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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.12.1992
Aktenzeichen: C-237/91
Rechtsgebiete: EWGV, Beschluss Nr. 1/80


Vorschriften:

EWGV Art. 177
Beschluss Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG°Türkei ist dahin auszulegen, daß ein türkischer Arbeitnehmer die in dieser Bestimmung vorgesehene Voraussetzung, seit mindestens vier Jahren ordnungsgemäß beschäftigt zu sein, nicht erfuellt, wenn er diese Beschäftigung im Rahmen eines Aufenthaltsrechts ausgeuebt hat, das ihm nur aufgrund einer nationalen Regelung eingeräumt war, nach der der Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubsnis im Aufnahmeland erlaubt ist; dies gilt auch dann, wenn das Aufenthaltsrecht des Betroffenen durch ein Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts, gegen das ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, bestätigt worden ist.

2. Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG°Türkei ist dahin auszulegen, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet eines Mitgliedstaats erhalten hat, um dort mit einer Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe zu schließen, und der dort seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat, nach dieser Bestimmung einen Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hat, selbst wenn seine Ehe zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Verlängerungsantrag entschieden wird, nicht mehr besteht.

3. Ein türkischer Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster oder dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG°Türkei erfuellt, kann sich unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen, um ausser der Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu erreichen, da das Aufenthaltsrecht für den Zugang zur Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unbedingt erforderlich ist.

Dem steht nicht entgegen, daß die Einzelheiten der Durchführung des Artikels 6 Absatz 1 nach Artikel 6 Absatz 3 des Beschlusses Nr. 1/80 durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt werden. Durch Artikel 6 Absatz 3 dieses Beschlusses wird die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung zum Erlaß derjenigen Verwaltungsmaßnahmen, die zur Durchführung dieser Bestimmung gegebenenfalls erforderlich sind, nämlich nur konkretisiert, ohne daß die Mitgliedstaaten dadurch ermächtigt wurden, die Ausübung des genau bestimmten und nicht an Bedingungen geknüpften Rechts, das den türkischen Arbeitnehmern aufgrund dieser Bestimmung zusteht, an Bedingungen zu binden oder einzuschränken.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 16. DEZEMBER 1992. - KAZIM KUS GEGEN LANDESHAUPTSTADT WIESBADEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF - DEUTSCHLAND. - ASSOZIIERUNGSABKOMMEN EWG/TUERKEI - BESCHLUSS DES ASSOZIATIONSRATES - BEGRIFF DER'ORDNUNGSGEMAESSEN BESCHAEFTIGUNG'- AUFENTHALTSRECHT. - RECHTSSACHE C-237/91.

Entscheidungsgründe:

1 Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluß vom 12. August 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 18. September 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung des Artikels 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im folgenden: Beschluß Nr. 1/80) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem türkischen Staatsangehörigen Kazim Kus (Kläger des Ausgangsverfahrens, im folgenden: Kläger) und der durch ihren Oberbürgermeister vertretenen Landeshauptstadt Wiesbaden (Beklagte des Ausgangsverfahrens, im folgenden: Beklagte) über die Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland.

3 Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß der Kläger am 24. August 1980 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einreiste und dort am 16. April 1981 eine deutsche Staatsangehörige heiratete. Aus dem Vorlagebeschluß geht auch hervor, daß der Kläger seit dem 1. April 1982 in der Bundesrepublik ununterbrochen mit einer gültigen Arbeitserlaubnis eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausübte. Zunächst war er etwa sieben Jahre bei demselben Unternehmen beschäftigt, bevor er zweimal den Arbeitgeber wechselte.

4 Mit Verfügung vom 6. August 1984 lehnte der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Wiesbaden die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, die der Kläger als Ehemann einer deutschen Staatsangehörigen seit dem 27. April 1981 besaß und deren Gültigkeit am 17. August 1983 abgelaufen war, mit der Begründung ab, der ursprüngliche Aufenthaltszweck sei weggefallen, da die Ehe der Eheleute Kus durch Urteil vom 18. Oktober 1983, das seit dem 26. April 1984 rechtskräftig ist, geschieden worden sei.

5 Nach erfolglosem Widerspruch gegen die Verfügung des Oberbürgermeisters vom 6. August 1984 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Wiesbaden Klage. Mit Beschluß vom 23. Mai 1985 setzte das Verwaltungsgericht den Vollzug der angefochtenen Verfügung rückwirkend vorläufig aus; mit Urteil vom 30. Oktober 1987 hob es diese Verfügung auf und verpflichtete die Beklagte, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers zu verlängern.

6 Die Beklagte legte beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof Berufung ein; dieser stellte fest, daß der Kläger nach deutschem Recht keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe, wirft jedoch die Frage auf, ob eine für ihn günstige Regelung sich nicht aus der Anwendung des Artikels 6 des Beschlusses Nr. 1/80 ergeben könne, der wie folgt lautet:

"1. Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

° nach einem Jahr ordnungsgemässer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

° nach drei Jahren ordnungsgemässer Beschäftigung ° vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs ° das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

° nach vier Jahren ordnungsgemässer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

...

3. Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt."

7 Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über folgende Fragen entschieden hat:

1) Erfuellt ein türkischer Arbeitnehmer die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG°Türkei über die Entwicklung der Assoziation, wenn sein Aufenthalt aufgrund des nationalen Rechts während des Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung als erlaubt gilt und er aufgrund dieses Aufenthaltsrechts und einer entsprechenden Arbeitserlaubnis mehr als vier Jahre einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist?

2) Findet die Bestimmung des Artikels 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des oben genannten Beschlusses Anwendung, wenn ein türkischer Staatsangehöriger, der zum Zwecke der Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und dessen Ehe nach dreijähriger Dauer geschieden worden ist, nach der Scheidung eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit begehrt und er zum Zeitpunkt der Ablehnung dieses Aufenthaltserlaubnisantrags bereits zweieinhalb Jahre mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen ist?

3) Kann ein türkischer Arbeitnehmer unter den zu 1 oder 2 genannten Voraussetzungen unmittelbar aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 erster oder dritter Gedankenstrich des oben genannten Beschlusses ausser der Verlängerung der Arbeitserlaubnis auch die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verlangen, oder gehört die Regelung der aufenthaltsrechtlichen Folgen der beschäftigungsrechtlichen Beschlüsse des Assoziationsrats EWG°Türkei zu den Durchführungsbestimmungen, welche die Mitgliedstaaten nach Artikel 6 Absatz 3 dieses Beschlusses in eigener Verantwortung zu treffen haben, ohne an Gemeinschaftsrecht gebunden zu sein?

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat den Gerichtshof ausdrücklich aufgefordert, seine Berechtigung zu überprüfen, im Rahmen des Artikels 177 EWG-Vertrag über die Auslegung von Beschlüssen eines durch ein Assoziierungsabkommen zur Durchführung dieses Abkommens geschaffenen Organs zu entscheiden. Der Gerichtshof stellt dazu fest, daß sich aus den im Rahmen der vorliegenden Rechtssache abgegebenen Erklärungen kein neuer Beurteilungsgesichtspunkt ergeben hat, der den Gerichtshof dazu veranlassen könnte, von den Feststellungen abzugehen, die er in diesem Zusammenhang im Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89 (Sevince, Slg. 1990, I-3461) getroffen hat.

10 Vorab ist festzustellen, daß sich alle drei Vorabentscheidungsfragen auf die Lage eines türkischen Arbeitnehmers beziehen, dem bereits erlaubt worden ist, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten.

Zur ersten Frage

11 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß ein türkischer Arbeitnehmer die in dieser Bestimmung vorgesehene Voraussetzung, seit mindestens vier Jahren ordnungsgemäß beschäftigt zu sein, erfuellt, wenn er diese Beschäftigung im Rahmen eines Aufenthaltsrechts ausgeuebt hat, das ihm nur aufgrund einer nationalen Regelung eingeräumt war, nach der der Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Aufnahmeland erlaubt ist.

12 Insoweit ergibt sich aus dem bereits angeführten Urteil Sevince, daß die Ordnungsgemäßheit der Beschäftigung im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt voraussetzt (Randnr. 30 des Urteils) und daß ein türkischer Arbeitnehmer sich während eines Zeitraums, während dessen er infolge der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen eine Entscheidung, durch die ihm das Aufenthaltsrecht verweigert worden ist, vorläufig in dem betreffenden Mitgliedstaat bleiben und dort eine Beschäftigung ausüben darf, nicht in einer solchen Position befindet (Randnr. 31).

13 Dies muß auch in einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens gelten, in dem die Klage nicht kraft Gesetzes ohne weiteres aufschiebende Wirkung hat, sondern in dem die aufschiebende Wirkung rückwirkend durch ein Gericht angeordnet wird. Wie der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen in Nr. 30 ausgeführt hat, gilt die Aussetzung in beiden Fällen nur für die Dauer des Rechtsstreits und bewirkt, daß der Kläger sich bis zu einer endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht vorläufig in dem betreffenden Staat aufhalten und dort arbeiten darf.

14 Dem steht auch nicht entgegen, daß der Betroffene wie im Ausgangsverfahren ein erstinstanzliches Urteil erwirkt, durch das sein Aufenthaltsrecht bestätigt wird, das aber aufgrund seiner Anfechtung im Berufungsverfahren noch aufgehoben werden kann und daher die aufenthaltsrechtliche Stellung des Betroffenen nicht endgültig regelt.

15 Der Grund, aus dem der Gerichtshof es in der zitierten Randnummer 31 des Urteils Sevince abgelehnt hat, als Zeiten ordnungsgemässer Beschäftigung die Zeiten anzusehen, die der Betroffene zurückgelegt hat, während seine Klage gegen die Entscheidung, durch die ihm das Aufenthaltsrecht verweigert worden ist, aufschiebende Wirkung entfaltete, bestand nämlich darin, zu verhindern, daß ein türkischer Arbeitnehmer sich die Möglichkeit zur Erfuellung dieser Voraussetzung und somit zum Erwerb des Aufenthaltsrechts, das mit dem in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Recht auf freien Zugang zu jeder Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis untrennbar verbunden ist, während eines Zeitraums verschafft, in dem er über ein nur vorläufiges Aufenthaltsrecht bis zum Abschluß des Rechtsstreits verfügte.

16 Dieser Grund gilt so lange weiter, als nicht endgültig feststeht, daß dem Betroffenen während des fraglichen Zeitraums das Aufenthaltsrecht von Rechts wegen zustand; andernfalls würde einer Gerichtsentscheidung, durch die ihm dieses Recht endgültig verweigert wird, jede Bedeutung genommen und ihm damit ermöglicht, für sich die in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich vorgesehenen Rechte während eines Zeitraums zu begründen, in dem er die Voraußsetzungen dieser Vorschrift nicht erfuellte.

17 Das Vorbringen des Klägers, die Nichtberücksichtigung eines erstinstanzlichen Urteils, durch das das Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen bestätigt werde, führe dazu, daß eine ° auch rechtswidrige ° Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis geeignet sei, dem Betroffenen die Rechte zu nehmen, die er aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 herleiten könne, ist nicht stichhaltig, denn der Betroffene ist, wird dieses Recht endgültig anerkannt, rückwirkend so zu behandeln, als habe er während des fraglichen Zeitraums ein nicht nur vorläufiges Aufenthaltsrecht und daher eine gesicherte Stellung auf dem Arbeitsmarkt besessen.

18 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß ein türkischer Arbeitnehmer die in dieser Bestimmung vorgesehene Voraussetzung, seit mindestens vier Jahren ordnungsgemäß beschäftigt zu sein, nicht erfuellt, wenn er diese Beschäftigung im Rahmen eines Aufenthaltsrechts ausgeuebt hat, das ihm nur aufgrund einer nationalen Regelung eingeräumt war, nach der der Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Aufnahmeland erlaubt ist; dies gilt auch dann, wenn das Aufenthaltsrecht des Betroffenen durch ein Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts, gegen das ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, bestätigt worden ist.

Zur zweiten Frage

19 Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet eines Mitgliedstaats erhalten hat, um dort mit einer Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe zu schließen, und der dort seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat, aufgrund dieser Bestimmung einen Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hat, selbst wenn seine Ehe zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Verlängerungsantrag entschieden wird, nicht mehr besteht.

20 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lediglich die beschäftigungsrechtliche, nicht aber die aufenthaltsrechtliche Stellung türkischer Arbeitnehmer regelt (siehe Urteil Sevince, a. a. O., Randnr. 28).

21 Ausserdem gilt diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut nur für türkische Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören; insbesondere hat ein türkischer Arbeitnehmer nach Artikel 6 Absatz 1 schon dann Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber, wenn er seit mehr als einem Jahr eine ordnungsgemässe Beschäftigung ausgeuebt hat. Diese Bestimmung macht also die Zuerkennung dieses Anspruchs von keiner weiteren Voraussetzung und insbesondere nicht von den Voraussetzungen abhängig, unter denen das Recht auf Einreise und Aufenthalt erlangt worden ist.

22 Selbst wenn also die Ordnungsgemäßheit der Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmung eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts oder sogar, falls erforderlich, den Besitz einer ordnungsgemässen Aufenthaltserlaubnis voraussetzt, sind die Gründe, aus denen dieses Recht eingeräumt oder aus denen diese Erlaubnis erteilt wird, für die Anwendung dieser Bestimmung nicht ausschlaggebend.

23 Sobald ein türkischer Arbeitnehmer seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis eine Beschäftigung ausgeuebt hat, erfuellt er somit die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, selbst wenn ihm die Aufenthaltserlaubnis, über die er verfügt, ursprünglich zu anderen Zwecken als zur Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erteilt worden ist.

24 In der mündlichen Verhandlung hat die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend gemacht, diese Auffassung könne sich dahin auswirken, daß türkische Staatsangehörige je nachdem unterschiedlich behandelt würden, ob sie, wenn der ursprüngliche Grund ihres Aufenthalts nicht darin bestanden habe, eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, nach dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhielten, arbeiten dürften oder nicht.

25 Es ist jedoch festzustellen, daß eine solche Situation nur die Folge des Umstands wäre, daß der Beschluß Nr. 1/80 die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lässt, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen, und lediglich, insbesondere in Artikel 6, die Stellung türkischer Arbeitnehmer regelt, die bereits ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten eingegliedert sind. Sie kann es daher nicht rechtfertigen, türkischen Arbeitnehmern, die nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats bereits eine Arbeitserlaubnis und, falls ein solches erforderlich ist, ein Aufenthaltsrecht besitzen, die in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Rechte zu entziehen.

26 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet eines Mitgliedstaats erhalten hat, um dort mit einer Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe zu schließen, und der dort seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat, nach dieser Bestimmung einen Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hat, selbst wenn seine Ehe zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Verlängerungsantrag entschieden wird, nicht mehr besteht.

Zur dritten Frage

27 Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob ein türkischer Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster oder dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfuellt, sich unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen kann, um ausser der Verlängerung der Arbeitserlaubnis auch die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu erreichen.

28 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in dem bereits angeführten Urteil Sevince für Recht erkannt, daß Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unmittelbare Wirkung hat (Nr. 2 des Urteilstenors).

29 In diesem Urteil hat der Gerichtshof zu Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 festgestellt, daß diese Bestimmung zwar lediglich die beschäftigungsrechtliche und nicht die aufenthaltsrechtliche Stellung der türkischen Arbeitnehmer regelt, daß diese beiden Aspekte der persönlichen Situation türkischer Arbeitnehmer jedoch eng miteinander verknüpft sind und daß die fraglichen Bestimmungen, indem sie diesen Arbeitnehmern nach einem bestimmten Zeitraum ordnungsgemässer Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gewähren, zwangsläufig implizieren, daß den türkischen Arbeitnehmern zumindest zu diesem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht, weil anderenfalls das Recht, das sie diesen Arbeitnehmern zuerkennen, völlig wirkungslos wäre (Randnr. 29 des Urteils).

30 Diese Feststellung gilt auch für Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, denn ohne Aufenthaltsrecht wäre für den türkischen Arbeitnehmer die Einräumung eines Anspruchs auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber nach einem Jahr ordnungsgemässer Beschäftigung ebenso wirkungslos.

31 Dem steht nicht entgegen, daß die Einzelheiten der Durchführung des Artikels 6 Absatz 1 nach Artikel 6 Absatz 3 des Beschlusses Nr. 1/80 durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt werden. Wie der Gerichtshof im Urteil Sevince (a. a. O., Randnr. 22) bereits ausgeführt hat, wird durch Artikel 6 Absatz 3 des Beschlusses Nr. 1/80 die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung zum Erlaß derjenigen Verwaltungsmaßnahmen, die zur Durchführung dieser Bestimmung gegebenenfalls erforderlich sind, nämlich nur konkretisiert, ohne daß die Mitgliedstaaten dadurch ermächtigt würden, die Ausübung des genau bestimmten und nicht an Bedingungen geknüpften Rechts, das den türkischen Arbeitnehmern aufgrund dieser Bestimmung zusteht, an Bedingungen zu binden oder einzuschränken.

32 In ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen bestreitet die deutsche Regierung ausdrücklich, daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und dem Aufenthaltsrecht bestehe, und macht geltend, daß sich selbst hinsichtlich der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft Fallgestaltungen ergeben könnten, in denen diese beiden Aspekte nicht notwendig zusammenfielen. Beispiele hierfür seien zum einen Artikel 3 Absatz 2 und Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 56, S. 850), wonach das Aufenthaltsrecht wegen bestimmter Straftaten oder bestimmter Krankheiten entzogen oder verweigert werden könne, und zum anderen das Urteil vom 26. Februar 1991 in der Rechtssache C-292/89 (Antonissen, Slg. 1991, I-745), aus dem sich ergebe, daß das Aufenthaltsrecht eines Gemeinschaftsangehörigen, der ohne Erfolg Arbeit gesucht habe, zeitlich beschränkt werden könne, ohne daß er deshalb sein unbeschränktes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt verliere.

33 Keines dieser Beispiele ist jedoch einschlägig. Sie zeigen nämlich keineswegs, daß ein einzelner das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt ohne Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen kann, sondern unterstreichen vielmehr, daß das Aufenthaltsrecht für den Zugang zum Arbeitsmarkt und für die Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unerläßlich ist.

34 Zum einen sieht die Richtlinie 64/221, um zu verhindern, daß ein so grundlegendes Recht wie das der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer übermässig eingeschränkt wird, in Artikel 3 Absatz 2 vor, daß strafrechtliche Verurteilungen allein Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht ohne weiteres begründen können, und bestimmt in Artikel 4 Absatz 1, daß bestimmte Krankheiten, die überdies im Anhang abschließend aufgeführt sind, nur eine Verweigerung der Einreise oder der ersten Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen können. Im übrigen lässt auch der Beschluß Nr. 1/80 ° ebenso wie Artikel 48 Absatz 3 EWG-Vertrag und die Richtlinie 64/221/EWG ° in Artikel 14 Absatz 1 Beschränkungen der in ihm vorgesehenen Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu.

35 Zum anderen hat der Gerichtshof in dem angeführten Urteil Antonissen den Gemeinschaftsangehörigen auf der Grundlage der Vertragsbestimmungen über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht nur zur Bewerbung um tatsächlich angebotene Stellen, sondern auch zur Suche nach einer solchen Stelle eingeräumt.

36 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, daß sich ein türkischer Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster oder dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen kann, um ausser der Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu erreichen.

Kostenentscheidung:

Kosten

37 Die Auslagen der deutschen Regierung, der niederländischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 12. August 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, daß ein türkischer Arbeitnehmer die in dieser Bestimmung vorgesehene Voraussetzung, seit mindestens vier Jahren ordnungsgemäß beschäftigt zu sein, nicht erfuellt, wenn er diese Beschäftigung im Rahmen eines Aufenthaltsrechts ausgeuebt hat, das ihm nur aufgrund einer nationalen Regelung eingeräumt war, nach der der Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Aufnahmeland erlaubt ist; dies gilt auch dann, wenn das Aufenthaltsrecht des Betroffenen durch ein Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts, gegen das ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, bestätigt worden ist.

2) Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ist dahin auszulegen, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet eines Mitgliedstaats erhalten hat, um dort mit einer Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe zu schließen, und der dort seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat, nach dieser Bestimmung einen Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hat, selbst wenn seine Ehe zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Verlängerungsantrag entschieden wird, nicht mehr besteht.

3) Ein türkischer Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster oder dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfuellt, kann sich unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen, um ausser der Verlängerung seiner Arbeitserlaubsnis die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu erreichen.

Ende der Entscheidung

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