuße verhängt wird.

Der angefochtene Beschluss

12 In dem angefochtenen Beschluss wird in Randnummer 54 zunächst festgestellt, dass die Kommission in ihrem Schreiben vom 7. November 2002, mit dem sie die angefochtene Entscheidung zugestellt habe, ausgeführt hat, dass sie im Fall einer Klageerhebung keine Maßnahme zur Beitreibung der Geldbuße ergreifen werde, sofern die Antragstellerin eine akzeptable Bankbürgschaft stelle. Unter diesen Umständen kann der Antrag auf Aussetzung des Vollzugs keinen anderen zweckdienlichen Gegenstand haben als den, eine Befreiung von der Verpflichtung zu erreichen, eine Bankbürgschaft als Voraussetzung dafür zu stellen, dass die mit der [genannten] Entscheidung verhängte Geldbuße nicht sofort beigetrieben wird. Einem solchen Antrag kann nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände stattgegeben werden (Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofes vom 6. Mai 1982 in der Rechtssache 107/82 R, AEG/Kommission, Slg. 1982, 1549, Randnr. 6, [vom 14. Dezember 1999 in der Rechtssache C-364/99 P(R)], DSR-Senator Lines/Kommission, [Slg. 1999, I-8733,] Randnr. 48, und vom 23. März 2001 in der Rechtssache C-7/01 P[R], FEG/Kommission, Slg. 2001, I-2559, Randnr. 44). Die Möglichkeit, die Stellung einer finanziellen Sicherheit zu verlangen, ist nämlich für Verfahren der einstweiligen Anordnung in den Verfahrensordnungen des Gerichtshofes und des Gerichts ausdrücklich vorgesehen, und sie entspricht einer allgemeinen und vernünftigen Vorgehensweise der Kommission."

13 In Randnummer 55 des angefochtenen Beschlusses wird ausgeführt, dass das Vorliegen solcher außergewöhnlichen Umstände grundsätzlich dann angenommen werden [kann], wenn die Partei, die die Befreiung von der Stellung der verlangten Bankbürgschaft beantragt, den Beweis dafür erbringt, dass es ihr objektiv unmöglich ist, diese Bürgschaft zu stellen..., oder dass die Stellung der Bürgschaft ihre Existenz gefährden würde".

14 Dazu heißt es in Randnummer 59 des angefochtenen Beschlusses, dass, [s]ofern die Klage abgewiesen werden sollte,... dieses Institut in Wettstreit mit den anderen Gesellschaftsgläubigern der Antragstellerin [träte], und der nationale Richter... erst noch die Natur und den Rang der fraglichen, nach Eröffnung des Vergleichsverfahrens entstandenen Forderung bestimmen [müsste]. Das damit eingegangene Risiko, bei der Antragstellerin nie Rückgriff nehmen zu können, ist so eindeutig, dass zuzugestehen ist, dass kein Kreditinstitut die Stellung der verlangten Bankbürgschaft akzeptieren würde." Daraus wird in Randnummer 60 des genannten Beschlusses der Schluss gezogen, dass Linea rechtlich hinreichend belegt hat, dass die gesellschaftsrechtliche und finanzielle Situation, in der sie sich gegenwärtig befindet, die Erlangung der Bankbürgschaft bei einem Kreditinstitut objektiv unmöglich macht".

15 Doch wird in Randnummer 61 des angefochtenen Beschlusses entschieden, dass es die Interessenabwägung [verbietet], dem vorliegenden Antrag auf einstweilige Anordnung stattzugeben", was auf folgende Erwägungen gestützt wird:

62 Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles hätte nämlich die Aussetzung des Vollzugs der [streitigen] Entscheidung, soweit darin der Antragstellerin die Zahlung einer Geldbuße auferlegt wird, zur Folge, die Kommission daran zu hindern, sich im Hinblick auf die Beitreibung der Geldbuße und die Wahrung ihres Interesses sowie der finanziellen Interessen der Gemeinschaft mit einem wie auch immer gearteten Antrag an das nationale Gericht zu wenden (Beschluss vom 28. Juni 2000 [in der Rechtssache T-191/98 R II, Cho Yang Shipping/Kommission, Slg. 2000, II-2551], Randnr. 53), und dies in Wirklichkeit allein in der Absicht, die anderen Gläubiger von Linea zu schützen. Wie jedoch die Kommission zu Recht betont hat, lässt sich die Gefahr, dass die Aktiva der Antragstellerin zum Zeitpunkt einer möglichen Abweisung der Klage nicht mehr ausreichen, um die Geldbuße ganz oder teilweise zu begleichen, nicht mit Sicherheit ausschließen. Zudem ist, wie die Antragstellerin während der Anhörung eingeräumt hat, in keiner Weise garantiert, dass der von ihr zurückgestellte Betrag von 1,65 Millionen Euro ausschließlich zur Zahlung der Schuld bestimmt ist, die Linea im Fall einer Abweisung der Klage gegenüber der Kommission zu begleichen hat. Daher ist es erforderlich, die Vollstreckbarkeit der [streitigen] Entscheidung aufrechtzuerhalten, um den Maßnahmen kein Hindernis in den Weg zu legen, die die Kommission für sachdienlich hält, um die mit [dieser] Entscheidung verhängte Geldbuße beizutreiben.

63 In Bezug auf das vorgetragene Interesse von Linea und ihren Gesellschaftsgläubigern an der Vermeidung der Beitreibung der Geldbuße ist darauf zu verweisen, dass es nur aufgrund der Art und des Rangs der Forderung der Kommission beurteilt werden kann, d. h. aufgrund von Umständen, die allein das nationale Gericht - ggf. nach Anrufung des Gerichtshofes gemäß Artikel 234 EG - zu beurteilen hat."

16 Dementsprechend gelangte der angefochtene Beschluss zu dem Ergebnis, dass die Interessenabwägung für die Zurückweisung des anhängigen Antrags auf einstweilige Anordnung sprach.

Das Rechtsmittel

17 Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf zwei Gründe.

18 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund rügt sie, in dem angefochtenen Beschluss sei der Grundsatz der Interessenabwägung fehlerhaft angewandt worden. Die objektive Unmöglichkeit, die von der Kommission verlangte Bankbürgschaft zu erlangen, schließe eine Interessenabwägung aus. Da das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die eine Befreiung von der Stellung der von der Kommission verlangten Bankbürgschaft rechtfertigten, nachgewiesen worden sei, sei es nicht mehr möglich, eine Interessenabwägung vorzunehmen. Das Risiko für die Kommission, die Geldbuße nicht beitreiben zu können, könne nicht gegen die faktische Unmöglichkeit für die Rechtsmittelführerin abgewogen werden, die verlangte Bürgschaft zu stellen. Wenn der Antrag auf Aussetzung des Vollzugs, wie es in Randnummer 54 des angefochtenen Beschlusses heiße, keinen anderen zweckdienlichen Gegenstand gehabt haben könne als den, eine Befreiung von der Verpflichtung zu erreichen, eine Bankbürgschaft zu stellen, dann sei es widersprüchlich, eine Interessenabwägung vorzunehmen, nachdem die objektive Unmöglichkeit, eine solche Bürgschaft zu stellen, nachgewiesen worden sei.

19 Mit ihrem zweiten, hilfsweise vorgebrachten Rechtsmittelgrund rügt die Rechtsmittelführerin, der angefochtene Beschluss enthalte einen Fehler bei der Interessenabwägung, und zwar insbesondere, als dort angenommen werde, dass die Rückstellung der 1,65 Millionen Euro durch den Konkursrichter als Sicherheit für die Forderung der Kommission nicht dazu angetan sei, deren Interesse an der Beitreibung ihrer Forderung in vollem Umfang zu wahren, wenn das Gericht die von Linea erhobene Klage im Verfahren zur Hauptsache abweisen sollte. Die Forderung der Kommission könne nämlich entweder als bevorrechtigte Forderung angesehen werden, und in diesem Fall sei der zurückgestellte Betrag ausschließlich zur Absicherung dieser Forderung bestimmt, oder sie werde als nicht bevorrechtigte Forderung beurteilt, und die Rückstellung dieses Betrages wahre die Rechte der Kommission demnach nur in Höhe des in dem Vergleich genannten Prozentsatzes und unter Beachtung der Gleichbehandlung der Gläubiger. Selbst wenn die Kommission noch in der Lage sei, gegenwärtig Befriedigung zu erlangen, so erhielte sie diese, sofern ihre Forderung nicht bevorrechtigt sei, nur anteilig. Die Rückstellung der genannten Summe stelle daher sicher, dass sich die Kommission, wenn das Gericht in der Sache entschieden habe, in einer Lage befinde, die der heutigen genau entspreche.

20 In Bezug auf den ersten Rechtsmittelgrund ist die Kommission der Auffassung, dass sich aus Randnummer 48 des Beschlusses DSR-Senator Lines/Kommission ergebe, dass außergewöhnliche Umstände, die es zuließen, dass eine Geldbuße nicht beigetrieben werde, auch wenn keine Bankbürgschaft gestellt werde, nur bei der Prüfung der Dringlichkeit zu berücksichtigen seien, so dass das Vorliegen solcher Umstände nicht automatisch den Vorteil der Aussetzung des Vollzugs der fraglichen Entscheidung nach sich ziehe. In dem angefochtenen Beschluss sei daher, nachdem im Hinblick auf die Dringlichkeit festgestellt worden sei, dass es für Linea objektiv unmöglich sei, eine Bankbürgschaft zu stellen, zu Recht eine Interessenabwägung vorgenommen worden, um zu entscheiden, ob der Vollzug der angefochtenen Entscheidung auszusetzen sei oder nicht. Das Interesse der Rechtsmittelführerin an der Vermeidung einer sofortigen Beitreibung der Geldbuße und das finanzielle Interesse der Gemeinschaft an ihrer Beitreibung seien gegeneinander abgewogen worden. Entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin sei das Kriterium der Interessenabwägung daher nicht fehlerhaft angewandt worden, wenn dort in dem angefochtenen Beschluss das Risiko einer Nichtbeitreibung der Geldbuße gegen die objektive Unmöglichkeit" für Linea, die Bankbürgschaft zu stellen, abgewogen werde, da Ausgangspunkt für die Beurteilung der betroffenen Interessen die Feststellung gewesen sei, dass eine solche Unmöglichkeit vorliege.

21 Den zweiten Rechtsmittelgrund hält die Kommission für unzulässig, da damit ein bereits im Verfahren der einstweiligen Anordnung geltend gemachter Grund wiederholt werde und schlicht eine erneute Prüfung des in erster Instanz gestellten Antrags erreicht oder sogar die bereits vom erstinstanzlichen Richter vorgenommene Würdigung der Tatsachen in Frage gestellt werden solle. Zur Sache verweist die Kommission darauf, dass die Rechtsmittelführerin anerkenne, dass der zurückgestellte Betrag von 1,65 Millionen Euro nicht ausschließlich für die Kommission bestimmt sei, sondern dass in diesem Betrag die zur Begleichung der Forderung der Kommission erforderliche Summe im gleichen Verhältnis wie die Forderungen der anderen nicht bevorrechtigten Gläubiger zu berücksichtigen seien. Das Gericht habe eine ordnungsgemäße Würdigung der Tatsachen vorgenommen, die im Rahmen eines Rechtsmittels nicht mehr in Frage gestellt werden könne. Zu dem Argument, die genannte Forderung könne als bevorrechtigte Forderung eingestuft werden, so dass die Rückstellung die Rechte der Kommission in vollem Umfang wahre, entgegnet diese, dass die Einstufung einer Forderung allein Sache des nationalen Richters sei. Die Kommission äußert zudem Zweifel hinsichtlich dieser Einstufung im italienischen Recht.

22 Im Übrigen ist die Kommission der Auffassung, dass die Zurückweisung des Antrags auf einstweilige Anordnung nicht allein auf der genannten Überlegung hinsichtlich der Natur der fraglichen Forderung beruhe. In Randnummer 62 des angefochtenen Beschlusses werde nämlich auch anerkannt, dass die Aussetzung des Vollzugs der streitigen Entscheidung zur Folge hätte, die Kommission daran zu hindern, sich vor dem Urteil zur Sache im Hinblick auf die Beitreibung der Geldbuße und die Wahrung der finanziellen Interessen der Gemeinschaft mit einem wie auch immer gearteten Antrag an das nationale Gericht zu wenden, und sie daher Gefahr laufen lasse, dass die Aktiva der Rechtsmittelführerin zum Zeitpunkt einer möglichen Abweisung der Klage nicht mehr ausreichten, um die Geldbuße ganz oder auch nur teilweise zu begleichen. Diese Tatsachenwürdigung, die als solche zur Begründung des Tenors des angefochtenen Beschlusses ausreiche, werde von der Rechtsmittelführerin nicht angegriffen. Der zweite Rechtsmittelgrund sei daher nicht stichhaltig.

Würdigung

23 Da die schriftlichen Stellungnahmen der Beteiligten alle Informationen enthalten, die zur Entscheidung über das vorliegende Rechtsmittel erforderlich sind, besteht kein Anlass, die Beteiligten mündlich anzuhören.

Zum ersten Rechtsmittelgrund

24 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund rügt die Rechtsmittelführerin, der angefochtene Beschluss enthalte einen Rechtsfehler, weil dort eine Interessenabwägung vorgenommen werde.

25 Die Rechtsmittelführerin möchte sich damit auf die Rechtsprechung zum Sonderfall einer Befreiung von der Verpflichtung zur Stellung einer Bankbürgschaft als Voraussetzung für die nicht sofortige Beitreibung einer Geldbuße berufen, wonach die Befreiung von einer solchen Verpflichtung nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände zulässig ist (vgl. u. a. Beschluss DSR-Senator Lines/Kommission, Randnr. 48). Ihrer Auffassung nach schließt das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände eine Interessenabwägung aus.

26 Dazu ist darauf zu verweisen, dass im Verfahren der einstweiligen Anordnung nach ständiger Rechtsprechung die Aussetzung des Vollzugs angeordnet und sonstige einstweilige Anordnungen getroffen werden können, wenn die Notwendigkeit der Anordnungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht ist (fumus boni iuris) und wenn feststeht, dass sie in dem Sinne dringlich sind, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten müssen. Dabei ist gegebenenfalls auch eine Abwägung der bestehenden Interessen vorzunehmen (u. a. Beschluss vom 25. Juli 2000 in der Rechtssache C-377/98 R, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-6229, Randnr. 41).

27 Im Rahmen der Gesamtprüfung, die im Verfahren der einstweiligen Anordnung vorzunehmen ist, verfügt der zuständige Richter über ein weites Ermessen, und er kann im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls die Art und Weise, in der die verschiedenen Voraussetzungen für die Gewährung der genannten einstweiligen Anordnungen zu prüfen sind, sowie die Reihenfolge dieser Prüfung frei bestimmen, da keine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ihm ein feststehendes Prüfungsschema für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer vorläufigen Entscheidung vorschreibt (Beschluss vom 19. Juli 1995 in der Rechtssache C-149/95 P[R], Kommission/Atlantic Container Line u. a., Slg. 1995, I-2165, Randnr. 23).

28 Dass in dem angefochtenen Beschluss eine Interessenabwägung vorgenommen wird, begründet daher als solches keinen Rechtsfehler.

29 Zudem lässt sich die in Randnummer 25 dieses Beschlusses angeführte Rechtsprechung über Anträge auf Befreiung von der Verpflichtung zur Stellung einer Bankbürgschaft als Voraussetzung für die nicht sofortige Beitreibung einer Geldbuße nicht dahin auslegen, dass das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne dieser Rechtsprechung notwendigerweise zur Aussetzung führt und dem Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht die Möglichkeit lässt, ggf. eine Abwägung der betroffenen Interessen vorzunehmen.

30 Ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, wird nämlich auf der Ebene der Prüfung der Dringlichkeit festgestellt (vgl. in diesem Sinne den Beschluss DSR-Senator Lines/Kommission, Randnr. 48). Dass in dem angefochtenen Beschluss festgestellt wird, dass die Aussetzung notwendig wäre, um einen schweren und nicht wieder gutzumachenden Schaden für die Interessen der Rechtsmittelführerin zu verhindern, schließt die Prüfung der Auswirkungen, die eine mögliche Aussetzung für die Interessen der anderen Verfahrensbeteiligten haben könnte, nicht aus. Im Verfahren der einstweiligen Anordnung muss der Richter demnach in der Lage sein, im Hinblick auf die Besonderheiten jedes Einzelfalls zu bestimmen, ob es angemessen ist, die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen.

31 Eine Interessenabwägung konnte sich im vorliegenden Fall als besonders sachdienlich erweisen, da sich die Rechtsmittelführerin im Vergleichsverfahren befindet. Die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung hätte nämlich in einer solchen Situation nachteilige Folgen für die Interessen der Gemeinschaft haben und diese unumkehrbar beeinträchtigen können.

32 Unter diesen Umständen enthält der angefochtene Beschluss keinen Rechtsfehler, soweit dort eine Interessenabwägung vorgenommen wird.

33 Der erste Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.

Zum zweiten Rechtsmittelgrund

34 Was den zweiten von der Rechtsmittelführerin geltend gemachten Rechtsmittelgrund betrifft, den sie darauf stützt, dass die betroffenen Interessen fehlerhaft gewichtet worden seien und kein Risiko für die Kommission bestanden habe, ist darauf zu verweisen, dass das Rechtsmittel nach den Artikeln 225 EG und 58 der Satzung des Gerichtshofes unter Ausschluss der Würdigung des Sachverhalts auf Rechtsfragen beschränkt ist.

35 Demnach ist allein das Gericht zuständig für die Tatsachenfeststellung, sofern sich nicht aus den Prozessakten ergibt, dass seine Feststellungen tatsächlich falsch sind, und für die Würdigung dieser Tatsachen. Die Würdigung der Tatsachen ist, sofern die dem Gericht vorgelegten Beweismittel nicht verfälscht werden, daher keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofes im Rahmen eines Rechtsmittels unterliegt (u. a. Urteil vom 11. Februar 1999 in der Rechtssache C-390/95 P, Antillean Rice Mills u. a./Kommission, Slg. 1999, I-769, Randnr. 29).

36 Die Bestimmungen und die Rechtsprechung, auf die in den Randnummern 34 und 35 dieses Beschlusses Bezug genommen wird, gelten auch für nach Artikel 57 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes eingelegte Rechtsmittel (Beschluss Kommission/Atlantic Container Line u. a., Randnr. 18).

37 Indem die Rechtsmittelführerin die in dem angefochtenen Bechluss vorgenommene Abwägung der betroffenen Interessen rügt, stellt sie jedoch die dort erfolgte Tatsachenwürdigung in Frage. Diese Würdigung kann, außer bei Verfälschung des Sachverhalts, im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels nicht überprüft werden.

38 Im vorliegenden Fall wird in den Randnummern 62 und 63 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass die Rückstellung von 1,65 Millionen Euro durch den Konkursrichter als Sicherheit für die Forderung der Kommission nur dann dazu angetan gewesen sei, deren Interessen in vollem Umfang zu wahren, wenn diese Forderung als bevorrechtigte Forderung beurteilt werde. Diese Beurteilung sei jedoch allein Sache des nationalen Richters, ggf. nach Anrufung des Gerichtshofes nach Artikel 234 EG. Die Rechtsmittelführerin hat diese Würdigung zwar gerügt, jedoch nicht nachgewiesen, dass sie eine Verfälschung des Sachverhalts darstellt.

39 Schließlich hat die Rechtsmittelführerin in keiner Weise nachgewiesen, inwieweit in dem angefochtenen Beschluss die vorgelegten Elemente durch den Schluss verfälscht worden sein sollen, dass die beantragte Anordnung zur Folge hätte, die Kommission daran zu hindern, sich im Hinblick auf die Beitreibung der Geldbuße mit einem wie auch immer gearteten Antrag an das nationale Gericht zu wenden, und dass eine solche Untätigkeit den finanziellen Interessen der Gemeinschaft schaden könne, womit den Interessen der Gemeinschaft größeres Gewicht beigemessen und die Weigerung, die beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen, begründet wurde.

40 Der zweite Rechtsmittelgrund ist daher ebenfalls zurückzuweisen.

41 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich insgesamt, dass die beiden Gründe, auf die die Rechtsmittelführerin ihr Rechtsmittel stützt, nicht durchgreifen können und dass dieses demzufolge zurückzuweisen ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

42 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung, der gemäß Artikel 118 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Rechtsmittelführerin in die Kosten beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFES

beschlossen:

1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

2. Die Linea GIG Srl in liquidazione trägt die Kosten dieses Rechtszugs.

Ende der Entscheidung

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